Shunichi Yamashita empfängt mich in seinem Haus, in den dicht bewaldeten Hügeln über Nagasaki. Die Aussicht ist betörend: Ein pulsierender Hafen, gesäumt von der Hirado-Hängebrücke, die sich elegant über die Bay schwingt, dahinter die vorgelagerten Inseln. Nagasaki ist eine wohlhabende, moderne und brummende Stadt. Fast im Tagesrhythmus schwemmen Luxuskreuzer am Quai des alten Hafenviertels Dejima Scharen von Touristen aus China, Korea und Taiwan an Land, die sich jeweils schnell in den Einkaufspalästen der Stadt verlieren. Die liebevoll restaurierten Straßenbahnen und die katholische Urakami-Kathedrale erinnern an vergangene Zeiten, in denen Nagasaki fast exklusiv für ganz Japan das Tor zur Welt war.
Ground Zero, das Epizentrum der Atombombe, die am 9. August 1945 mit einem Schlag gegen 70000 Menschen getötet und einen großen Teil der Stadt in ein Trümmerfeld verwandelt hatte, liegt direkt zu unseren Füssen. Als Yamashita 1952 hier geboren wurde, waren noch nicht alle Trümmer weggeräumt. In den Ruinen der Urakami-Kathedrale, keine 500 Meter vom Ground Zero entfernt, wurde er auf den klangvollen Namen Buenaventura getauft. Auch die Universitätsklinik von Nagasaki, wo Professor Yamashita einst seine Studien begann und wo er heute lehrt, lag in der unmittelbaren Todeszone. Es ist, als drehte sich sein ganzes Leben um Ground Zero.
Haru war damals, als Major Sweeney von der 393 Bombardement Squadron 9000 Meter über ihrem Kopf den Befehl zum Abwurf der Atombombe erteilte, sechzehn Jahre jung und ging ans Gymnasium. Sie saß zu Hause, knapp drei Kilometer vom Ground Zero entfernt, in ihrer Stube. Haru schaute gerade aus dem Fenster, als der wolkenverhangene Himmel plötzlich gleißend hell wurde, »so als wäre die Sonne explodiert«.
Sie habe einfach Glück gehabt, sagt die Frau mit einem Lächeln: »Ich war stärker als die Bombe«. Es gab Nachbarn, die den Angriff nicht überlebten. Haru erlitt bloß geringfügigen Verletzungen durch herumfliegende Glassplitter. Der Urakami-Hügel, an dessen Westflanke sich ihr Elternhaus befand, bot etwas Schutz.
Als Haru nach den Sommerferien an ihre Schule zurückkehrte, so erzählt sie, fehlte die Hälfte der Mitschüler und der Lehrer. Sie kamen nie wieder. Zur Trauer gesellte sich der Hunger. Es vergingen Monate, bis die Versorgung mit dem Nötigsten wieder einigermaßen funktionierte. In der Not habe man das Kraut der Kartoffeln gegessen, erinnert sich die mittlerweile 88-jährige Frau, eine Orangenschale sei schon fast ein Luxus gewesen. Von der Strahlengefahr habe man zwar gewusst, doch diese sei damals noch kein großes Thema gewesen. Dass ihre Mutter auf dem Schwarzmarkt ihren schönen Kimono gegen Essen eintauschte, habe ihr mehr Kummer bereitet.
Die Strahlung zeitigte auch für Haru Yamashita und ihre Familie verheerende Folgen, allerdings ganz anders, als man es sich gemeinhin vorstellen würde. 1951 heiratete die junge Frau in den Ruinen der katholischen Urakami-Kathedrale, wo sie ein Jahr später ihren Erstgeborenen Shunichi auf den Namen Buenaventura taufte. Ihren Mann hatte sie zuvor sechs Jahre lang nur heimlich getroffen. Bis sie schwanger wurde. Beide Familien sträubten sich gegen die Liaison. Denn Haru war eine Hibakuscha, eine Überlebende der Atombombe. Es hieß, sie würde bald an Krebs sterben. Und vor allem: Verstrahlte Frauen würden Krüppel und Monster gebären.
