Alexander Wallasch: Erst einmal Glückwunsch zum Bestseller, aber ich war etwas überrascht über den Titel „Rechtsstaat am Ende“. Wäre „Der Rechtsstaat schafft sich ab“ nicht der bessere Titel gewesen?
Oberstaatsanwalt Ralph Knispel: Tatsächlich ist der Titel, so wie er gewählt worden ist, Ausdruck dessen, was mich seit vielen Jahren umtreibt. Und deswegen sehe ich den Rechtsstaat tatsächlich am Ende, was aber nicht bedeutet, dass eine Umkehr nicht mehr möglich ist. Deswegen der Untertitel: „Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm.“ Denn genau darum geht es, einen Weckruf zu setzen, damit sich alle, insbesondere politisch Verantwortliche, genau dieser Verantwortung bewusstwerden und ihren Kampf aufnehmen, den Rechtsstaat wieder in den Stand zu versetzen, dass die Bürger Vertrauen in ihn haben.
Warum tun Sie sich das überhaupt an, in Ihrer schmalen Freizeit noch ein Buch zu schreiben über ihre Probleme im Büro, haben Sie keine Hobbys? In dem Zusammenhang, wie viele Überstunden haben Sie persönlich angehäuft?
Das gute bei den Beamten in Berlin, insbesondere bei Staatsanwältinnen und Staatsanwälten ist, dass es keine Überstunden gibt, sondern sie haben einfach ein Arbeitspensum zu erledigen, und in welcher Zeit sie das schaffen, hängt unter anderem auch von der Begabung ab. Ich habe mich für diesen Beruf als Traumberuf entschieden. Das ist für mich nicht nur Beruf, sondern auch Berufung. Das Anliegen des Rechtsstaates und dessen Erhalt oder Wiederherstellung, das liegt mit bereits von Kindesbeinen an – das ist ein Stück weit auch meinem Vater geschuldet, der mir Entsprechendes nicht nur erzählt, sondern auch vorgelebt hat – dieses Bestreben treibt mich um und da wird dann auch mancher Teil der Freizeit geopfert, um ein solches Buch zu verfassen und an anderer Stelle in den Medien für dieses Thema einzutreten. Dieses Thema ist mir viel zu ernst, als dass es vernachlässigt werden dürfte. Ich habe dieses Buch mitnichten aus finanziellen Gründen geschrieben, tatsächlich ist mir der Titel des Buches ein heiliges Anliegen. Dem fühle ich mich verpflichtet.
Könnte man Ihre Forderungen im Wesentlichen darauf reduzieren, dass sie mehr Geld für die Justiz wünschen?
Sie können sicherlich fokussiert die Frage nach mehr Geld in den Mittelpunkt stellen. Denn natürlich, alles was damit im Zusammenhang steht, nämlich eine technisch und personell bessere Ausstattung sowohl der Polizei als auch der Justiz, führt über den finanziellen Weg. Heißt: Da muss die Politik Geld in die Hand nehmen, um die Strafverfolgungsbehörden wieder in den Stand zu versetzen, den Kriminellen gegenüber annährend auf Augenhöhe begegnen zu können.
„Wieder in den Stand versetzen“ würde ja heißen, dass Kriminalität nur linear ansteigt oder stagniert anstatt überproportional zu wachsen, wie viele befürchten?
Der Anstieg ist sehr unterschiedlich. Es gibt Statistiken, auf die sich Politiker gerne zurückziehen, beispielsweise wenn diese im Vergleich zwischen 2019 und 2018 einen Rückgang von 2,1 Prozent ausweist. Aber diese Zahlen sind weitestgehend wertlos, denn sie besagen überhaupt nichts darüber, wie sehr die Kolleginnen und Kollegen mit den tatsächlich vorhandenen Verfahren belastet werden. Und zudem ist die Frage, ob in allen Bereichen durchgängig Rückgänge zu verzeichnen sind, zu verneinen.
