Tichys Einblick
Habemus Papam

Ratzinger: Der Kardinal, der nicht Papst werden wollte

Er hatte soeben sein 78. Lebensjahr vollendet. Wollte in den Ruhestand, Bücher schreiben. Als Joseph Kardinal Ratzinger betrat er am 18. April die Sixtinische Kapelle. Am 19. April 2005 verließ er das Konklave als Benedikt XVI. Peter Seewalds Recherchen und Gespräche gewähren Einblick in spannende Wahlgeheimnisse.

Heute bleiben vor allem die Kontroversen um Benedikt XVI. in Erinnerung. Das betrifft die Feindseligkeit in den Medien, Gerüchte um die Gründe für seinen Rücktritt oder Vorwürfe in der Missbrauchskrise. Ein Missbrauchsopfer hatte den Papa emeritus vor dem Landgericht Traunstein sogar persönlich angeklagt. Nun, nach seinem Tod, soll dessen Privatsekretär Georg Gänswein an seiner Stelle angeklagt werden; er sei in die „Vertuschungs- und Einschüchterungskampagne“ eingebunden gewesen. Streit um Benedikt – auch über ein Jahr nach seinem Tod. Dabei war der „deutsche Papst“ zum Zeitpunkt seiner Wahl beliebt und geschätzt, national wie international. Seine Wahl zum Nachfolger Petri unterstreicht die Hochachtung, die er genoss (Anmerkung der TE-Redaktion).

Hier folgt nun ein Auszug aus der Biographie von Peter Seewald zum Konklave, wie es sich vor 19 Jahren ereignete:

Kardinäle sind in der Regel ehrbare Männer. Sie haben sich den höchsten Idealen verpflichtet. Aber trotz Verschwiegenheitsgebot, heiligen Eiden und Sicherheitskontrollen– es ist nahezu unmöglich, alle Details aus einem Konklave geheim zu halten. Die einen sind von Haus aus Plaudertaschen, andere wollen sich wichtigmachen. Die nächsten können vor Verärgerung den Mund nicht halten, wieder anderen quillt das Herz vor Freude über, dass sie nachgerade sprechen müssen.

Natürlich sind die Vaticanista unter den Journalisten penetrant genug, ihnen bekannte Kardinäle auszuquetschen und das geheime Geschehen so zu rekonstruieren, dass es sich lesen lässt. Und mit ziemlicher Sicherheit taucht irgendwie die eine oder andere Mitschrift aus dem Konklave auf, wie auch in unserem Fall. Von wem und warum sie lanciert wurde, ist nicht zu verifizieren. Auch nicht ihre Zuverlässigkeit. Die Angaben aber klangen so plausibel (und deckten sich mit anderen Aussagen), dass der italienische Fernsehsender RAI bereits 2005 kein Problem darin sah, aus dem »Verbotenen Tagebuch« des anonymen Wahlbeteiligten zu zitieren. Die Fachzeitschrift Limes veröffentlichte den gesamten Text, der auf seine Weise einen Einblick in die Dynamik des Konklaves gibt, insbesondere in die strategische Vorgehensweise der (…) »Gruppe St. Gallen« und ihrem Ziel, einen Papst Ratzinger zu verhindern.

Joseph Ratzinger und die Medien
Benedikt und die Medien: Der „Panzerkardinal“ wird Papst!
Als die 115 wahlberechtigten Kardinäle nach der Rede Ratzingers von der Peterskirche in einer würdigen, wie in Zeitlupe erscheinenden Prozession zur Sixtinischen Kapelle zogen, war ihre Anspannung ins fast Unerträgliche gestiegen. Zu den Klängen von Johann Sebastian Bachs »Jesu meine Freude« erreichte der anachronistische Zug sein Ziel. Unterdessen hatten die Mitarbeiter der Edilizia dello Stato Vaticano, der vatikanstaatlichen Baubetreuung, die Sixtina entlang der Seitenwände mit zwei Reihen an Sitzbänken und Tischen ausgestattet. An jeden Platz wurde eine Bibel gelegt. Von Karol Wojtyla wird erzählt, er habe seinerzeit eine marxistische Zeitschrift mit ins Konklave genommen, um während der langen Stunden in aller Ruhe darin zu lesen. Vorne beim Altar stand die silberne Urne, in welche die Wahlzettel in feierlicher Prozedur eingeworfen werden. Hinten beim Eingang, jenseits des marmornen Gitters, das den Gottesraum trennt, befand sich der etwas schäbig aussehende Ofen aus graugrünem Eisenguss, der die gebrauchten Wahlzettel in Rauch auflösen soll. Dass die Kardinäle bei ihrem Urnengang unter Michelangelos Jüngstem Gericht sitzen, soll sie an ihre hohe Verantwortung gemahnen; Satanus und andere Schrecknisse der Höllenfahrt mit eingeschlossen.

