Tichys Einblick
Jahrhundertbiografie des deutschen Papstes

Peter Seewald: „Einen wie ihn wird es nicht mehr geben“

Warum Joseph Ratzinger ein moderner Theologe ist und das als Präfekt und Papst auch blieb, beantwortet der Biograph Benedikts des XVI. im Interview mit Oliver Maksan und Guido Horst.

imago Images

Herr Seewald, sind Sie erleichtert, dass die Biografie, das Buch nun erscheint?

Allerdings. Es war eine schöne, aber auch, bei einer Jahrhundertbiografie wie der von Joseph Ratzinger, eine gewaltig anstrengende Aufgabe, die einen überfordert. Man braucht unzählige Stoßgebete und gutes Sitzfleisch, um das durchzustehen.

Ausführlich beschreiben Sie den geistigen Werdegang des jungen Ratzingers, die Werke, die ihn beeinflusst haben. Würden Sie sagen, nach seiner „Reifezeit“ war er ein moderner Theologe?

Er war es von Anfang an. Schon als Erstsemester begeisterte er sich für den Aufbruch eines neuen Geistes. Er verschlang alle Literatur hierzu und schwärmte für eine Philosophie der Freiheit. Sein Doktorvater Gottfried Söhngen führte ihn zu einer geschichtsbezogenen Theologie anstatt einer nur spekulativen. Früh entdeckte er die neue französische Schule und erkannte in Henri de Lubac und in Hans Urs von Balthasar seine Vorbilder. Seine Studenten horchten auf. Da war eine ungekannte Frische, ein neuer Zugang zur Überlieferung, verbunden mit einer Reflexion und einer Sprache, die man so noch nicht gehört hatte.

»Ratzingers Theologie ist sehr früh fertig,
und die Kontinuität in seiner Lehre ist beeindruckend«

Und doch beginnt Ratzinger später zu erkennen, dass er und zum Beispiel Karl Rahner theologisch auf »zwei verschiedenen Planeten lebten«. Von Hans Küng ganz zu schweigen. Was führte den Konzilstheologen und das spätere Mitglied der Würzburger Synode aus dem »Lager der Progressiven« heraus? Blieb er sich einfach nur treu?

Ja. Mit gewissen Modifikationen. Ratzingers Theologie ist sehr früh fertig, und die Kontinuität in seiner Lehre ist beeindruckend. Rahner war ganz wild darauf, mit dem jungen Kollegen auf dem Konzil zusammenzuarbeiten, was dann allerdings nur suboptimal geklappt hat. Der spätere Papst hatte eine Nähe zu unkonventionellen, unbequemen, sehr modern denkenden Gelehrten, zu Leuten, die nicht Mainstream waren. Er sah sich selbst als progressiven Theologen. Allerdings wurde Progressivsein ganz anders verstanden als heute. Nämlich als das Bemühen um eine Fortentwicklung aus der Tradition heraus – und nicht als Ermächtigung mittels selbstherrlicher Eigenkreationen. Bereits als Konzilsberater forderte er, die Suche nach dem Zeitgemäßen dürfe nicht zu einer Preisgabe des Gültigen führen. Diesem Ansatz ist er treu geblieben. Insofern stimmt es, wenn er sagt, nicht er habe sich geändert, sondern die anderen.

War es eigentlich der ehemalige Kollege aus Tübinger Zeiten Hans Küng, der zu Beginn der Präfekten-Zeit Kardinal Ratzingers das Bild vom »reaktionären Theologen« an der Spitze der Glaubenskongregation schuf?

Die Beziehung Küng-Ratzinger ist eine sehr spannende, aber auch sehr tragische Geschichte. Eine echte Freundschaft war es nie, auch wenn sich die beiden schätzten und irgendwie auch mochten. Tatsächlich ist Küng der Hauptverantwortliche für eine Ratzinger-Saga, die auf Manipulation und Fälschungen aufgebaut ist. Seine Beschuldigungen bereiteten das Zerrbild vom »Großinquisitor« vor. Er war unter anderem für die Legende vom Trauma und der Wandlung Ratzingers in der Rebellion von 1968 verantwortlich, die es in Wirklichkeit nie gab. Zu keiner Stunde hat er etwas unversucht gelassen, seinem früheren Kollegen an den Karren zu fahren. Wären seine Verleumdungen in den sogenannten Leitmedien kritisch geprüft worden, hätte es einen »Panzerkardinal« nie gegeben.

