Wer in Deutschland das Verhältnis zu Russland unter realpolitischen Gesichtspunkten betrachtet und dementsprechend der russischen Föderation das Bestehen legitimer Machtinteressen zugesteht, kommt schnell unter einen Generalverdacht. Dies mag daran liegen, dass zu den Russland-Verstehern eine Reihe von Politikern gehört, die trotz unterschiedlichen Niveaus nicht für sich in Anspruch nehmen können, von Russland, seinen Interessen und seinem besonderen Verhältnis zu Deutschland sehr viel zu verstehen. Gemeint ist nicht nur der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der als Angestellter russischer Energiekonzerne interessenwahrend auch gegenüber dem starken Mann Russlands, Wladimir Putin, auftreten muss und bereits von daher bestimmte Gangarten der russischen Politik nicht unvoreingenommen beurteilen kann. Die Rede ist natürlich auch von Martin Schulz, der zusammen mit Sigmar Gabriel und anderen SPD-Politikern meinte, bei Hinterzimmertreffen mit russischen Politikern oder gar mit dem russischen Präsidenten selbst geopolitische Kompetenz demonstrieren zu müssen.
Schließlich kommt ein Generalverdacht gegenüber der realpolitischen Beurteilung russischer Politik meist auch dadurch zustande, dass in bestimmten Ländern wie in Polen ein geradezu pathologisches Russlandverständnis grassiert: Jeder Schritt Deutschlands in Richtung Russlands wird mit einem historischen soupcon verbunden.
Nicht zu vergessen ist gewiss der Werkzeugkasten russischer Politik im Westen. Die Organisation des Russlandbilds durch den staatlichen Sender Russia Today ist davon nur eine Facette. Die unbestrittenen Einmischungsversuche der russischen Politik in den amerikanischen Wahlkampf gehören ebenso zu jenen Methoden russischer Politik, die in der Tat an den kalten Krieg erinnern.
Teltschik zeichnet in verständlicher Sprache mit vielen Einblicken aus seinem politischen Leben nach, wie die Geschäftsgrundlage des neu gefundenen Vertrauens der 90er Jahre zwischen Russland und dem Westen fahrlässig verspielt wurde. Wurde damals noch davon ausgegangen, dass auf deutschem Boden bzw. auf dem Boden der ehemaligen DDR keine Nato-Truppen stationiert werden dürfen und dementsprechend auch die Nato sich nicht ostwärts bewegen würde, so sieht zwischenzeitlich die Lage vollständig anders aus. Nahezu ganz Osteuropa, insbesondere Polen, Tschechien, Ungarn und Rumänien sind ebenso wie die baltischen Staaten der Nato beigetreten, so dass das alte Schreckgespenst der ehemals sowjetischen Politik von der Einkreisung durch den Westen eine neue Gestalt angenommen hat.
Es ist zweifellos ein Verdienst der Darstellung Teltschiks, dem westlichen Leser die russische Perspektive nahezubringen und Verständnis dafür einzufordern, dass aus russischer Sicht die Osterweiterung der Nato bereits seit Jelzin als ein Bruch jener Geschäftsgrundlage angesehen wird, die einst Gorbatschow dazu veranlasste, der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit seinen Segen zu geben.
Interessant, wenn auch nicht originell ist auch der Hinweis Teltschiks darauf, dass die Messlatte russischer Politik stets die Entscheidung in Washington ist. Washington ist der internationale Sparringspartner, mit dem sich die russische Großmacht nach wie vor misst. Sie ist jenes Fixgestirn der internationalen Politik, durch dessen Anspruch, unilaterale Politik zu betreiben, sich Moskau oder Russland unter Putin besonders herausgefordert fühlt.
Ob das Russland Putins aufgrund der auch von Teltschik konzedierten Rechtsstaats- und Demokratiedefizite ein berechenbarer Partner werden kann, untersucht Teltschik nicht. Genauso wenig nimmt er sich der Frage an, wie man Russland auf dem Weg einer rechtsstaatlichen Demokratie mit einem pluralistisch organisierten politischen Personal bewegen könnte. Auch fehlen Ausführungen über das Zusammenwirken von politischer Elite und Staatskonzernen in so wichtigen Feldern wie der gesamten Energiepolitik. Die Aufforderung an die deutsche Politik, verbunden mit Elogen auf den Dialog von Angela Merkel mit Putin, weisen gewiss den Weg in die richtige Richtung, um das Unverhältnis Russlands mit dem Westen durch einen signifikanten deutschen Beitrag zu überwinden. Indessen verlangt es angesichts der völlig verfahrenen Situation und der auf tradierten Feindbildern fixierten US Administration gewiss mehr als nur eines Anstoßes von Deutschland. Gefragt ist nach einer neuen Ostpolitik, also dem Entwurf einer neuen Politik, bei der sich Deutschland, wie einstmals konzipiert durch Willy Brandt und Egon Bahr, auf eigene Beine stellt und den Dialog mit Russland neu ordnet.
Es ist zu hoffen, dass Horst Teltschik sich nicht das letzte Mal in die Debatte eingemischt hat, sondern in einer Zweitauflage des Buches diese offenen Fragen beantwortet.