Beim Einzug der in Doppelreihe schreitenden Würdenträger stimmte Pater Guiseppe Liberto, ein kleiner, etwas rundlich wirkender Pater, seine Capella Musicale Pontificia (im Vatikan-Jargon nur Sixtinische Kapelle genannt) auf den Choral Veni Creator Spiritus ein. 35 Knabenund 20 Männerstimmen intonierten »Komm Schöpfer Geist, kehr bei uns ein«. Danach sahen die Schaulustigen auf dem Petersplatz in der Liveübertragung von Television Vatican, wie die Papstwähler einer nach dem anderen an den Altar traten, um mit der Hand auf der Bibel ihren Schwur zu leisten: »O Herr, lass uns einen würdigen Kandidaten auswählen, und mögest Du unsere Beratungen so leiten, dass das Konklave weder lang noch entzweiend, sondern ein Sinnbild der Einheit unserer Kirche sein möge. Amen.«

Der über 80-jährige nicht stimmberechtigte Kardinal Tomáš Špidlík hielt seinen Amtsbrüdern noch eine kurze Meditation, und um 15.30 Uhr gab der Zeremonienmeister, der italienische Erzbischof Piero Marini, das Zeichen zum Beginn. Mit dem Ruf Extra omnes, »alle hinaus«, wurden die Fernsehscheinwerfer ausgeschaltet, und die Beamten, die Chorsänger, die Kameramänner, die Sicherheitsleute, der offizielle Fotograf und der Kommandant der Schweizergarde mit seinem mit weißen Federn geschmückten Helm verließen den Raum. Zurück blieb außer den Kardinälen ein Beichtvater– und ein Arzt.

Zunächst verteilte der Zeremoniar die Stimmzettel, dann wurden unter den Kardinälen drei Wahlprüfer und drei Infirmarii ausgelost, die die Wahlzettel der gehbehinderten Wähler einsammeln konnten. In seiner peniblen Konklave-Ordnung hatte Johannes Paul II. verfügt, der Zettel für die Urne müsse »rechteckig sein« und in der oberen Hälfte vorgedruckt die Worte Eligo in Summum Pontificem enthalten (»Ich wähle zum höchsten Pontifex«). Auf die freie untere Hälfte war der Name des Gewählten einzutragen. Wobei jeder Kardinal angehalten ist, geheim und mit verstellter, dennoch aber lesbarer Schrift zu schreiben. Danach hatten die Wähler an den Wahltisch zu treten, ihren Zettel auf die Patene über der Urne zu legen und folgende Eidesformel zu sprechen: »Ich rufe Christus, der mein Richter sein wird, zum Zeugen an, dass ich den gewählt habe, von dem ich glaube, dass er nach Gottes Willen gewählt werden soll.«

Historische Reden
"Auch der Mensch hat eine Natur"
Kardinal Meisner hatte in einem Souvenirladen am Borgo Pio noch schnell eine kleine Madonna gekauft, Maria mit den drei Händen, die er Ratzinger ins Konklave mitbrachte. »Ich sagte zu ihm: ›Steck die in deine linke Tasche, und nimm dir ein Beispiel an deiner Mutter, die war auch eine Alleskönnerin. Lauf uns nicht davon, was auch in den nächsten Tagen passieren wird.‹« Aber noch ist Ratzinger zuversichtlich, dass der Kelch an ihm vorübergeht. »Es haben mir natürlich viele gesagt, dass sie auf mich setzen würden. Aber ich habe es wirklich nicht ernst nehmen können«, berichtete er in unserem Gespräch. »Ich dachte mir, wenn die Regel ist, dass ein Bischof mit 75 aufhört, dann kann man nicht den Bischof von Rom mit 78 anfangen lassen.« Immerhin hatte er die Wahlwerbung einer Ratzinger-Lobby um Medina Estévez aus Chile und den kolumbianischen Kardinal López Trujillo stoppen können. Dass er den beiden erklärt hätte, er sei unter der Voraussetzung eines schnellen Konsenses zur Kandidatur bereit, wie es kolportiert wurde, bestritt er allerdings: »Nein, wahr ist, dass ich wusste, dass der Kardinal López sich für mich starkmachen wollte, und ich habe ihn gebeten, davon abzusehen. Ich fürchte, dass er trotzdem weitergemacht hat. Aber sonst gab es keinerlei Gespräche darüber.«