Natürlich gibt es Schwankungen, die wir auch in Berlin festzustellen hatten. Wir hatten eine Zeit lang einen exorbitanten Anstieg von sogenannten Taschendiebstählen, darauf hat die Polizei im Zusammenspiel mit der Justiz reagiert. Bei der Polizei sind spezielle Einheiten gebildet worden, die sich dieser Kriminalität zugewandt und sie ganz erfolgreich bekämpft haben. Das bedeutet aber im Umkehrschluss bei der ohnehin viel zu dünnen Personaldecke auch bei der Polizei, dass die Verstärkung in bestimmten Bereichen zwangsläufig dazu führt, dass in anderen Bereichen entsprechend Kräfte nicht mehr zur Verfügung stehen. Und so gibt es andere Deliktsbereiche, in denen tatsächlich die staatliche Reaktion nicht mehr ordnungsgemäß funktioniert. Das ist – was schwerwiegender ist für die Bevölkerung – beispielsweise der Bereich der Wohnungseinbruchsdiebstähle. Da haben wir nur eine ganz geringe Aufklärungsquote. Oder betrachten Sie Fahrraddiebstähle in Berlin, da liegen wir bei der Anzahl bundesweit auf Platz 1, haben aber diesbezüglich nicht einmal fünf Prozent aufgeklärter Taten.
Und das was besonders erschrecken lässt, ist der Vergleich der sogenannten Aufklärungsquoten: Da nämlich liegt Berlin seit vielen Jahren am Tabellenende. Wir haben 2019 nicht einmal 45 Prozent aufgeklärter Straftaten. Das bedeutet im Umkehrschluss – und das ist der Bevölkerung immer wieder deutlich zu vermitteln –, dass rund 55 Prozent der Straftaten tatsächlich gar nicht aufgeklärt werden, dass die politischen Verlautbarungen, die seit vielen Jahren gleichlautend sind, Berlin werde immer sicherer, natürlich die Bevölkerung ein stückweit verhöhnt und jedenfalls für dumm hinstellt.
Auf Seite 49 beglückwünschen Sie den Bundesinnenminister dazu, dass die Kriminalitätsstatistik die niedrigste seit Jahrzehnten sei – das allerdings sieht in bestimmten Deliktfeldern wie Sexualstraftaten und einfacher sowie schwerer Körperverletzung ganz anders aus – hinzu kommt eine überproportional hohe Täterschaft bei Migranten, Menschen mit Migrationshintergrund und Zugewanderten.
Die Feststellung ist völlig berechtigt, selbst mit den kritischen Untertönen. Denn es wird ja nicht nur vom Bundesinnenminister eine solche Statistik vorgestellt, sondern jeweils auch von den Innensenatoren und Innenministern der Länder. Da kann ich nur für Berlin die eben schon genannte und seit Jahren wiederkehrende Formulierung zitieren, Berlin werde immer sicherer. So, dass ich schon bisweilen spaßhaft angemerkt habe, wenn wir weitere fünf, sechs, zehn Jahre warten, leben wir auf der Insel der Glückseligen und die Kriminalität dürfte annähernd verschwunden sein.
Und natürlich, das was Sie ansprechen, ist doch ein Problem, dem wir uns stellen müssen. Wir haben im Bereich der Sexualstraftaten einen ganz erheblichen Anstieg gehabt. Und auch bei den Gewalttaten gibt es zwischenzeitlich Schwankungen, durchaus auch Anstiege, Tötungsdelikte sind annähernd konstant und all das sind natürlich Verfahren, die die Bevölkerung betreffen. Selbstredend wird die Bevölkerung in den wenigsten Fällen von schwersten Taten wie Tötungsdelikten berührt, weder unmittelbar noch im Bereich der Angehörigen. Die Bevölkerung ist in ganz anderen Deliktbereichen viel betroffener: Dazu zählen Wohnungseinbruchsdiebstähle, dazu zählen Körperverletzungen, dazu zählen auch Beleidigungen – und auch das Dunkelfeld kann nicht vernachlässigt werden. Nehmen Sie beispielsweise die Fahrraddiebstähle: Wir können doch nicht ernstlich davon ausgehen, dass jeder Bestohlene zur Polizei geht und so etwas anzeigt, das tun in aller Regel genau die Betroffenen, die beispielsweise eine Versicherung haben und da ihre Schäden erstattet haben möchten.
Fahrraddiebstahl scheint ja fast schon ein Kavaliersdelikt geworden zu sein, nach dem Wochenende liegen in den städtischen Außenbezirken die Fahrräder der Innenstädter reihenweise herum, weil wieder einige das Taxi oder den Bus sparen wollten – dann klaut man sich halt eines in der Stadt.