Haru Yamashita war kein Einzelfall. Sie ist eine von insgesamt 650.000 offiziell anerkannten Hibakusha. Jahrelang wurden die Überlebenden der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki geschnitten wie Aussätzige. So als wäre Strahlung etwas Ansteckendes. Die Überlebenden wurden nicht nur auf dem Hochzeitsmarkt gemieden. Niemand wollte das Risiko eingehen, jemanden einzustellen, der womöglich krank war und bald an Krebs sterben würde.
Bereits 1957 erließ das japanische Parlament ein Gesetz, das den Hibakusha im Sinne einer Wiedergutmachung Privilegien bei der Krankenversicherung und bei den Renten einräumt. Doch erst im Verlauf der 1960er Jahre wurde einer breiten Öffentlichkeit das Unrecht allmählich bewusst, welches man den Überlebenden angetan hatte. Die Diskriminierung der Hibakusha war nicht nur moralisch abstoßend, sie war auch sachlich unbegründet.
Das lässt sich mit einer einfachen Rechnung belegen. Im Frühling 2017 gab es in Japan immer noch 164.621 Hibakusha. Mit anderen Worten: 72 Jahre nach den Bombenabwürfen lebten rund ein Viertel der Registrierten immer noch. Japaner haben weltweit die höchste Lebenserwartung. Doch bei den Hibakusha liegt sie statistisch sogar leicht über dem Landesschnitt.
Wie ist das möglich? Was ist mit der Strahlung? Mit der auf Jahrzehnte, ja vielleicht Jahrhunderte hinaus kontaminierten Erde? »Was mich nicht umbrachte, hat mich stärker gemacht«, entgegnet mir Haru. Das Lächeln in ihren Augen hat sich nun in Spott verwandelt.
Professor Shunichi Yamashita widerspricht. So könne man das nicht sagen. Er vermutet, dass die bevorzugte medizinische Betreuung und der bessere Lebensstandard einen positiven Effekt auf die Lebenserwartung der Hibakusha gezeitigt hat. Beweisen lässt sich das allerdings nicht. Gemäß Yamashita ist das nur eine Vermutung.
Aber das Krebsrisiko? All die angeblichen Fälle von Leukämie?
»Gemäß den Langzeitstudien des Atomic Bomb Disease Institute in Nagasaki kann nur ein Prozent der Todesfälle unter den Hibakusha mit den Langzeitfolgen der Atombombe in Verbindung gebracht werden. Die theoretische Erhöhung des Krebsrisikos lag unter einem Promille, statistisch lässt es sich aber nicht nachweisen. Dies deckt sich mit den Erfahrungen und meinen Forschungen in Hiroshima und später in Tschernobyl. Das gilt mittlerweile als wissenschaftlich gesichert.«
Aber all die Fehlgeburten und schrecklichen Missbildungen bei Neugeborenen?
»Das ist ein Hoax. Eine Zunahme von Missbildungen bei Säuglingen konnte nie nachgewiesen werden. Eine potentielle Gefahr war schon früher bekannt, von Röntgenaufnahmen. Sie besteht aber nur in seltenen Fällen und in einer sehr frühen Phase der Schwangerschaft.«
Aber die Fotos von verkrüppelten Tschernobyl-Kindern, die um die Welt gingen?
»Es gab diese Missbildungen vor den atomaren Katastrophen in Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl, es gab sie nachher. Eine Veränderung lässt sich statistisch nicht erkennen.«
Und die auf Jahrzehnte, ja vielleicht auf Jahrhunderte verseuchten und verstrahlten Landschaften?
Aber der radioaktive Fallout, der berüchtigte schwarze Regen?