 »Wenn heute noch jemand von einem gescheiterten Pontifikat
spricht, dann hat er entweder keine Ahnung, oder er will bewusst
eine Formel durchdrücken, die seinen ideologischen Interessen entspricht«

Schon lange vor 2005, dem Jahr der Wahl Papst Benedikts, hatten Sie sich mit Joseph Ratzinger beschäftigt und zwei Interviewbücher mit ihm herausgegeben. Haben Sie dann von dem deutschen Pontifikat etwas Anderes, vielleicht mehr erwartet?

Halbstaatliche Kirchen-Sozialindustrie
Sozialistische Predigten schaden der Kirche und dem Glauben
Ich finde, die Bilanz Benedikts ist mehr als ansehnlich. Wenn heute noch jemand von einem gescheiterten Pontifikat spricht, dann hat er entweder keine Ahnung, oder er will bewusst eine Formel durchdrücken, die seinen ideologischen Interessen entspricht. Alleine nach einem »Jahrhundertpapst« wie Johannes Paul II. einen Übergang ohne jeden Bruch geschafft zu haben, war eine riesige Leistung. Benedikt XVI. legte angesichts eines kaum dagewesenen Verfalls des Christentums den Schwerpunkt auf die Erneuerung des Glaubens. Sein besonderes Charisma und seine Katechesen haben Millionen von Menschen angezogen, auch solche, die der Kirche distanziert gegenüberstanden. Nicht von ungefähr sprach man von einem »Benedetto«-Fieber. Es endete mit der Williamson-Affäre, bei der, wie ich in meinem Buch belege, eine mediale Desinformationskampagne die Öffentlichkeit getäuscht hat.

Die Berufung des »unerfahrenen Jesuiten« Federico Lombardi nach dem Medien-Profi Navarro-Valls als Vatikansprecher und die von Tarcisio Bertone zum Staatssekretär: Waren manche Personalentscheidungen ein Schwachpunkt im Pontifikat von Papst Benedikt?

Ratzinger selbst hat ja Personalpolitik als nicht unbedingt seine Top-Disziplin bezeichnet. Zudem neigt er zu einer Art von Nibelungentreue. Ich denke, mit einem stärkeren Team hätte das Potenzial, das im Pontifikat Benedikts XVI. lag, weit besser zur Geltung kommen können.

Papst Benedikt hat nur drei Enzykliken veröffentlicht, von dem Theologen-Papst hätte mancher vielleicht mehr erwartet.

Es waren zwar »nur« drei Enzykliken, aber drei, die es in sich haben. Als Papst war er vor allem Hirte, nicht Professor. Dass er in seinem hohen Alter und bei seinen gesundheitlichen Handicaps, von denen die Öffentlichkeit nichts ahnte, dann auch noch eine Jesus-Trilogie hinlegte, grenzt fast schon ans Übermenschliche. Diese Christologie war angesichts der Zerstörung von Bild und Botschaft Jesu dringend notwendig. Kein Papst vor ihm hatte sich zugetraut, ein solches Werk in Angriff zu nehmen.

»Ratzinger hat mit seinem Akt das Papsttum revolutioniert
und den Weg frei gemacht für eine frische Kraft.
Er hat mit der Frage des Amtsverzichts gerungen bis aufs Blut.«

Herr Seewald, Hand aufs Herz: Wie haben Sie mit dem Rücktritt Benedikts gelebt? Sie haben ihn in Ihrem Buch gut erklärt, aber haben Sie ihn auch für sich akzeptiert?

Ein Papst hat in seinem Amt zu sterben. Das galt nahezu als Dogma. Die Demission eines Pontifex war zwar kirchenrechtlich möglich, aber niemand wollte sie erleben müssen. Der Rücktritt hat auch mich erschüttert. Andererseits hatte Benedikt XVI. schon 2010 in unserem Buch »Licht der Welt« erklärt, ein Papst habe nicht nur das Recht, sondern mitunter auch die Pflicht, zurückzutreten, wenn seine physischen oder psychischen Kräfte nicht mehr ausreichen. Die katholische Kirche ist so groß und so verbreitet wie niemals zuvor. Die Anforderungen an den obersten Hirten haben sich extrem verändert. Ratzinger hat mit seinem Akt das Papsttum revolutioniert und den Weg frei gemacht für eine frische Kraft. Er hat mit der Frage des Amtsverzichts gerungen bis aufs Blut. Und man kann ihm glauben, wenn er sagt, er befindet sich damit im Reinen, gerade auch mit seinem Herrn, dem alleine gegenüber er letztlich verantwortlich ist.