Und das ist eben, was die Bevölkerung beunruhigt. Wenn sich die Menschen ernsthaft mit den Aufklärungsquoten auseinandersetzen würden – damit könnte man die Bevölkerung nicht beruhigen, im Gegenteil, das würde Misstrauen schaffen und auch zu Verärgerungen führen. Wenn Sie beispielsweise für das Jahr 2019 in Berlin eine Aufklärungsquote von nicht einmal 45 Prozent sehen und die Bevölkerung das vergleicht mit der Aufklärungsquote in Bayern im selben Zeitraum, die bei immerhin 67 Prozent liegt, das können sie tatsächlich der Bevölkerung nachvollziehbar nicht erklären.
Und wenn es dann Versuche gibt, wie von verantwortlichen Politikern, die auf die besondere Bedeutung der Hauptstadt hinweisen und erwähnen, dass es hier in Berlin einen Flughafen gibt, Bahnhöfe mit Rolltreppen und auch Touristen – das hat mich in Rechtsstaat am Ende auch zu einer sarkastischen oder scherzhaften Erwiderung veranlasst: Auch in München, der Landeshauptstadt Bayerns mit seiner hohen Aufklärungsquote, auch da gibt es schon seit vielen, vielen Jahren, länger als in Berlin übrigens, einen Großflughafen. Auch dort gibt es Touristen, nicht nur anlässlich des Oktoberfestes – jedenfalls außerhalb von Corona-Zeiten – mit Hunderttausenden oder Millionen Besuchern. Auch München verfügt über den einen oder anderen Bahnhof, man hält es kaum für möglich: Es gibt dort sogar schon Rolltreppen.
Und ich habe auch in meinem Buch ausgeführt, dass sicherlich bayerische Polizisten weder genetisch noch religiös oder ethnisch bedingt erfolgreicher oder besser sind als Berliner Polizistinnen und Polizisten. Das ist einfach eine Frage sowohl der personellen als auch sachlichen Ausstattung und auch des Rückhaltes der Polizei. In Berlin haben wir einige Gebiete zu verzeichnen, beispielweise im Umfeld der Rigaer Straße und anderer besetzter Häuser, wo die Polizei in aller Regel nur noch in Gruppenstärke hinfährt, weil einzelne Polizeibeamte, die dort mit Funkstreifenwagen eintreffen, angegriffen oder mindestens verbal attackiert werden – hier hat die Politik lange Jahre Zustände hingenommen, die es umzukehren gilt.
Sie sprechen in Rechtsstaat am Ende von einer Illusion von Staatsmacht, während ich bald Tabletten nehmen muss, wenn das mit der Post vom Finanzamt nicht aufhört – Nachbarn von mir haben gerade Anzeige wegen Sozialbetrugs bekommen samt Vernehmungstermin, weil sie eine Tätigkeit des ältesten Sohnes beim Wohngeld vergessen haben anzugeben – das immerhin scheint doch alles bestens zu funktionieren …
Es gibt Bereiche, die funktionieren. Und es gehört zur Ehrlichkeit dazu, das habe ich vielfach erwähnt, und werde auch nicht müde, es weiter zu tun …
Entschuldigung, ich meinte es eigentlich ironisch …
(lacht) Ich habe die Ironie durchaus verstanden, Herr Wallasch, die ist mir nicht entgangen. Ich sage es nur umgekehrt, damit hier nicht der Eindruck entsteht, als ob Knispel ausschließlich schlechte Zustände beklagt. Das tut er in der Tat und das mache ich aus Überzeugung, gleichwohl, und das gehört zur Ehrlichkeit dazu – der ich mich auch beruflich verpflichtet fühle – zu erwähnen, dass es gleichwohl Bemühungen auch in Berlin gibt, der Justiz zu mehr Stärke zu verhelfen. Es ist beispielsweise in den letzten Jahren hier in Berlin ein Personalzuwachs bei Staatsanwältinnen und Staatsanwälten erfolgt, den es unter keiner Vorgängerregierung in Berlin zuvor gab. Es trifft außerdem zu, dass im Haushalt eine Summe für die Justiz eingestellt wurde, die erstmals eine gute Milliarde Euro erreicht hat. Das alles wird nicht verkannt. Nur: es gehört zur Ehrlichkeit, zu erkennen, dass all das nicht ausreicht, um der Bekämpfung der Kriminalität Herr zu werden.