»Der größte Teil des Fallouts ging wahrscheinlich an einem anderen Ort nieder, als man ursprünglich angenommen hatte. Es ist daher schwierig, verlässliche Aussagen darüber zu machen. Eine signifikante Zunahme von Krebsfällen oder Fehlgeburten wurde aber nirgends in der Präfektur von Nagasaki festgestellt.«
Halb betäubt fahre ich gegen Abend zurück zu meinem Hotel, vorbei am Peace Park. Ein Nieselregen hat inzwischen eingesetzt und die letzten Touristen aus dem Park vertrieben. In der Schule hatte ich einst gelernt – ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen – dass eine nukleare Katastrophe ganze Landstriche auf Jahrzehnte unbewohnbar macht. Der Lehrer hatte uns Fotos von Kindern mit schrecklichen Missbildungen gezeigt. Ich ging nicht irgendwo in Afrika zur Schule, sondern in der Schweiz, einem Land also, das weltweit für ein exzellentes Bildungssystem gelobt wird. Meine Kinder und Enkel bekamen die gleichen Bilder vermittelt. Und jetzt das – alles Lug und Trug? Ist es möglich, dass wir alle einem kollektiven Wahn aufgesessen sind?
Ist Professor Shunichi Yamashita etwa der Spinner? Gibt es etwa eine Art Stockholm-Syndrom bei den Überlebenden der Atombombe, ein psychischer Kurzschluss, der die Opfer mit ihrem Peiniger verbündet? Will er – der Professor – einfach die brutale Realität nicht sehen? Oder ist er der einzige Vernünftige in einer Welt aus lauter Spinnern?
Der einzige ist er jedenfalls nicht. Professor Yamashita ist bestens integriert in der wissenschaftlichen Community der Strahlenmedizin. Seine Langzeit-Forschungen in Nagasaki, Hiroshima, Tschernobyl und später in Fukushima sind international anerkannt, sie wurden nie von renommierten Forschern bezweifelt, geschweige denn widerlegt. Was Yamashita sagt, so stellte ich in Gesprächen mit anderen Strahlenmedizinern fest, ist Common Sense in der Fachwelt. Mainstream.
Wie ist es dann möglich, dass sich die Mär von den Krebstoten, den Monsterkindern und den auf ewig verwüsteten Landschaften so hartnäckig in den Köpfen hält? Ein deutscher Strahlenbiologe gab mir die Antwort, am Rande der Talk-Show Kerner Live auf RTL, an der wir beide teilnahmen. Die Sendung wurde in Hamburg im März 2011 aufgezeichnet, wenige Tage nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Die Informationslage war dürftig. Ich vertrat die Ansicht, dass es keinen Grund zur Panik gebe, da die Gefahr eines Tsunami in Deutschland doch eher gering sei. Die große Katstrophe in Japan sei das Erdbeben gewesen. Wegen der Kernschmelze dagegen sei bislang kein einziger Mensch gestorben oder auch nur ernsthaft verstrahlt oder verletzt worden. Meine Aussage löste eine allgemeine Betretenheit aus, der Moderator ließ mich danach vorsichtshalber kaum mehr zu Wort kommen. Doch nach der Sendung beglückwünschte mich ein Strahlenbiologe, der an meiner Seite im Panel aufgetreten war, zu meiner »mutigen und wichtigen Stellungnahme«. Die Hysterie, welche die deutschen Medien verbreiteten, meinte er, sei unbegründet und verantwortungslos, ja unerträglich. Das hätte er besser vor laufender Kamera gesagt, tadelte ich ihn, sein Wort als Wissenschaftler hätte ein viel höheres Gewicht gehabt als die Einschätzung des wahrscheinlich einzigen atomfreundlichen Journalisten im deutschen Sprachraum. »Ach wissen Sie«, rechtfertigte sich der Fachmann etwas betreten, »wenn man das so direkt sagt, gilt man sofort als Verharmloser.«
Es gibt kaum ein Thema, das derart von Ignoranz, Vorurteilen und falschen Mythen kontaminiert ist, wie die Kernspaltung. Der atomare Bann ist ein Paradebeispiel für den Fluch des Guten. Der Glaube an die gerechte Sache scheint jede Lüge zu rechtfertigen. Doch die Folgen der gutgemeinten falschen Warnungen sind nicht harmlos. Sie können mitunter eine tödliche Wirkung zeitigen.
