Wo sind die Achillesfersen eines funktionierenden Staates? Sind das die Institutionen, die den Staat zusammenhalten, die gesellschaftlichen, die staatlichen und auch kirchlichen Einrichtungen oder ist es die Gewaltenteilung insgesamt, welche alle staatliche Gewalt in eine Art gegenseitige Qualitätskontrolle zwingt? Der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel hat vor wenigen Tagen ein Buch veröffentlicht, dass von einer dieser Achillesfersen erzählt. Darüber, warum es so brandgefährlich ist, wenn die deutsche Justiz ihre Arbeit nicht mehr erledigen kann und selbst Schwerverbrecher ohne Verurteilung davonkommen, oder es gar nicht erst zu einem Verfahren kommt.
Vorbemerkung: Ich habe in den vergangenen Jahren für TE mehrfach mit Ralph Knispel Interviews geführt, so darf ich erfreut feststellen, dass die eine oder andere Problemstellung in Knispels so wichtigem Enthüllungsbuch bereits mit ihm bei TE online als auch im Magazin besprochen wurde. Zum Interview vorgeladen beim Oberstaatsanwalt im Moabiter Kriminalgericht 2018 bekam ich zudem Gelegenheit, direkt vor Ort zu besichtigen, worüber Ralph Knispel jetzt in seinem Bestseller berichtet: über die marode Arbeitssituation aber auch über die absurd erscheinende Gegensätzlichkeit aus den hier von hunderten von Richtern und Staatsanwälten verhandelten und verwalteten Verbrechen und Vergehen versus dieser in der wilhelminischen Epoche errichteten neubarocken Großgerichtsbarkeit, einer Architektur, die bereits bei Fertigstellung ein eigenes Kraftwerk, Aufzüge, Zentralheizung und eine Telefonanlage besaß, also zum Modernsten gezählt werden durfte, was Gerichte der zivilisierten Welt vor über einhundert Jahren zu bieten hatten. Heute beherbergt der ergraute Sandsteinkoloss laut Knispel ein marodes Justizsystem. Ein System, das bei seinem Zusammenbruch unweigerlich die auf dem Sicherheits- und Rechtsgefühl seiner Bürger beruhende freiheitliche Demokratie mit in den Abgrund zerren würde.
Auch davon handelt „Rechtsstaat am Ende“: Von einem Personalabbau in der Justiz insbesondere auf jener Ebene, wo Anklägern und Richtern ganz notwendigerweise der Rücken freigehalten werden müsste, um ihre so immens wichtige Arbeit zu machen, nämlich anzuklagen und Recht zu sprechen im Namen des Volkes – nein, nicht im Namen der Bevölkerung, denn die Ränder dieser größer gedachten Einheit sitzen hier öfter als einem lieb sein kann auf der Anklagebank. Aber das wäre ein noch viel weiter gefasstes Thema.
Vorab zu klären: Warum darf ein amtierender Oberstaatsanwalt überhaupt so offenen Wortes ins eigene Nest schießen? Weil Ralph Knispel als Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte e. V. (VBS) auch diese Außenaufgabe übernommen hat: er fungiert als eine Art gewählter Betriebsrat der Staatsanwälte und sieht sich in dieser Funktion in der Verantwortung, Politik darauf aufmerksam zu machen, wo in seinem Haus etwas in Schieflage gerät und von den Regierenden nicht oder zu schleppend geradegerückt wird. Knispel versteht sich augenscheinlich auch mit seiner Buchveröffentlichung als Teil der Qualitätssicherung, bei der es darum geht, die nötige Öffentlichkeit zu schaffen und dringend notwendige Prozesse der Erneuerung der Justiz endlich in Gang zu bringen – zum Wohle aller.
Würde man gleich zusammenfassen wollen, um was es Knispel geht, klänge das fast banal: Im Wesentlichen fordert der schreibende Oberstaatsanwalt mehr finanzielle Mittel für mehr Personal für die Justiz. Das mag für sich genommen keine besonders originelle Forderung sein, da hätten wohl alle staatlichen Institutionen und Ämter in Deutschland ebenfalls gute Gründe, es Knispel nachzutun. Aber der im persönlichen Gespräch so umgänglich, so nett und empathisch erscheinende Oberstaatsanwalt nimmt sich fast 240 Seiten lang Zeit dafür, seine Forderungen akribisch und an einer Reihe von Fallbeispielen konkret zu begründen. Der gegenwärtige Zustand der deutschen Justiz sitzt hier auf der Anklagebank. Knispel zeichnet in seinem Insider-Justizschocker „Rechtsstaat am Ende“ ein veritables Katastrophenszenario. Insbesondere ganz zum Schluss zeigt er aber auch Wege auf, wie diese gefährlich angerissene Achillesferse des Staatswesens noch über das von Knispel geforderte Euro-Füllhorn für die Justiz hinaus genesen könnte:
Dem 1960 geborenen Autor stand für sein Buch Autorin Heike Gronemeier zur Seite, die sicher die eine oder andere professionelle Arbeitsweise beisteuern konnte. Aber erfreulicherweise für „Rechtsstaat am Ende“ bleibt die so eigene Sprache Knispels erhalten, die schon in den TE-Interviews tragende Säule des Leseflusses und der Leselust war. Hier wurde der Autor erfreulicherweise nicht vom professionellen organisierten Apparat eines Großverlages verbogen.