Ich verstehe ja, dass Sie Ihrem sozialdemokratischen Innensenator Andreas Geisel gegenüber freundlich bleiben wollen. Und Sie schreiben ja auch auf Seite 183, es stimme Sie zuversichtlich, dass der Innensenator Geisel die Größe der Aufgabe begreifen würde. Gleichzeitig aber hat Geisel zuletzt die Abschiebungen ausgesetzt und Arbeitseinschränkungen auch für Abschiebekandidaten aufgehoben, obwohl das aus guten Gründen für Abschiebekandidaten nicht gestattet war – was kann daran „zuversichtlich“ stimmen? So richtig vorteilhaft erscheint mir die aktuelle Politik Geisels in Ihrem Sinne von daher nicht zu sein.
Nein, diese Funktion des Unterstützers sowohl des Innen- als auch des Justizsenators die kommt mir weder als Autor noch als Vorsitzender der Vereinigung der Berliner Staatsanwälte in den Sinn. Gleichwohl kann, darf und werde ich mich nicht Wahrheiten verschließen. Denn die Frage der Abschiebungen ist in den letzten Jahren tatsächlich wieder in den Mittelpunkt der Arbeit gerückt. Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, anzumerken, dass bei den Abschiebungen tatsächlich verstärkt Anstrengungen unternommen worden sind und unternommen werden. Das muss tatsächlich so festgestellt werden.
Was die Polizei angeht, schreiben Sie in ihrem Buch auch davon, dass sich immer öfter geschlagene Frauen mit ihren Schläger-Männern gegen die anrückende Polizei solidarisieren, warum schreiben Sie an der Stelle nicht offen und ehrlich, dass es sich hier vorwiegend um Menschen mit Migrationshintergrund handelt, um geschlossene Gesellschaften?
Nein, es liegt mir fern, bestimmte Bevölkerungsgruppen hervorzuheben oder zu stigmatisieren oder zu brandmarken. Gleichwohl gehört es zur Ehrlichkeit hinzu, dass in bestimmten ethnischen Kreisen – das betrifft Amtsträger nicht nur im staatsanwaltschaftlichen Bereich und nicht nur die Richterschaft, sondern insbesondere auch die Polizei – sich Vertreter der Staatsmacht und Amtsträger ganz großen Anfeindungen ausgesetzt sehen. Und es kommt hinzu, dass die Rolle der Polizei und Justiz in großen Teilen dieser Gruppierungen nicht die Bedeutung haben, die ihnen gebührt. Das muss erkannt werden, manche fassen das unter dem Begriff der „Paralleljustiz“ – es gibt auch etwas weniger dramatische Beschreibungen von so genannten Friedensrichtern. Das heißt im Ergebnis, es gibt ganz viele Deliktsbereiche, in denen die deutsche Justiz außen vor bleibt, weil sich bestimmte Kreise eigener Regeln bedienen und die Strafverfolgung damit auf der Strecke bleibt.
Das wird sich dann ja ändern, wenn in Berlin bis zu 35 Prozent der Staatsdiener Migrationshintergrund haben auch bei der Polizei, dann wird ja alles viel schöner und besser …
Dieser Plan ist – ohne, dass ich Herrn Geisel fortwährend loben wollte – nicht zuletzt aufgrund der von ihm erhobenen Bedenken hier in Berlin derzeit vom Tisch. Denn es wäre auch aus meiner Sicht abenteuerlich, eine solche Migrationsquote festschreiben zu wollen. Zumal ich an deren Verfassungsgemäßheit mehr als durchgreifende Bedenken hätte.
Hätte bei Ihren Lösungsansätzen in Rechtsstaat an Ende nicht noch stärker durchklingen müssen, dass der abnehmende gesellschaftliche Zusammenhalt eine Ursache der Verwerfungen ist? Auch Sie sprechen viel über Clanfamilien, widmen Clankriminalität ein ganzes Kapitel – aber wie wichtig eine viel grundsätzlichere Form des Familienzusammenhalts in Deutschland für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist, geht darüber etwas verloren. Die Großfamilie ist doch für viele Deutsche in ihren traurigen teuren Single-Wohnungen wieder ein Sehnsuchtsort geworden, oder? Entschuldigung, war die Frage zu kompliziert?