Als die Kardinäle nach der eine halbe Stunde dauernden Stimmabgabe wieder an ihrem Platz waren, wurden die Wahlzettel gemischt, gezählt, kontrolliert und das Ergebnis auf einem eigenen Blatt notiert. Danach kamen die Zettel gelocht auf eine scharlachrote Schnur, um zusammen mit den übrigen Notizen verbrannt zu werden. Ein Helfer öffnete die Klappe des Ofens, stopfte die Schnur mit den Stimmzetteln hinein, legte einen Feueranzünder dazu und entzündete das Ganze. Früher benutzte man nasses oder trockenes Stroh, um den Rauch entweder weiß oder schwarz erscheinen zu lassen, inzwischen wird in einen zweiten Ofen eine Kartusche mit Chemikalien gegeben (eine Mischung aus Kaliumperchlorat, Anthracen und Schwefel), um das entsprechende Signal zu erzeugen.

Bei einem Konklave kann alles passieren. Nichts ist unmöglich. Allerdings gilt die Regel, dass, wer als Papst in ein Konklave hineingeht, als Kardinal wieder herauskommt. Stundenlang hatten die Gläubigen auf dem Petersplatz auf ein erstes Zeichen gewartet. Endlich. Als am Montag, 18. April, kurz nach 20.00 Uhr aus dem Kamin der Sixtina erste Rauchschwaden aufstiegen, schien das Warten ein Ende zu haben. Wie nach einem Schuss, wenn eine Schar von Tauben auffliegt, lief die Menge von überallher in die Mitte des Platzes. »Papa, Papa«, riefen die Ersten. Andere blickten gebannt auf den Kamin oder die riesigen TV-Wände, die den Rauchfang in Großaufnahme zeigten. »Black or white?«, rief eine Nonne im Vorbeilaufen. Die Angesprochenen zuckten mit den Schultern. Erkennbar pufften nun die ersten Orakelwolken in den römischen Himmel. Aber sie waren schwarz. Eindeutig. Und ein wenig betröppelt, wie nach einem Fußballspiel, bei dem die Heimmannschaft verloren hat, trotteten die Menschen zurück zu ihren Plätzen, nach Hause oder in eine der Bars, um sich von der Aufregung des Tages zu erholen

Zusammenbruch der Kirche in Deutschland?
Ratzinger-Gate: Ground Zero der Bischöfe
Nach Recherchen verschiedener Medien zeichneten sich in diesem ersten Wahlgang zwei Favoriten ab. Neben Ratzinger war es der emeritierte Kardinal Martini. Der Italiener erhielt angeblich ein oder zwei Stimmen mehr als der Deutsche. Das »Verbotene Tagebuch« des anonymen Wahlbeteiligten indes berichtete ein etwas anderes Ergebnis. Danach erhielt Ratzinger 47 Stimmen (40,9 Prozent), auf Platz zwei aber folgte der Argentinier Jorge Bergoglio mit 10 Stimmen. Auf Martini entfielen neun, auf Camillo Ruini, den Bischofsvikar von Rom, sechs Stimmen, auf Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano vier. Es folgten Óscar Rodríguez Maradiaga, der Erzbischof von Tegucigalpa auf Honduras, mit drei und Dionigi Tettamanzi, Erzbischof von Mailand, mit zwei Stimmen. Mehr als 30 Stimmen verteilten sich auf andere Kardinäle. Das wichtigste Ergebnis aber war das schlechte Abschneiden des »progressiven« Flügels im Kardinalskollegium. Auch im »Verbotenen Tagebuch« ist der Versuch der »Gruppe St. Gallen« um Martini, Danneels, Lehmann und Kasper, eine Gegenkandidatur aufzubauen, Kernpunkt der Information. Die Verhinderung Ratzingers, so der angebliche Plan, hätte die Suche nach einem »Kompromisskandidaten« eröffnet. 1978 hatte das Verfahren funktioniert. Damals blockierte der Florentiner Benelli den Genuesen Siri– und gab so einem Polen die Chance, an beiden vorbeizuziehen.

Nach den Bestimmungen über die Papstwahl durfte sich nach Mitternacht außer den Kardinälen niemand mehr im Gästehaus Santa Marta aufhalten. Die Nonnen waren in ihre Unterkünfte zurückgebracht worden. Die Sicherheitsleute wachten in ihren Autos vor der Unterkunft oder patrouillierten durch die vatikanischen Gärten. Im 50 Meter entfernten Palazzo San Carlo hatten zwei Ärzte Bereitschaftsdienst. Für den zweiten und dritten Wahlgang, die für Dienstagvormittag ab 9.30 Uhr angesetzt waren, wurden die Kardinäle mit Bussen zum Damasushof vor dem Apostolischen Palast gefahren. Dann ging es mit dem Lift in die erste Etage, um von hier zu Fuß die Capella Sixtina zu erreichen.

