Es lässt sich feststellen: Die Sorgen vieler Menschen in Deutschland und anderen Ländern des Westens sind berechtigt. Etliche sind bereits aus der Mittelschicht abgerutscht oder halten sich mit Ach und Krach. Es ist etwas dran an der Feststellung der Zeitschrift Fortune, dass in unserem System »die Klasse der Kapitalbesitzer große Vorteile hat und die Kosten der Zulassung zu und des Ausschlusses von dieser Klasse immer höher werden«. Das System hat versagt. Insofern darf es nicht verwundern, wenn linke Politiker grundlegende Reformen dieser Wirtschaftsordnung anmahnen oder diese in Frage stellen.
Bereits seit einigen Jahren wird der Ruf nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle immer lauter. Als der JusoVorsitzende Kevin Kühnert die Kollektivierung von Großkonzernen und die Begrenzung von Immobilienbesitz forderte, löste dies Beifall an der SPDBasis und einen empörten Aufschrei in großen Teilen des Rests der Gesellschaft aus, einschließlich der SPDSpitze. Kühnert hatte in einem Interview mit Die ZEIT gesagt, dass er für eine Kollektivierung großer Unternehmen »auf demokratischem Wege« eintrete: »Mir ist weniger wichtig, ob am Ende auf dem Klingelschild von BMW ›staatlicher Automobilbetrieb‹ steht oder ›genossenschaftlicher Automobilbetrieb‹ oder ob das Kollektiv entscheidet, dass es BMW in dieser Form nicht mehr braucht.« Außerdem schlug er vor, das Privateigentum an Immobilien zu begrenzen. Jeder sollte nur den Wohnraum besitzen dürfen, den er selbst nutze. Kühnert bezeichnete sich dabei als »Sozialisten«. Auch in den USA werden die Stimmen lauter, die einen demokratischen Sozialismus fordern. Donald Trump sprach in seinem Wahlkampf die Sorgen der Mittelschicht offener an als jeder andere, mit Ausnahme des demokratischen Kandidaten Bernie Sanders. Natürlich sieht Trump sich nicht als Sozialist, aber auch er versprach, sich um Infrastruktur, Kriminalität und öffentliche Güter zu kümmern.
Der amerikanische Historiker Paul Gottfried schreibt in der Zeitschrift The American Conservative, dass von den Republikanern und auch von Macron in Frankreich ein Geschwätz über eine »drohende sozialistische Gefahr« ausgehe und dass diese Sorge in keinem Land überzeugend sei. »Ich leugne nicht, dass die Linke viele ›kostenlose‹ Leistungen fordert, einschließlich einer kostenlosen Hochschulausbildung selbst für diejenigen, die weder die Eignung noch die Neigung haben, ernsthaft zu studieren.« Auch der Green New Deal, den die demokratische Abgeordnete Alexandria OcasioCortez vorschlägt, sei sehr teuer. »Was diese ›Sozialisten‹ wollen, ist nicht dasselbe wie in Venezuela, China oder Kuba. Keiner unserer demokratischen Präsidentschaftskandidaten will ähnlich verstaatlichte Volkswirtschaften. […] Staatliche Gesundheitsfürsorge mag gut oder schlecht sein (ich persönlich habe einen Horror davor), aber wenn man dafür ist, ist man nicht automatisch ein Sozialist. Länder wie Kanada, Deutschland und England, die von unseren republikanischen Think Tanks als ›kapitalistisch‹ angesehen werden, haben staatliche Gesundheitssysteme.«
In den Principles for Navigating Big Debt Crises legten Ray Dalio und sein Team die Ergebnisse der Untersuchung von 48 historischen Schuldenkrisen vor, um Anhaltspunkte dafür zu erhalten, wie wir mit der gegenwärtigen Schuldenkrise umgehen können. Spannend ist die Erkenntnis, dass immer dann, wenn in den USA die Vermögensverteilung besonders ungleich war, »Populisten« auf den Plan traten. Das war nach der Finanzkrise 1929 der Fall und ist es seit 2010 wieder. Warum sollte es in anderen Ländern anders sein?
Wie stark dabei die Vermögensverteilung schwanken kann, zeigt das Schaubild: um 1930, aber auch aktuell besitzen die reichsten 0,1 Prozent der Bevölkerung um die 20 Prozent des gesamten Volksvermögens. Um 1980 waren es nur 5 Prozent. Die unteren 90 Prozent der Bevölkerung kamen in den 1980erJahren auf immerhin knapp 40 Prozent des Volksvermögens. Heute ist es nur etwa die Hälfte.
Dass der Abstieg der Mittelschicht keine naturgegebene Tatsache ist, zeigen die Schweiz und Liechtenstein. Beide Länder haben eine geringe Staatsverschuldung, eine intakte öffentliche Infrastruktur und ein Lohnniveau für die Mittelschicht, das sehr deutlich über fast allen anderen Ländern Europas liegt. Trotz einer starken Währung, dem Franken, sind beide Länder Sitz international wettbewerbsfähiger Konzerne und sie weisen ein höheres Wirtschaftswachstum auf als Deutschland mit seiner vergleichsweisen schwachen Währung, dem Euro. Es ist also durchaus möglich, eine intelligente Politik für die Menschen zu machen, ein angemessenes Lohnniveau zu halten und dennoch international wettbewerbsfähig zu sein.
Auszug – mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – aus:
Max Otte, Weltsystemcrash. Krisen, Unruhen und die Geburt einer neuen Weltordnung. FBV, 640 Seiten, 24,99 €.
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