Tichys Einblick
Kindersoldaten im Zweiten Weltkrieg

„Verheizt für den Führer, gezeichnet fürs Leben: die verlorene Generation“

Gewohnt mutig, mit präziser historischer Einordnung und dem Blick auf gegenwärtige Spannungen, widmet sich Historiker Christian Hardinghaus im dritten Teil seiner „Generationenreihe” den jüngsten Kämpfern des Zweiten Weltkriegs – den heute ältesten Mitgliedern unserer Gesellschaft.

Bereits mit zwei sehr lesenswerten Büchern hat der Historiker Christian Hardinghaus (*1978) wertvolle Beiträge zur deutschen Zeitgeschichte, insbesondere zum Zweiten Weltkrieg geleistet. So wünscht man sich Erinnerungskultur: ohne Verschweigen, mit authentischen Zeugen, mutig und ohne Rücksicht auf politisch korrekte Geschichtsklitterung. Im Zentrum der medialen Geschichtsvermittlung und der Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg stehen überwiegend deutsche Schuld, deutsche Verbrechen und durch Pauschalurteile oft die Verunglimpfung von 18 Millionen Wehrmachtssoldaten, die Hitler allesamt angeblich verbrecherisch und überzeugt gedient hätten.

Schon im April 2020 hatte Hardinghaus Aufsehen erregt mit 13 Interviews, in denen Wehrmachtssoldaten den grausamen Alltag des Krieges, eigene Verwundungen, Gefangenschaft, ihr (Nicht-)Wissen um den Holocaust und ihr knappes Überleben schilderten. Unter dem Titel „Die verdammte Generation – Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkrieges“ bot Hardinghaus endlich so manch überfällig Korrektur und Aufklärung.

Kurz danach, im Oktober 2020, widmete sich Hardinghaus jungen Frauen und ihren Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg. Der Titel lautete hier: „Die verratene Generation. Der Zweite Weltkrieg aus Sicht der letzten Zeitzeuginnen“. Ebenso authentisch wie im ersten Buch schildern hier 13 damals junge Frauen über ihre Erlebnisse während des Kriegshilfsdienstes, ihr Grauen während Flucht und Vertreibung sowie über ihre Sorgen während der Bombennächte und den Trümmerarbeiten in den bis auf die Grundmauern zerstörten Städten.

Interview
Zeitzeuginnen einer verratenen Generation
Hardinghaus ist nun zum dritten Mal Zeitgeschichte par excellence gelungen. Der Titel seines neuen Werkes lautet: „Die Verlorene Generation. Gespräche mit den letzten Kindersoldaten des Zweiten Weltkrieges“. Wieder hat Hardinghaus 13 mittlerweile hochbetagte Zeitzeugen gefunden, die ihm mehrstündig Rede und Antwort standen. Sie wurden zwischen 1926 und 1931 geboren, waren zu Beginn des Krieges 8 bis 13 und am Ende des Krieges 14 bis 19 Jahre alt. Zum Zeitpunkt ihrer Gespräche mit Hardinghaus Anfang 2021 zählten sie also zwischen 90 und 95 „Lenze“.

Der Autor Hardinghaus hat erneut den Anspruch an sein Werk gelegt, das tatsächliche Erleben der Zeugen dieser Zeit und Generation so wahrhaftig wie möglich zu schildern. Während die Kindersoldaten des Zweiten Weltkrieges oftmals medial als blutrünstige Hitler-Fanatiker dargestellt werden, schaut der Osnabrücker Historiker tiefgründiger. Was hat die jungen Männer, die als Luftwaffenhelfer, im Volkssturm oder in Panzervernichtungstrupps kämpften, wirklich angetrieben? Bei fast allen stand die Sorge um die Heimat und die Angst vor der anrückenden Sowjetarmee im Vordergrund. Die Person Hitler oder sein Antisemitismus spielten meist entweder keine Rolle oder wurden abgelehnt. In der Einleitung stellt Hardinghaus erneut dar, wie tief die Erinnerungskultur in Deutschland gesunken ist. Etwa thematisiert er den im letzten Jahr von zwei Künstlern geäußerten und von einigen Mainstream-Journalisten befürworteten Vorschlag, alle Deutschen pauschal als „Menschen mit Nazihintergrund“ zu bezeichnen.

Hardinghaus hat Recht, denn die Besserwisser des ausgehenden 20. und des begonnenen 21.Jahrhunderts haben den Deutschen ein Schuldgefühl implantiert, das ausschließlich die NS-Gräueltaten fokussiert. Hardinghaus aber erzählt das, was andere ausklammern oder umgehen. Etwa diesen Fakt: Zwischen 1944 und 1947 wurden 14 Millionen Deutsche mit Gewalt vertrieben, zwei Millionen Frauen und Mädchen wurden von alliierten, vor allem sowjetischen Soldaten – oft mit Todes- bzw. Suizidfolge – vergewaltigt. Hundertausende von Deutschen sind als Zivilisten oder Soldaten Opfer alliierter Kriegsverbrechen geworden, auch in den Gefangenenlagern der West-Alliierten. Siehe Rheinwiesenlager!