Inwiefern ist Benedikt XVI., wie Sie im Vorwort schreiben, zu einem Papst der Zeitenwende geworden, »sowohl das Ende des Alten als auch der Beginn von etwas Neuem«?

Muezzin-Ruf und Kirchenglocken
Tradition oder Identitätsverlust?
Ratzinger überblickt im persönlichen Erleben die geschichtlichen Erfahrungen eines ganzen Jahrhunderts, von der Weimarer Republik bis ins digitale
Zeitalter. Er kennt insbesondere die unterschiedlichsten Phasen der Kirche. Von ihrer Lage in der Diktatur, der Epoche als Volkskirche und als Kirche der Krise in der säkularisierten Gesellschaft. Fünf Jahrzehnte lang stand er an vorderster Front, ein Vierteljahrhundert davon als rechte Hand von Johannes Paul II. Er war ein Brückenbauer, der die Wiederentdeckung der Väter betrieb und den konziliaren Modernisierungsschub mit bewirkte, der aber auch frühzeitig vor einer Verfälschung des Vatikanums warnte. Und, und, und. Er hat vor allem auch gezeigt, dass Glaube und Vernunft keine Gegensätze sind, sondern die zusammengehörenden Stränge der Erkenntnis. Sein Erfahrungsschatz ist so wertvoll wie Gold.

Hat der Papa emeritus das Buch schon gelesen?

Ich hatte ihm einige wenige Kapitel vorab gezeigt. Er sollte sich ein Bild machen können. Besonders gefiel ihm wohl der Abschnitt über die Enzyklika »Mit brennender Sorge« von 1937. »Dies ist ein musterhaftes Kapitel genauer Information über die zeitgeschichtliche Lage«, schrieb er mir, »über ihre Gegenwart in meinem Leben und schließlich eine umfassende Aussage über die verfolgte Kirche.« Ob ihm alle Kapitel gefallen, kann ich nicht sagen. Eine Biografie darf keine Hofberichterstattung sein.

Mir ging es darum, den Zugang zu einem für Kirche und Gesellschaft unersetzlichen Werk offen zuhalten – und den Leser mitzunehmen auf eine sowohl historisch wie spirituell spannende und befruchtende Reise. Benedikt XVI. ist zeitlos aktuell. Die Biografie behandelt deshalb nicht nur Vergangenes oder Abgeschlossenes, sondern birgt mit dem Vermächtnis eines der ganz Großen der Kirche eine Wegweisung für die Zukunft. Einen wie ihn wird es nicht mehr geben.

Dieses Interview erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur.


Es folgt ein Auszug aus: Peter Seewald, Benedikt XVI. Ein Leben.

Das Konklave von 2005
Die Gruppe »St. Gallen« und ihr Versuch, einen Gegenkandidaten zu Joseph Ratzinger aufzubauen

Bei einem Konklave kann alles passieren. Nichts ist unmöglich. Allerdings gilt die Regel, dass, wer als Papst in ein Konklave hineingeht, als Kardinal wieder herauskommt. Stundenlang hatten die Gläubigen auf dem Petersplatz auf ein erstes Zeichen gewartet. Endlich. Als am Montag, 18. April, kurz nach 20.00 Uhr aus dem Kamin der Sixtina erste Rauchschwaden aufstiegen, schien das Warten ein Ende zu haben. Wie nach einem Schuss, wenn eine Schar von Tauben auffliegt, lief die Menge von überallher in die Mitte des Platzes. »Papa, Papa«, riefen die Ersten. Andere blickten gebannt auf den Kamin oder die riesigen TV-Wände, die den Rauchfang in Großaufnahme zeigten. »Black or white?«, rief eine Nonne im Vorbeilaufen. Die Angesprochenen zuckten mit den Schultern. Erkennbar pufften nun die ersten Orakelwolken in den römischen Himmel. Aber sie waren schwarz. Eindeutig. Und ein wenig betröppelt, wie nach einem Fußballspiel, bei dem die Heimmannschaft verloren hat, trotteten die Menschen zurück zu ihren Plätzen, nach Hause oder in eine der Bars, um sich von der Aufregung des Tages zu erholen.

