Mit Sieben kriegt er seine erste Schreibmaschine. Mit Acht schreibt er an Willy Brandt und kriegt Antwort. Mit Zehn wechselt er von Politik zu Raumfahrt und Astronomie, produziert mit Elf eine „Galaktische Zeitung“, wirbt Anzeigen und gründet einen „Astronautik-Club“. Mit Dreizehn kehrt er zur Politik zurück mit der Schülerzeitung „Yeah“: „auflage 2.000, preis: lehrer 1 dm. schüler 0,10 dm.“ Berichtet Rainer Zitelmann in seiner Autobiografie.
Über „Yeah“ schreibt er: „Die Zeitung entwickelte sich – so wie meine eigene Gesinnung – zunehmend nach links. Das war Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil.“ Auch seine Eltern waren links, erfahren wir, und an seiner Schule praktisch alle – Lehrer wie Schüler. Also gründete Zitelmann dort auch eine „Rote Zelle“. Der Weg in linksradikale Läden wie „libresso“ und „Karl-Marx-Buchhandlung“ und die ganze Frankfurter ML-Szene folgte.
Zitelmanns Bild der Frankfurter und danach Darmstädter Schulszene, korrespondiert mit dem, was ich wenig vorher im Verband Deutschenr Studentenschaften (VDS) in Bonn erlebt hatte, der Vertretung der Allgemeinen Studentenausschüsse (AStA) der bundesdeutschen Universitäten und Hochschulen. „Rechtsaußen“ war in diesem Spektrum der vereinsamte Lehrer Zitelmanns, der SPD-Mitglied war, wie bei mir im VDS Wolfgang Roth, der dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) angehörte und nicht dem SDS.
Als ich Bundesgeschäftsführer der FDP war, begann Rainer Zitelmann 1978 Geschichte und Politikwissenschaft an der Technischen Universität in Darmstadt zu studieren. Das brachte ihn zu Karl Otmar von Aretin, der dort Zeitgeschichte lehrte. Dessen Seminare über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus brachten Zitelmann zu diesem Themenkreis. Seine Zweifel an der marxistischen Theorie vom Faschismus als letztem Versuch, den Kapitalismus vor dem Untergang zu retten, wuchsen. Die Anregung zur Dissertation kam vom Assistenten eines Professors. Die Vorstufe war ein langer Aufsatz in der Zeitschrift „Neue Politische Literatur“ über „Hitlers Erfolge – Erklärungsversuche in der Hitlerforschung“. Zitelmann entdeckte eine Forschungslücke.
In seiner Staatsexamensarbeit behandelte 1983 auf 250 Seiten: „Soziale Zielsetzugen und revolutionäre Motive in Hitlers Weltanschauung als Forschungsdesiderat.“ Zitelmann: „Ich hatte die gesamte wissenschaftliche Literatur zum Thema aufgearbeitet, Fragen gestellt und Hypothesen entwickelt, denen ich dann in meiner Doktorarbeit nachgehen wollte.“ Erstes Staatsexamen mit Bestnote 1,0, und beste Gutachten brachten Zitelmann nach erster Ablehnung und Widerspruch dann doch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Seine Dissertation räumte mit etlichen falschen Darstellungen von Hitlers politischen Plänen auf – wie etwa von einer vormoderne Agrarutopie, während Hitler „vielmaher ein überzeugter Anhänger der modernen Indsutriugesellschaft“ war. Professor von Aretin nannte das Ergebnis „den wichtigsten Beitrag zur Hitler-Biografie seit dem großen Buch von Fest“: 709 Seiten, 1.700 Anmerkungen, mehrere tausend Fundstellen – summa cum laude. 1987 erschien die Arbeit als Buch: „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs.“
Zitelmann: „Wurde ein Buch negativ in bestimmten Medien besprochen, war das sogar eine gute Reklame.“ Über das Buch von Wolfgang Kowalsky aus der Grundsatzkommission der IG Metall, „Rechtsaußen … und die verfehlten Strategien der deutschen Linken“ schrieb die Frankfurter Rundschau: „Vor diesem Buch muss gewarnt werden.“ Mit manchem Buch kriegten Verlag und Lektor richtigen Ärger. Wer wissen will, wie es da zugeht, findet dazu etliche Seiten. In „bestimmten Medien“ wurde Zitelmann „rechts“ eingeordnet. Am 8. November 1993 wurde sein Auto „abgefackelt“, wie es in einem „Bekennerschreiben“ von „linken Autonomen“ an die taz hieß.
Rainer Zitelmanns nächste Station bestimmte Claus Jacobi (weiland SPIEGEL, 1993 bis 1995 Chefredakteur der Welt): Jacobi betraute Zitelmann mit der Leitung der Wochenendbeilage „Geistige Welt“. Das politische und zeitgeschichtliche Programm bei Ullstein-Propyläen führte er parallel weiter. Zitelmann formuliert das nicht so, aber Jacobi setzte offensichtlich ihn ein, um die Linie zu ändern, die Redakteure im Feuilleton „waren meist links eingestellt und zeigten das demonstrativ durch entsprechende Aufkleber an ihren Türen (‚Ausländer, lasst uns nicht mit diesen Deutschen allein‘).“ Zitelmanns Artikel sollte und musste auf die Redaktion wirken wie gemeint: „Wenn Herrschaftsfreie herrschen“. Der begann so: „In der Folge der Kulturrevolution von 1968 kam es zu einer Verschiebung des politischen Koordinatensystems. Die einstigen Tabubrecher haben neue Tabus aufgerichtet. Denkverbote behindern die freie Diskussion. Der linke Konformismus hat zu einem Pluralismus-Verszändnis geführt, das rechte und konservative Positionen ausgrenzt.“ Lehrreich zu lesen, was Zitelmann bei der Zeitung und im Verlag weiter erlebte.
Ich erinnere mich an die Zeit sehr gut. Sie fiel in meine letzten Jahre bei der Friedrich-Naumann-Stiftung, in der ich damals jungen Libertären eine Plattform gab. Die FDP, der Zitelmann im Unterschied zu mir nach wie vor angehört, hat ihre Standortbestimmung bis heute nicht zustande gebracht.
1996 begann Zitelmann neben seiner journalistischen Tätigkeit, das Immobiliengewerbe zu erlernen und auszuüben. Dies so erfolgreich, dass er mehrfacher Millionär wurde. Parallel baute er zu Beginn die erste tägliche Immobilienseite einer Tageszeitung auf. Etwa ein Drittel der Autobiografie widmet sich dem Unternehmer Zitelmann: ein Ausflug in eine Politik-ferne Welt, die hoch politisch ist. Seit 2007 schreibt Zitelmann wieder mehr, vor allem „zur Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrise“. Im Schlusskapitel bietet der Autobiograf dem Leser „Meine zwölf Lebensregeln“. Für mich kommen sie zu spät. Zitelmann sagte sicher, es ist nie zu spät. Aber ich würde mich auch an diese Regeln nicht halten wie an alle, denen ich begegnete. Weshalb ich nie die Chance auf Millionär hatte.
Obwohl ich der Äußerung zustimme, in der sich Jesús Huerta de Soto auf Ludwig von Mises bezieht, wie Rainer Zitelmann schreibt: „Der handelnde Mensch schaut wie mit den Augen eines Historikers in die Zukunft.“