Robin Alexanders neues Buch ist eine Chronik über das Ende der Kanzlerschaft Merkels und über die deutsche Politik unter dem Vorzeichen der Corona-Pandemie. Alexander gehört zu den nicht mehr sehr zahlreichen Journalisten, die noch wirkliche Recherche betreiben und nicht einfach nur Moral und Meinungen im Angebot haben; Letzteres ist in der Produktion natürlich sehr viel billiger. Die Stärke des Buches liegt denn auch in den zahlreichen Details, die er – offenbar über Kontaktleute in der Politik bestens informiert – aufzubieten vermag.
Nicht alles davon ist überraschend, vieles bestätigt eher den Eindruck, den man als leidlich gut informierter Beobachter ohnehin schon hatte: Dass die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten lange, sehr lange brauchten, um in der Auseinandersetzung mit der Epidemie einen halbwegs klaren Kurs zu finden, wenn das denn überhaupt je gelang. Man schwankte mehr als einmal zwischen Verharmlosung und Überreaktion, und war auch nach der ersten Corona-Welle nicht dazu in der Lage, Vorsorge für eine nur allzu wahrscheinliche zweite Welle zu treffen. Überdies setzt man einerseits einen absurd strikten Datenschutz durch, zögerte andererseits aber nicht, elementare Grundrechte anderer Art recht radikal einzuschränken.
Fairerweise muss man freilich sagen, dass die Regierungen der wenigsten europäischen Länder in der Corona-Epidemie eine besonders überzeugende Krisenbewältigung vorweisen können. Allerdings waren die Deutschen immer geneigt gewesen zu glauben, ihre Behörden und Ministerien seien noch immer besonders effizient und leistungsfähig. Diese Zuversicht wurde in den letzten anderthalb Jahren nachhaltig beschädigt, wenn nicht gar zerstört.
Alexander stellt auch das bekannte Versagen der EU bei der Impfstoffbeschaffung dar, das durchaus auf die Fehleinschätzungen der Bundeskanzlerin zurückging, zumal diese die Möglichkeit, unabhängig von der EU zusätzliche Lieferungen von Biontech zu bestellen, nicht oder nicht ausreichend wahrnahm. Ganz neu sind diese Informationen freilich nicht. Es sind andere Themen, die sich dem Leser nach der Lektüre von „Machtverfall“ noch einmal anders darstellen.
Zunehmend, so Alexander, sah Merkel aber auch in Kramp-Karrenbauer, ihrer Nachfolgerin als Parteivorsitzende, selbst eine Gefahr für ihre Autorität, während diese viel zu spät begriff, dass sie Merkel zur Seite drängen musste, wenn sie sich als Vorsitzende Respekt verschaffen wollte. Zu Fall kam Karrenbauer, das macht Alexander deutlich, nicht nur, weil Armin Laschet frühzeitig bemüht war, ihre Stellung zu unterminieren, sondern auch weil Merkel sie zunehmend als Rivalin sah, die es galt kaltzustellen.
Entscheidend wurde dann die Krise in Thüringen, die die Wahl des FDP-Politikers Kemmerich zum Regierungschef mit den Stimmen der AfD ausgelöst hatte. Die SPD in Berlin verlangte von der CDU nicht nur für den sofortigen Rücktritt Kemmerichs, sondern auch für die Wiederwahl von Ramelow (Die Linke) zum Ministerpräsidenten zu sorgen. Karrenbauer war es nicht gelungen, diese Forderungen in Erfurt durchzusetzen, hatte dies, was die Wahl Ramelows betraf, wohl auch nicht wirklich gewollt. Merkel schob sie daher zur Seite und traf ihrerseits die notwendigen Anordnungen, denen die gedemütigte Thüringer CDU nach einigem Zögern auch Folge leistete.
Damit war Karrenbauer als Parteivorsitzende erledigt. Im Abgang unternahm sie dann doch noch einmal eine Gegenoffensive gegen die ewige Kanzlerin. Sie versuchte Anfang 2020 diese durch ein Votum des Parteivorstandes zu zwingen, Altmaier durch Merz als Wirtschaftsminister zu ersetzen. Damit sollte der absehbare Kampf zwischen Merz und Laschet um den Parteivorsitz entschärft werden – Merz wäre dann gar nicht erst gegen Laschet angetreten. Die Schwächung Merkels durch die Präsenz ihres alten Gegners am Kabinettstisch wäre wohl eine erwünschte Nebenwirkung gewesen. Aber diese Offensive misslang, letzten Endes auch, weil Merz am Ende einen Rückzieher machte und nicht wirklich zu offener Konfrontation mit Merkel bereit war.
Sicher konnte eine solche Kooperation im Bundesrat auch nützlich sein, um Gesetzesvorlagen durchzubringen, aber Merkel nutzte den Hinweis auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat eben auch bewusst, um ihre eigene Partei noch stärker als bereits ohnehin zu neutralisieren. Niemals zuvor war eine politische Persönlichkeit der CDU bei den Grünen so außerordentlich beliebt wie die Kanzlerin.