Es ist Dienstag, der 19. April, Gedenktag Leos IX., der von 1049 bis 1054 regierte und als Einziger unter den bisher sieben deutschen Päpsten heiliggesprochen wurde. Der Wahlgang vom Vortag diente dazu, zu sondieren, in der nun nachfolgenden zweiten Abstimmung ging es darum, die Zahl der verstreuten Stimmen zu lichten. Auf Ratzinger fielen dabei 65 Stimmen (56,5 Prozent), auf Bergoglio 354. Die Stimmen Ruinis waren auf Ratzinger übergegangen, Martinis Stimmen auf Bergoglio. Sodano behielt seine vier Stimmen, ebenso Tettamanzi seine zwei. Als um 11 Uhr der dritte Wahlgang begann, war klar, dass das Konklave zu einem Wettkampf zwischen zwei Favoriten geworden war: Joseph Ratzinger und Jorge Mario Bergoglio.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Martini angeblich die Parole gestreut, Ratzinger sei nicht geeignet, einen ausreichenden Konsens zu finden. Sollte sich sein Ergebnis nicht verbessern, werde der frühere Glaubenspräfekt sicherlich von selbst zurückziehen, um das Konklave nicht zu blockieren. Dadurch wäre der Weg frei für den erhofften Kompromisskandidaten. Tatsächlich konnte Ratzinger im dritten Wahlgang seinen Anteil jedoch auf 72 Stimmen ausbauen und kam damit nahe an die nötige Zweidrittelmehrheit heran. Auch Bergoglio konnte mit 40 Voten seinen Stimmenanteil noch einmal erhöhen, ausreichend, um mit einer Sperrminorität die Wahl zu blockieren. Damit wäre das Rennen wieder völlig offen. »Martini gehört zu jenen«, notiert an dieser Stelle der Anonymus, »die für den Morgen des nächsten Tages einen völligen Austausch der Kandidaten vorhersagen…«

Nicht Ratzinger begann freilich zu zögern, wie Martini gehofft hatte, sondern der Argentinier. Er habe zu verstehen gegeben, heißt es im »Anonymen Tagebuch«, dass er nicht weiter zur Verfügung stehe. Im Rückblick erklärte Bergoglio in einem Interview mit der argentinischen Zeitung La Voz del Pueblo, er sei nicht wirklich ein Gegenkandidat zu Ratzinger gewesen. Gegenüber der britischen Zeitschrift Catholic Herald ergänzte er, er habe seine Anhänger aufgerufen, für den Kandidaten Joseph Ratzinger zu stimmen. Auch in seinem Interviewbuch Latinoamerica vom Oktober 2017 führte er aus, er habe damals gefühlt, dass die Zeit für einen lateinamerikanischen Papst noch nicht reif sei. Wörtlich sagte Franziskus in dem Buch: »In dem Moment der Geschichte war Ratzinger der einzige Mann mit der Statur, der Weisheit und der notwendigen Erfahrung, um gewählt zu werden.«

Ermüdete Vernunft und verklingender Glaube
Gipfeltreffen zweier Giganten: Ratzinger und Habermas
Weil sowohl die Stimmzettel für den zweiten als auch für den dritten Wahlgang in einem Durchgang verbrannt werden, stieg erst gegen 11.50 Uhr wieder Rauch aus dem Schornstein der Sixtina auf. Aber welcher? Erneut dieselben Fragen, wild durcheinandergerufen: »nero« oder »bianco«? Minutenlang herrschte Unsicherheit. Mal wurde der Rauch dunkler, dann kam wieder eine vermeintlich helle Schwade aus dem Rohr. Der Korrespondent von agance france press schüttelte den Kopf: »Sie sollten sich endlich ein anderes System überlegen.« Ein deutscher Radiokorrespondent brüllte in sein Handy: »Es sieht so aus, als wäre Ratzinger, der als Favorit gehandelt wurde, geblockt. Jetzt ist das Rennen wieder völlig offen.«