Prolog und Schlussbetrachtung rahmen zwölf Kapitel Justizgegenwart, die es in sich haben. Geradezu rührend demgegenüber in der vorangestellten Widmung die Herzlichkeit eines Autors, der sonst schlimmen Kapitalverbrechen gegenübersteht: „Mein Vater hat mich von Kindesbeinen an sowohl Gerechtigkeit als auch Aufrichtigkeit gelehrt. Beide Eigenschaften haben sein und mein Leben nachhaltig geprägt.“ Was er da sagt ist authentisch, das spürt schnell jeder, der mit ihm näher ins Gespräch kommt.
Aber „Rechtsstaat am Ende“ ist ja keine rührselige Geschichte. Hier geht es um eine knallharte Zustandsbeschreibung der deutschen Justiz, die als Warnung unmissverständlich ist. Jedes einzelne Kapitel behandelt ein spezifisches Problem. Es beginnt mit dem „Imageproblem“ über das „Wahrnehmungsproblem“, „Personalproblem“, „Ausstattungsproblem“, „Raumproblem“, „Zeitproblem“ (dem er gleich zwei Kapitel widmet), „Ermessensproblem“, „Flaschenhalsproblem“, „Vollzugsproblem“ bis zum „Abwägungsproblem“ gefolgt von den Themen Clankriminalität und der Notwendigkeit einer Reform des Strafgesetzbuches.
Der Gewinn für den Leser ist schnell zusammengefasst: „Rechtsstaat am Ende“ ist ein Insiderbericht, wie man ihn so aus den Tiefen der Gewölbe der ehrwürdigen Justiz nicht kennt.
Und so gesehen, führt das auch zu einer umfänglichen Desillusionierung dessen, was der eine oder andere sich noch von der deutschen Rechtsprechung erhofft haben mag.
Es steht jeden Tag in den Zeitungen, dass wieder ein Schwerkrimineller mit geringem Strafmaß, Bewährung oder gar Freispruch davongekommen ist. Ralph Knispel versucht, diese Schieflage nicht zu entschuldigen, er erzählt das Drama in der trockenen lakonischen Sprache des Oberstaatsanwaltes, dem aus der persönlichen Anschauung noch das größte Übel nicht fremd scheint.
Über die schwer fassbare Anzahl von 185.000 nicht vollstreckter Haftbefehle allein 2019 beispielsweise schreibt Ralph Knispel: „Die Ursachen für dieses Debakel liegen natürlich nicht in der gestiegenen Cleverness der gesuchten Personen, sondern schlicht an der dünnen Personaldecke der Polizei.“ Er bemängelt zudem explizit die Bindung so vieler Polizeibeamter an hunderte von größtenteils islamistischen Gefährdern, die Tag und Nacht überwacht werden müssen.
240 Seiten die besonders betroffen machen in Zeiten, in denen das Geld ansonsten für Zuwanderungsfinanzierung, Integrationsmaßnahmen, Umweltschutz und nicht zuletzt Corona-Überbrückungshilfen nur so sprudelt, die Lösung einfach mehr Geld heißt und eine vernünftige langfristige Planung und Vorausschau, auch was die Ausbildung und Anstellung von Justizpersonal angeht, eigentlich machbar sein und erste Priorität haben sollte.
Umso bedeutender, weil die Zahl der Studierenden in Deutschland zwar stetig zunimmt, aber ausgerechnet da, wo junge frische Staatsanwälte und Richter benötigt werden, zurückgeht in einer Zeit, in der es nur noch wenige Jahre dauern wird, bis eine ganze Generation Justizmitarbeiter in Rente geht. Ja, Überraschung: Auch das geschieht nicht kontinuierlich, sondern laut Ralph Knispel werden bis 2030 „deutschlandweit rund 41 Prozent der Richter und Staatsanwälte aus Altersgründen aus dem Dienst scheiden. Wir reden hier von insgesamt 11.700 Personen!“
Ein Fazit aus „Rechtsstaat am Ende“ hat sich Oberstaatsanwalt Knispel auf Seite 134 schon selbst als Zwischennotiz aufgeschrieben:
„All das wirkt sich nicht nur auf das Gerechtigkeitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger aus, es schwächt auch auf fundamentale Weise den Nimbus des Staates als Hüter von Recht und Gesetz.“
Ergänzend ein Fazit des Rezensenten: Bitte lesen Sie Ralph Knispels „Rechtsstaat am Ende“ auch deshalb, um das Ende doch noch abzuwenden. Informieren Sie sich über die Hintergründe eines Staatsversagens aus erster Hand. Und dann sprechen Sie ein paar klare Worte mit ihrem Volksvertreter, erklären sie ihm oder ihr, dass jeder zur Verfügung gestellte Euro für ein funktionierendes Rechtssystem mehr Sicherheit für den einzelnen Bürger, also mehr Sicherheit für Sie bedeutet.
Wenn sie es selbst nicht besser weiß, muss die Politik eben von den Bürgern erfahren, dass ohne eine funktionierende Justiz auch die Demokratie leidet bzw. jeder Bürger, der beklaut, geschlagen, misshandelt oder sonst wie Gewalt erfahren muss – und zwar nur deshalb, weil Politik für alles Geld zur Verfügung stellt, nur viel zu wenig für das Wichtigste. Nein, hier geht es nicht um mehr „Law & Order“, sondern schlicht darum, den Sicherheitsapparat überhaupt noch am Laufen zu halten. Für Ralph Knispel ist es fünf nach zwölf. Für seinen Bestseller „Rechtsstaat am Ende“ allerhöchste Eisenbahn.
Ralph Knispel, Rechtsstaat am Ende. Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm. Ullstein Verlag, 240 Seiten, 22,99 €.