Nein, ich habe die Frage durchaus verstanden, bin auch gewillt zu antworten. Voranschicken muss ich allerdings, das habe ich auch in Rechtsstaat am Ende so getan und werde es zudem in jedem Interview wiederholen: Es liegt mir fern und wäre verfehlt, sämtliche Mitglieder eines Clans als kriminell anzusehen. Es gibt auch keine kriminellen Clans. Zur Wirklichkeit gehört, dass solche Clans ganz überwiegend aus rechtstreuen Menschen bestehen. Zudem darf auf der politischen Seite nicht das ständige Beklagen wiederholt werden, dass hiermit Diskriminierungen verbunden sind. „Clan“ kommt sprachlich eigentlich aus dem Gälischen und aus dem schottischen Lebensbereich. Er umschreibt die ethnische Abschottung bestimmter Bevölkerungsanteile.
Die Frage war aber eigentlich eine andere …
Habe ich schon verstanden, deswegen liegt es mir auch fern, verallgemeinernd von Mitgliedern der Clans als Kriminellen zu sprechen. Damit würde man ihnen nicht gerecht. Dazu gehört allerdings auch – hier muss ich ein stückweit zurückgreifen – die Tatsache, dass einige dieser Clans hochkriminell durchsetzt sind und die Justiz sowie Polizei weitreichend beschäftigen.
Einfache Antwort bitte: Ist das von Ihnen beschriebene Staatsversagen politische gewollt oder doch „nur“ eine große Schlamperei?
Ach, wir Juristen haben das große Glück, dass wir zwischen verschiedenen inneren Tatseiten unterscheiden können: Vorsatz würde ich tatsächlich niemandem unterstellen wollen. Dem überwiegenden Großteil der Politik würde ich nicht vorwerfen wollen, so etwas zu wollen oder den Verfall des Rechtsstaates vorsätzlich zu betreiben …
Aber dann ist es Schlamperei oder Unvermögen?
Das lasse ich mal in Ihrer Frage so stehen.
Der von Ihnen diagnostizierte fortschreitende Kontrollverlust müsste doch dazu führen, dass der Bürger es selbst in die Hand nehmen will. Was glauben Sie, warum sind solche privaten illegalen wie eigenmächtigen Initiativen in Deutschland noch nicht an der Tagesordnung?
Ich hoffe, dass sie nie an die Tagesordnung gelangen! Und das, was ich in dem Buch beschrieben und vielfach bekräftigt habe, das gilt auch hier: Meine ganz große Sorge bei dem weiter fortschreitenden Verfall des Rechtsstaates ist, dass damit ein ganz wesentlicher Grundpfeiler der Demokratie gefährdet ist. Denn über bestimmte Gruppierungen von Personen hinaus – nehmen Sie Bürgerwehren oder andere Gruppierungen, die sich zusammenschließen – ist meine große Sorge, dass der Kontrollverlust, der festzustellen ist und der Vertrauensverlust, der beklagt werden muss, dazu führt, dass sich die Bevölkerung politisch randständigen und extremistischen Kreisen zuwendet, die sich genau das Thema Rechtsstaat und Strafverfolgung auf die Fahne schreiben. Und darin besteht eine ganz große Gefahr für die Demokratie. Dem muss die demokratische Mitte dieses Staates entgegenwirken und alles tun, um diese Menschen wieder einzufangen und auf den Weg der Demokratie zurückzuführen. Was mir weiter Sorge macht, ist das Ausfransen an den Rändern des politischen Spektrums, etwas, das auch allen politisch Verantwortlichen Sorgen machen muss.
Wie ist ihre Prognose für die Zukunft? Wird es schlimmer oder besser aussehen mit dem Rechtstaat in zehn Jahren?
Ich hoffe inständig, dass es besser wird!
Man kennt es aus inhabergeführten Unternehmen recht gut: Jobs die sich einschleifen, verführen zum Schlendrian, der Mensch bequemt sich halt gerne, deshalb die Idee der Rotationsverfahren. Die wollen sie laut Rechtsstaat am Ende aber abschaffen um Kompetenzen zu erhalten. Wie aber dann dem Schlendrian begegnen? Oder gibt es den in Ihren Sphären nicht mehr bzw. wird er bei Beamten traditionell toleriert?