Das war es ganz und gar nicht. In Wahrheit stellte sich in der Mittagspause für viele Beteiligte nur noch die Frage, ob Ratzinger das Amt auch wirklich annehmen würde. Der Dekan saß wie die anderen an einem der runden Tische im Speisesaal des Gästehauses. Es gab keine Sitzordnung. »Als langsam der Gang der Abstimmung mich erkennen ließ, dass sozusagen das Fallbeil auf mich herabfallen würde«, sollte er später sagen, »war mir ganz schwindelig zumute. Ich hatte geglaubt, mein Lebenswerk getan zu haben.« Er habe dann »mit tiefer Überzeugung zum Herrn gesagt: Tu mir dies nicht an! Du hast Jüngere und Bessere, die mit ganz anderem Elan und mit ganz anderer Kraft an diese große Aufgabe herantreten können.« Gleichzeitig kam ihm jedoch »ein Brieflein« in den Sinn (»es fiel mir ins Herz«, meinte er wörtlich) das ihm im Vorfeld der 93-jährige Kardinal Augustin Mayer zugesteckt hatte. »Wenn der Herr nun zu Dir sagen sollte: ›Folge mir‹«, hieß es darin, »dann erinnere Dich, was Du gepredigt hast. Verweigere Dich nicht! Sei gehorsam, wie Du es vom großen heimgegangenen Papst gesagt hast.«

Um 16 Uhr kehren die Kardinäle in die Sixtinische Kapelle zurück. Allen ist bewusst, dass dies der entscheidende Moment des Konklaves ist. Diesmal nimmt Ratzinger nicht mit den anderen den Bus, er möchte zu Fuß gehen. Sekretär Gänswein begleitet ihn. Gesprochen wird nicht. Was sollte er tun? Durfte er sich wirklich verweigern? War nicht auch Johannes XXIII. schon 78, als ihn die Kollegen in den Stuhl Petri hoben? Sophokles hat seinen Ödipus auf Kolonos mit 89 Jahren vollendet. Tizian war ein Greis, als er eines seiner beeindruckendsten Werke schuf: Die Dornenkrönung. »Sodann bitte ich denjenigen, der gewählt werden wird«, hieß es in Nr. 86 der Bestimmung Johannes Pauls II., »sich dem Amt, zu dem er berufen ist, nicht aus Furcht vor dessen Bürde zu entziehen, sondern sich in Demut dem Plan des göttlichen Willens zu fügen. Gott nämlich, der ihm die Bürde auferlegt, stützt ihn auch mit seiner Hand, damit er imstande ist, sie zu tragen.«

Bei der Auszählung der 115 Stimmzettel haben die Kardinäle weiße DIN-A4-Blätter mit den Namen der Teilnehmer vor sich liegen. Es beginnt der vierte Wahlgang, und immer häufiger fällt der Name Ratzinger. Zehn Striche, zwanzig, fünfzig. Ab siebzig wird es spannend. Niemand spricht. Aber die meisten zählen mit und machen ihre Striche. Um 17.30 Uhr erkennen sie an ihrer Liste, dass das Quorum einer Zweidrittelmehrheit mit der mystischen Zahl 77 erreicht ist. Die 77, die Doppelung der heiligen Zahl 7. Sie steht für den Abschluss einer Reihe, für Vervollkommnung. 77 Namen verzeichnet der Stammbaum Jesu im Lukas-Evangelium, die Abstammungslinie Christi bis zu Adam. »Und Noach ging, bevor die Flut kam, in die Arche«, heißt es wiederum in Genesis 7,7, »und mit ihm seine Söhne, seine Frau und die Frauen seiner Söhne.«

Wie auch immer, in diesem Moment erheben sich die Kardinäle einer nach dem anderen, und das ganze Auditorium beginnt zu klatschen. Leise, dann immer lauter. »Ich habe mein Gesicht verhüllt«, berichtete Meisner, »ich hab geheult vor Rührung. Und ich war nicht der Einzige.« Wie groß die Nervosität des Gewählten selbst war, enthüllte er einen Tag später bei seiner ersten Predigt als Papst Benedikt XVI. in der Sixtinischen Kapelle: »Mir ist, als fühle ich, wie seine [Johannes Pauls II.] starke Hand die meine hält. Ich fühle, dass ich seine lächelnden Augen sehen und seine Worte hören kann, die in diesem Augenblick besonders an mich gerichtet sind: Hab keine Angst!«

Um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Peter Seewald, Benedikt XVI. Ein Leben. Droemer, 1184 Seiten, 38,00 €.
Ausstattung: Hardcover mit Schutzumschlag, zwei Lesebändchen, mit zahlreichen, größtenteils vierfarbigen Abbildungen, einem umfangreichen Quellenverzeichnis und Register versehen.


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