Die Banalität des Bösen
Liebte Hitler Rohrnudeln oder Eiernockerln?
Deutschen „Kindersoldaten“ hat Hardinghaus sein Buch gewidmet. Es ist daraus die jeweils sehr glaubhafte Schilderung der Kriegserfahrungen von 13 blutjungen Menschen geworden, die zwischen 14 und 19 Jahren auf den letzten Metern in den Krieg geschickt wurden. Teils mit jugendlichem Überschwang, aus Pflichtgefühl gegenüber dem Vaterland, mit einer Portion Naivität und auch aufgepeitscht durch Kriegspropaganda verteidigten sie deutsche Städte mit Gewehr, Handgranate oder Panzerfaust und fügten den Gegnern noch erhebliche Verluste zu. Am Ende konnten sie nichts mehr ausrichten, weil der Krieg entschieden war. Allein in den letzten Kriegswochen starben über 60.000 dieser Kindersoldaten, die sich nicht selten wagemutig vor sowjetische oder amerikanische Panzer warfen. Sie alle haben gemein, dass sie angeben, für die Familie und für Deutschland gekämpft zu haben.

Die Hitlerjugend hatte sie nicht darauf getrimmt, sich an Holocaust oder Judenverfolgung zu beteiligen, es ging der Nazi-Führung nur noch darum, Lückenfüller und Kanonenfutter einzusetzen, um sich selbst rechtzeitig aus dem Staub machen zu können. Mitleid oder wenigstens Mitgefühl fanden sie trotz ihrer Traumata unter den nachfolgenden Generationen kaum bis gar nicht. Die Geschichtsschreibung umging stattdessen das Thema weitestgehend, sodass „die verlorene Generation“ heute mit den üblichen Vorurteilen über Mittäterschaften belastet sind. Viele mussten sich selbst in der eigenen Familie die schier zynische Frage gefallen lassen, warum sie bei „Hitler“ mitgemacht hätten.

Alle 13 Kinder und jungen Männer waren bei Kriegsende länger oder kürzer in Gefangenschaft. Alle haben Kameraden verloren, manche darunter sind – von Granaten zerfetzt – in ihren Armen gestorben. 6 von den 13 wurden selbst verwundet oder gar schwerst verletzt. Hardinghaus hatte mit allen über längere Zeit Gespräche und Interviews geführt, dabei nichts beschönigt und nichts weggelassen, stattdessen sorgfältig geprüft und abgeglichen, etwa anhand von erhaltenen Wehrpässen, Soldbüchern oder Entlassungsunterlagen seiner Zeitzeugen.

"Die verdammte Generation"
Historiker nähert sich den letzten Soldaten des Zweiten Weltkriegs
Jede der rund 25 Seiten langen Episoden darüber rauben dem Leser den Schlaf. Die beiden ältesten Interviewten (beide Jahrgang 1926) waren noch regulär im Wehrmachtseinsatz. Hans Helmut hat als Kanonier des legendären „Hetzers“ brutale Panzerkämpfe zwischen Oder und Weichsel ausgefochten, während der gerade ausgebildete Pilot Hans Dieter mit seinen Kameraden in Wien versuchte, mit Panzerfäusten eingedrungene sowjetische Panzer wieder aus der Stadt zu drängen. Von Hans Dieters150 Mann starker Kompanie waren nach nicht mal zwei Wochen Kampf nur noch 17 junge Männer übrig. Die Jüngsten werden Kampfverbänden zugeteilt. So macht Klaus (geboren 1931) mit 13 Jahren in Böhmen Jagd auf tschechische Partisanen, bevor er nach Österreich gelangt. Dort zwingen ihn die Amerikaner sein eigenes Grab zu schaufeln. Es folgt eine Scheinhinrichtung mit verheerenden Folgen. Arnold (Jahrgang 1930) leistet einem Leutnant der Wehrmacht Hilfsdienste auf dem Schlachtfeld, bevor ihm ein Granatsplitter den Bauch aufreißt, er zurückgelassen werden muss und schwerverletzt in sowjetische Gefangenschaft gerät.

Einige der Zeitzeugen haben auch brutale Verbrechen an der Zivilbevölkerung erlebt. So beobachtet der sechzehnjährige Heinz, wie tschechische Milizen nach Kriegsende ein Massaker an der deutschen Bevölkerung begehen, einem Mann etwa bei lebendigem Leib die Genitalien abschneiden und sie den Hunden zum Fraß vorwerfen. Hubertus, der nach dem Krieg das Haus seiner Familie bei Breslau schützen will, wird von polnischen Polizisten eine Falle gestellt. Man schiebt ihm ein Attentat unter und verurteilt ihn zum Tode. In seiner engen Todeszelle ist er tagtäglich Folter und Vergewaltigung ausgesetzt. Erst nach zehn Jahren wird er begnadigt. Später kämpft Hubertus jahrzehntelang vergeblich vor deutschen und polnischen Gerichten um seine Unschuld. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hilft ihm nicht.

Was liegt angesichts der 13 Berichte nahe? Ein, wenngleich grober, Vergleich mit einer heutigen Jugend, die sich schon für eine Heldenjugend hält, wenn sie die Schule schwänzt! In diese Richtung geht denn auch die Botschaft des Autors Hardinghaus, wenn er zum Schluss an seine 13 Gesprächspartner, die allesamt ihr Leben in Familie und Beruf gemeistert haben, schreibt: „Euer Mut ist außergewöhnlich und vermutlich wichtiger für die, die noch länger auf dieser Erde bleiben werden, als Ihr glaubt!“

Christian Hardinghaus, Die verlorene Generation. Gespräche mit den letzten Kindersoldaten des Zweiten Weltkrieges. Europa Verlag, 344 Seiten, 20,00 €


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