Im Juni 2020 gratulierten Baerbock und Habeck der CDU sogar überschwänglich zum 75. Geburtstag der Partei – unter politischen Konkurrenten eine ungewöhnliche Geste, die freilich am ehesten mit der zuversichtlichen Hoffnung der Grünen zu erklären ist, die Kanzlerpartei CDU in naher Zukunft beerben zu können. Allzu stark müsste sich die Merkel-CDU ja wirklich nicht mehr verändern, um mit den Grünen fusionieren zu können. Alexanders abschließendes Urteil über Merkel ist, sie sei der „kleinste gemeinsame Nenner einer entpolitisierten risikoscheuen Gesellschaft“.
Ob Laschet ihr auf diesem Weg folgen kann und ob angesichts der drängenden Probleme des Landes die Gesellschaft sich überhaupt weiter so stark depolitisieren lässt, wie es Merkel mit Ausnahme der politischen Ränder, die ihr Wachstum freilich gerade dieser Depolitisierung verdanken, gelungen ist, muss dabei freilich dahingestellt bleiben.
Die Grünen kommen bei Alexander überraschend gut weg. Habeck, den er im Vergleich zu Baerbock für den geschickteren Politiker hält, bescheinigt er sogar, die „tief verankerten antideutschen Reflexe“ im grünen Milieu überwinden zu wollen (S. 259). Angesichts einer solche Feststellung wäre die Frage angebracht, wie glaubwürdig solche Versuche gerade bei einem Mann wie Habeck sind, der ja früher schon einmal klar gemacht hat, dass er von Patriotismus weniger als nichts hält.
Die Stärke des Buches von Alexander liegt allerdings ohnehin weniger in einer umfassenden Analyse der gegenwärtigen Parteienlandschaft und der Veränderungen von Entscheidungsstrukturen und politischer Kultur in den vergangenen Jahren, sondern in der präzisen Beobachtung der Tagespolitik und der kleinen und großen Schachzüge, mit denen Politiker ihre Macht behaupten und Rivalen ausmanövrieren. Merkel war stets eine Meisterin solcher Winkelzüge, und machte in der Regel eine sehr kleinteilig angelegt Politik.
Diese Methode erwies sich im Fall von Corona jedoch per Saldo nicht mehr als wirklich erfolgreich, und das nicht nur deshalb, weil Merkel nicht mehr lange genug im Amt bleiben wird, um das Ende der Epidemie als Kanzlerin zu erleben, sondern auch aus anderen Gründen. Die Kritiker, die auf das vielfache Versagen des Staates im Kampf gegen die Seuche aufmerksam machen, lassen sich eben anders als im Fall der Flüchtlingskrise nicht mehr einfach mit der Moralkeule erschlagen. Gesundheitspolitische und administrative Probleme lassen sich weniger leicht als humanitäre Fragen moralisieren. Damit hat die Coronakrise dann eben doch zu einem deutlichen Verlust des Vertrauens in Staat und Parteien beigetragen, und eben diesen Prozess analysiert Alexander überzeugend.
Zu erwarten freilich ist, dass in psychologischen Tiefenschichten bei den deutschen Wählern, so leichtgläubig und lenkbar sie auf den ersten Blick auch sind, die früheren Krisen ihre Wirkung hinterlassen haben. Zu den Folgen dieser Krisen gehört die zunehmende Vergemeinschaftung der Schulden in Europa genauso wie die Zerstörung des deutschen Modells der privaten Altersvorsorge (Sparbuch, Lebensversicherungen, Riesterrenten etc.) durch die Zinspolitik der EZB und eben auch die Unfähigkeit des Staates, Zuwanderung irgendwie zu steuern. Auf die Dauer haben solche Erschütterungen des Grundvertrauens der Bevölkerung eben doch eine kumulative Wirkung, auch wenn die Folgen dann erst mittelfristig sichtbar werden. Diese Folgen blendet Alexander aus. Er beschränkt sich auf die täglichen Winkelzüge.
Darum freilich wird sich Merkel nicht mehr sorgen müssen. Mit beispielloser Rücksichtslosigkeit wird es ihr, so wie es sich jetzt abzeichnet, gelingen, ihre vierte Amtszeit zu einem regulären Ende zu bringen. Diesem Ziel hat sie freilich viel geopfert, nicht nur die Karriere ihr früher durchaus wohlgesonnener Politikerinnen wie Karrenbauer, sondern faktisch die Substanz ihrer eigenen Partei, und natürlich auch zahlreiche bislang selbstverständliche Prinzipien bürgerlicher Politik. Dafür wird die CDU, selbst wenn es ihr noch einmal gelingen sollte, das Kanzleramt zu erobern, einen hohen Preis zu zahlen haben und unser Land womöglich am Ende einen noch höheren, das lässt auch das Buch von Alexander, so sehr es sich in wertenden Urteilen auch oft zurückhält, erahnen.
Robin Alexander, Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report, Siedler, 384 Seiten, 22,- €.