Professor Yamashita war mir bereits im Frühling 2011 aufgefallen, anlässlich einer Reportage in Fukushima. Zwei Monate zuvor hatte das Tohoku-Erdbeben an der japanischen Ostküste schreckliche Schäden angerichtet und einen gewaltigen Tsunami ausgelöst. Ganze Landstriche und Siedlungen wurden verwüstet, 18.000 Menschen fanden damals in den Wassermassen den Tod. Das Bild der Zerstörung, das ich an der japanischen Ostküste antraf, war bedrückend. Der Tsunami hatte ganze Siedlungen dem Erdboden gleichgemacht, viele Bewohner hatten keine Chance zu fliehen. Wracks von einst stattlichen Schiffen und zur Unkenntlichkeit zermalmte Fahrzeuge aller Art, auf die man bis tief ins Landeinnere stieß, vermittelten einen Eindruck der unermesslichen Naturgewalt.
Der Tsunami hatte unter anderem auch das Kühlsystem von vier der insgesamt sechs Reaktorblöcke des Kernkraftwerkes Fukushima Daiichi zerstört. In drei Reaktoren kam es darauf zu einer Kernschmelze, bei der Wasserstoff freigesetzt wurde. Um einen Überdruck in den Reaktoren zu verhindern, wurde radioaktiver Dampf abgelassen, es kam zu Wasserstoffexplosionen. Der Wind überzog ein 20 bis 30 Kilometern langes und wenige Kilometer breites Gebiet nordwestlich der Reaktoren in der Folge mit erheblichen Mengen von radioaktivem Cäsium und Iod.
Zusammen mit dem Fotografen Mitsuhiro Shoy reiste ich damals zehn Tage lang durch die Präfektur Fukushima. Da und dort wagten wir auch mal einen Abstecher in die Sperrzone, welche die Regierung im 20-Kilometer-Radius um die havarierten Meiler errichtet hatte. Wir besuchten Notsiedlungen, die für die Evakuierten in aller Eile erstellt worden waren. Was wir hörten und sahen, hatte allerdings wenig gemein mit dem, was ich bislang in den europäischen Medien gelesen hatte. Diese berichteten vor allem über die Reaktorkatastrophe. Doch die Menschen vor Ort hatten ganz andere Sorgen. Es war der Tsunami, der getötet, ganze Landstriche zerstört und ihre fruchtbarsten Reisfelder versalzt hatte. Mit der Strahlung gingen die Überlebenden dagegen ziemlich abgeklärt und vernünftig um. Sie wussten, dass sie nie lebensbedrohlich war.
»Die Strahlengefahr nimmt mit der Distanz zu«, spöttelte mein Freund Mitsuhiro einmal, »je weiter die Menschen davon entfernt sind, desto grösser ihre Angst – am größten ist sie am anderen Ende der Welt, in Deutschland.« Der Fotograf war zuvor mit deutschen Reportern unterwegs gewesen. Sie waren mit Schutzanzügen und Gasmasken angereist. Strahlenopfer waren gemäß Mitsuhiro das einzige Thema, das sie wirklich interessiert habe. Nach ein paar Tagen seien die Deutschen dann ziemlich enttäuscht wieder abgezogen. Für ihren Bericht, den mir Mitsuhiro zeigte, hätten sie nicht nach Japan reisen müssen. Sie hätten ihn auch aus ihrem Hamburger Büro schreiben können. Mit der Realität in Fukushima hatte er in meinen Augen nur am Rande zu tun.
Kernschmelzen hatte es früher schon geben, etwa 1957 im britischen Atomkraftwerk Windscale, 1965 auf dem sowjetischen Eisbrecher Lenin oder 1969 im schweizerischen AKW Lucens, wobei letzteres irreparabel beschädigt wurde (die Anlage wurde abgebaut, die Felskaverne, in der sie sich befand, dient heute dem Kanton Waadt als Staatsarchiv). Oder 1979 im Kernkraftwerk von Harrisburg.