Das ist eine durchaus belustigende Frage, die ich Ihnen so nicht positiv beantworten kann und werde. Rotation, das habe ich aber in der Tat beschrieben, davon bin ich überhaupt kein Freund. Anderseits muss man einräumen, dass der Wechsel von Personal innerhalb von Behörden bisweilen unausweichlich ist. Es wird diesen Bedarf immer an bestimmten Stellen der Behörden geben. Das stelle ich gar nicht in Frage, wogegen ich mich wende – und das ist auch Gegenstand des Buches – ist eine institutionalisierte Rotation, also das Bestreben, Personen möglichst nach einigen Jahren in anderen Bereichen einzusetzen.
Ich verstehe das jetzt auch als scharfe Kritik an der Bundesregierung, wo das Rotationsverfahren ja auch üblich ist, da ist einer heute Innenminister, morgen Verteidigungsminister und übermorgen irgendwas anderes mit späterer herausragender Pension. So funktioniert das ja mittlerweile.
Ob es funktioniert, will ich nicht beantworten. Ob dabei die Frage der Qualifikation eine Rolle spielt, das zu beurteilen, steht mir als Autor und Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte nicht zu, das mag bitte jeder Ihrer Leserinnen und Leser tun.
Wir haben ja schon einige interessante Interviews gemacht und Gespräche geführt für Tichys Einblick. Wir haben uns bei TE also auch schon immer intensiv mit den Themen beschäftigt, die in Ihrem Buch jetzt thematisiert wurden. Unsere Leser waren da also schon früh im Vorteil …
Dieses Lob kann ich Ihnen uneingeschränkt zollen. Und ohne, dass ich jetzt Ihre Rolle damit relativieren oder minimieren möchte, Herr Wallasch: Tatsächlich kann ich feststellen, dass sich in den letzten vier fünf Jahren sowohl die gesellschaftliche als auch mediale Wahrnehmung des Themas Rechtsstaat und insbesondere der Strafverfolgung sehr verändert hat gegenüber vorangegangenen Jahren. Aber ja, Tichys Einblick und auch die Interviews mit Ihnen in Person, die sind sicherlich auch Ausdruck dieser interessierten Zuneigung. Und das ist doch bei Ihren Publikationen tatsächlich feststellbar, dass die Menschen sich des Themas wissbegierig annehmen. Und deswegen besteht bei mir tatsächlich Hoffnung – ohne, dass ich mich auf einen Zeitpunkt festlegen will –, dass sich etwas in der Politik drehen und bewegen wird.
Was habe ich vergessen Sie zu fragen?
Die Frage nach der bundesweiten Besoldung treibt mich noch um. Da bin ich und sind auch wir vehemente Verfechter und Anhänger des alten Systems, dass nämlich tatsächlich ein Staatsanwalt in Flensburg dasselbe verdient wie in Garmisch-Partenkirchen. Weil im Übrigen auch die Anforderungen und Kenntnisse flächendeckend gleich sind und ein Bemühen um die stärksten Kräfte ein Ansinnen der Politik sein muss.
Im Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht nach jahrelangen Rechtsstreitigkeiten vor den vorherigen Instanzen festgestellt, dass in Berlin sieben Jahre lang verfassungsmäßig unangemessen niedrig besoldet worden ist. Also ein jahrelanger Verstoß gegen die deutsche Verfassung! Was aber war auf die Frage eines Journalisten am Tage dieser Entscheidung die Reaktion des Berliner Justizsenators? Es sei nie schön, vor Gericht zu verlieren, Punkt.
Es ist ein Verfassungsbruch mit diesem schmalen Satz hingenommen worden und der Regierung in Berlin ist von Karlsruhe aufgegeben worden, das bis zum Juli dieses Jahres zu ändern. Wir sind sehr gespannt, welches Gesetz da auf den Weg gebracht wird, um den Nachteil auszugleichen.
Aber das sind natürlich Umstände, die auch die Kollegen hier jahrelang in Berlin beschäftigen und betroffen haben.
Und die Wertigkeit der Beamten in Berlin war viele, viele Jahre geprägt von einer Maxime, die seinerzeit vom Regierenden Bürgermeister Wowereit und dem Finanzsenator Sarrazin ausgegeben wurde: „sparen, bis es quietscht“ und es hat nicht nur gequietscht, sondern ist an ganz vielen Stellen zum Stillstand gekommen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Ralph Knispel, Rechtsstaat am Ende. Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm. Ullstein Verlag, 240 Seiten, 22,99 €.