Doch bis dahin war es, zumindest im Westen, immer gelungen, den Austritt von radioaktiven Stoffen zu verhindern. Insofern war Fukushima ein Novum. Man wusste nun endlich, was der »größte anzunehmende Unfall« (GAU) bedeutete, und das gleich in dreifacher Ausführung.
Professor Shunichi Yamashita war ein Glücksfall für die Bevölkerung von Fukushima. Weltweit gibt es kaum einen Forscher, der sich besser in der Materie auskennt. Nach seinen Studien in Nagasaki hatte er mehrere Jahre in den USA geforscht. Ab 1990 leitete er eine internationale Tschernobyl-Kommission unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, welche die gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe in der Ukraine untersuchte. Über ein Jahrzehnt lang pendelte Yamashita zwischen Kiew und Nagasaki. Zwischendurch arbeitete er drei Jahre lang für die Weltgesundheitsorganisation WHO in Genf, wo er maßgeblich am Tschernobyl-Bericht mitwirkte.
Die hochkarätige internationale Expertengruppe – insgesamt nahmen über hundert Forscher an den Untersuchungen teil – veröffentlichte 2006 einen Bericht zu Tschernobyl. Zwanzig Jahre nach der Reaktorkatastrophe in der Ukraine gelangte das Forscher-Team zu einem ernüchternden Fazit:
- Lediglich 31 bis 56 Todesfälle konnten direkt auf die Strahlung zurückgeführt werden; eine Zunahme von Missbildungen bei Neugeborenen konnte nicht festgestellt werden.
- Eine Erhöhung des Krebsrisikos ließ sich nur theoretisch errechnen, sie bewegte sich selbst in den am stärksten kontaminierten Gebieten im einstelligen Promillebereich. Das ergab zwar eine theoretische Zahl von 4000 Krebstoten in ganz Europa, die sich statistisch allerdings nicht nachweisen lässt.
- Festgestellt wurde dagegen eine signifikante Zunahme von Schilddrüsenkrebs, vor allem bei Kindern, der allerdings selten tödlich verlief und der mit zwei einfachen Mitteln zu verhindern gewesen wäre: mit der Einnahme von Iod-Tabletten in den ersten Tagen nach der Katastrophe und vor allem mit dem Verzicht auf lokale Agrarprodukte während einiger Monate.
- Die Schilddrüsenerkrankungen wären auch durch eine rechtzeitige Evakuation der Anwohner zu verhindern gewesen. Als die Umsiedlungen nach einer Woche begannen, war es zu spät. Da das radioaktive Iod-131 eine Halbwertszeit von lediglich acht Tagen hat, war die gefährlichste Phase zu diesem Zeitpunkt bereits vorbei.
- Die flächendeckenden Evakuierungen, so der deprimierende Befund der Forscher, hatte ungleich mehr gesundheitliche Schäden bewirkt, als von der Strahlung zu erwarten gewesen wäre: Depressionen, Suchtverhalten, psychosomatische Leiden, soziale Isolation, Suizide, völlig unnötige Abtreibungen von vermeintlich beschädigten Föten.
Welch ein Kontrast zu den Medienberichten nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die von Tausenden von Toten fabulierten und spekulierten. Der WHO-Bericht entlarvte vor allem auch die Bilder von Fehlgeburten und Krebskranken, mit denen Hilfswerke damals spendenwirksam für ihre Tschernobyl-Projekte hausierten, als verantwortungslose Propaganda.
Man hätte nach der Veröffentlichung des WHO-Berichtes einen Aufschrei der Empörung erwartet oder zumindest eine engagierte Debatte. Natürlich hätte man die Befunde der Tschernobyl-Kommission auch hinterfragen oder kritisieren können. Doch nichts von dem geschah. Betretenes Schweigen. Der Bericht wurde von den meisten Massenmedien und der Politik einfach ignoriert. Sonst hätte man ja eingestehen müssen, einer Chimäre aufgesessen zu sein. Diese Größe brachten nur wenige auf.
»Errare humanum est«, besagt ein famoses lateinisches Sprichwort. Irren ist menschlich. Der zweite Halbsatz der Sentenz, »In errore perseverare stultum«, wird leider partout vergessen. Im Irrtum zu beharren jedoch ist dumm. Weil man die Fehler von Tschernobyl nicht wahrhaben wollte, verpasste man es, die nötigen Lehren zu ziehen. Das sollte sich in Fukushima rächen.
Einige Aktivisten reichten eine Strafanzeige ein gegen Yamashita, wegen vorsätzlicher Tötung. Der Vorwurf war juristisch absurd, die Staatsanwaltschaft eröffnete nicht einmal ein Verfahren. Doch das war Stoff, über den sich auflagefördernd berichten und spekulieren ließ. In Japan wurde die Story anfänglich zwar kaum beachtet. Doch als die internationale Presse die Yamashita-Affäre aufnahm, schwappte sie zurück nach Japan und bekam plötzlich Gewicht. Die japanische Regierung wich dem medialen Druck. Obwohl es in vielen Gebieten schon nach wenigen Wochen keinen Grund mehr dafür gab, wurden die Sperrzonen um Fukushima Daiichi nur zögerlich aufgehoben.
Die Rückkehr der Vertriebenen verzögerte sich über mehrere Jahre. Viele ließen ihre Heimat für immer hinter sich. In den Barackendörfern der Vertriebenen, die ich zwei Jahre nach dem Tsunami erneut besuchte, traf ich Familien, die auseinandergerissen worden waren. Vor allem Frauen waren aus Sorge um ihre Kinder weggezogen, während ihre Männer blieben, nicht zuletzt aus Loyalität zum Arbeitgeber, die in Japan großgeschrieben wird. Viele der Evakuierten arbeiteten für den Stromriesen Tepco, die mit Abstand größte Firma in der Region. Sie fühlten sich auch moralisch verpflichtet, an Bord zu bleiben. Ältere Leute wollten in der Nähe der Grabstätten ihrer Vorfahren bleiben. Für Westler mag das alles fremd klingen, doch in Japan gelten andere Wertvorstellungen als in Europa oder Nordamerika.
Und vor allem eines wurde mir klar bei meinen Erkundungen in Fukushima: Hätte ich die Wahl, bei einem schweren Erdbeben unter einem Stausee oder neben einem AKW zu stehen, ich würde letzteres wählen. Wassermassen sind gefährlicher als die Strahlung.
Bei meinem Flug von Zürich nach Tokio wies der Geigerzähler, den ich stets bei mir trug, einen höheren Wert aus als während eines etwa gleich langen Aufenthalts in der Sperrzone von Fukushima. Das Phänomen ist bekannt. Jeder Linienpilot ist auf 10.000 Metern über Meer einer höheren Strahlendosis ausgesetzt, als in einem AKW zulässig wäre. Auch den 2500 Mitarbeitern von Tepco, die mit den Aufräumarbeiten in den havarierten Meilern von Fukushima beschäftigt waren, wurden geringere Dosen zugemutet. Ein Gesundheitsrisiko besteht weder für die Piloten noch für die Arbeiter in den Ruinen von Fukushima Daiichi.
Meine zweite Reise in die Sperrzone erfolgte zwei Jahre nach dem Reaktorunfall, diesmal offiziell und direkt ins Herz des havarierten AKW. Es gab auch dort immer noch einige Hot Spots, an denen man sich nicht zu lange aufhalten sollte. Doch an den meisten Orten war die Strahlendosis inzwischen auf unbedenkliche Werte abgeflaut. Vieles wurde in mühseliger Kleinarbeit gereinigt. Ein großer Teil der strahlenden Partikel wurde vom Regen in den pazifischen Ozean gespült, wo sie derart verdünnt wurden, dass sie für Mensch und Umwelt keine Bedrohung mehr darstellen.
Das traurigste an der Kernschmelze von Fukushima war vielleicht, dass sie mit relativ einfachen Mitteln zu vermeiden gewesen wäre. Die Unfall-Reaktoren wurden in den 1970er Jahren gebaut, sie waren die ältesten im Land. Alle moderneren Atomreaktoren, auch jene der benachbarten, etwas moderneren Anlage Fukushima Daini, haben sowohl das Tohoku-Erdbeben wie auch den nachfolgenden Tsunami schadlos überstanden. Beim AKW in Onagawa etwa erreichte die Flut einen höheren Stand als in Fukushima.
Die Mängel der Meiler von Fukushima waren spätestens seit der Kernschmelze von Harrisburg (1979) bekannt. Neben dem Überdruck im Reaktor war der hoch explosive Wasserstoff, der sich bei einer Kernschmelze bilden kann, das größte Risiko. Weltweit wurden nach Harrisburg viele Kernkraftwerke entsprechend nachgerüstet. 1993 reiste der Ingenieur Ferruccio Ferroni von der Schweizer Firma Elektrowatt nach Japan, um die Nachrüstung der Meiler von Fukushima mit so genannt passiven Wasserstoff-Rekombinatoren und Partikel-Filtern zu evaluieren. 1996 übermittelte Ferroni dem Stromriesen Tepco detaillierte Pläne für die Nachrüstung. Die Nachrüstung hätte auch bei einem totalen Stromausfall jene Katastrophe verhindert, die 18 Jahre später eintreten sollte. Man empfing Ferroni freundlich, danach hörte er nichts mehr. Tepco mochte die wenigen Millionen nicht ausgeben und sollte dafür noch teuer bezahlen.
187 Milliarden Dollar wird die dreifache Kernschmelze in Fukushima den Stromriesen Tepco voraussichtlich kosten. Der Rückbau und die Entschädigungen an die Anwohner schlagen mit je rund 70 Milliarden zu Buche, der Rest wird für die Entsorgung der verseuchten Böden veranschlagt. Die Aufräumarbeiten dürften noch Jahrzehnte dauern. Der exorbitante Betrag wird allerdings relativiert durch eine andere Zahl. Nach dem GAU in Fukushima fuhr Japan 2011 all seine 42 Kernreaktoren zu einer Sicherheitsüberprüfung herunter. Die meisten Anlagen stehen seither still. In der Folge musste Japan Jahr für Jahr zusätzlich Kohle, Öl und Gas im Wert von 30 bis 50 Milliarden Dollar importieren, um seine Stromversorgung sicherzustellen. Da dieses Geld nicht anderswo eingespart werden kann – der Brennstoff beläuft sich höchstens auf zehn Prozent des Betriebsaufwands eines Kernkraftwerkes – dürfte der durch den »Shutdown« verursachte volkswirtschaftliche Schaden die Kosten der Kernschmelze mittlerweile übertroffen haben.
Während meiner Reisen nach Fukushima versuchte ich mehrmals, Professor Shunichi Yamashita zu treffen. Erfolglos. Ich erhielt stets eine ausgesprochen freundliche Absage, was in Anbetracht seiner Erfahrungen mit Journalisten auch nicht weiter verwunderlich war. 2015 zog sich Yamashita nach Nagasaki zurück, um sich wieder seiner Lehrtätigkeit und der Forschung am Atomic Bomb Disease Institute zu widmen. Er hatte getan, was in seiner Macht lag.
Im Frühling 2017 gelang es mir, den Professor am Rand einer WHO-Tagung in Genf kurz zu sprechen. Yamashita lud mich zu sich nach Hause ein. Wenn ich begreifen wolle, wie es sich mit der atomaren Verstrahlung verhalte, meinte Yamashita, müsse ich schon nach Nagasaki reisen. Dort würde er mir gerne alles vor Ort erklären.
Auszug aus dem Kapitel „Das atomare Paradox“, in:
Alex Baur, Der Fluch des Guten. Wenn der fromme Wunsch regiert – eine Schadensbilanz. münsterverlag, 344 Seiten, 22,00 €.
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