Nach Recherchen verschiedener Medien zeichneten sich in diesem ersten Wahlgang zwei Favoriten ab. Neben Ratzinger war es der emeritierte Kardinal Martini. Der Italiener erhielt angeblich ein oder zwei Stimmen mehr als der Deutsche. Das »Verbotene Tagebuch« des anonymen Wahlbeteiligten indes berichtete ein etwas anderes Ergebnis. Danach erhielt Ratzinger 47 Stimmen (40,9 Prozent), auf Platz zwei aber folgte der Argentinier Jorge Bergoglio mit 10 Stimmen. Auf Martini entfielen neun, auf Camillo Ruini, den Bischofsvikar von Rom, sechs Stimmen, auf Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano vier. Es folgten Óscar Rodríguez Maradiaga, der Erzbischof von Tegucigalpa auf Honduras, mit drei und Dionigi Tettamanzi, Erzbischof von Mailand, mit zwei Stimmen. Mehr als 30 Stimmen verteilten sich auf andere Kardinäle. Das wichtigste Ergebnis aber war das schlechte Abschneiden des »progressiven« Flügels im Kardinalskollegium. Auch im »Verbotenen Tagebuch« ist der Versuch der »Gruppe St. Gallen« um Martini, Danneels, Lehmann und Kasper, eine Gegenkandidatur aufzubauen, Kernpunkt der Information. Die Verhinderung Ratzingers, so der angebliche Plan, hätte die Suche nach einem »Kompromisskandidaten« eröffnet. 1978 hatte das Verfahren funktioniert. Damals blockierte der Florentiner Benelli den Genuesen Siri – und gab so einem Polen die Chance, an beiden vorbeizuziehen.

Papst em. Benedikt XVI. auf Gegenkurs
Linkskatholischer Chor gegen die „Tagespost“
Nach den Bestimmungen über die Papstwahl durfte sich nach Mitternacht außer den Kardinälen niemand mehr im Gästehaus Santa Marta aufhalten. Die Nonnen waren in ihre Unterkünfte zurückgebracht worden. Die Sicherheitsleute wachten in ihren Autos vor der Unterkunft oder patrouillierten durch die vatikanischen Gärten. Im 50 Meter entfernten Palazzo San Carlo hatten zwei Ärzte Bereitschaftsdienst. Für den zweiten und dritten Wahlgang, die für Dienstagvormittag ab 9.30 Uhr angesetzt waren, wurden die Kardinäle mit Bussen zum Damasushof vor dem Apostolischen Palast gefahren. Dann ging es mit dem Lift in die erste Etage, um von hier zu Fuß die Capella Sixtina zu erreichen.

Es ist Dienstag, der 19. April, Gedenktag Leos IX., der von 1049 bis 1054 regierte und als Einziger unter den bisher sieben deutschen Päpsten heiliggesprochen wurde. Der Wahlgang vom Vortag diente dazu, zu sondieren, in der nun nachfolgenden zweiten Abstimmung ging es darum, die Zahl der verstreuten Stimmen zu lichten. Auf Ratzinger fielen dabei 65 Stimmen (56,5 Prozent), auf Bergoglio 354. Die Stimmen Ruinis waren auf Ratzinger übergegangen, Martinis Stimmen auf Bergoglio. Sodano behielt seine vier Stimmen, ebenso Tettamanzi seine zwei. Als um 11 Uhr der dritte Wahlgang begann, war klar, dass das Konklave zu einem Wettkampf zwischen zwei Favoriten geworden war: Joseph Ratzinger und Jorge Mario Bergoglio.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Martini angeblich die Parole gestreut, Ratzinger sei nicht geeignet, einen ausreichenden Konsens zu finden. Sollte sich sein Ergebnis nicht verbessern, werde der frühere Glaubenspräfekt sicherlich von selbst zurückziehen, um das Konklave nicht zu blockieren. Dadurch wäre der Weg frei für den erhofften Kompromisskandidaten. Tatsächlich konnte Ratzinger im dritten Wahlgang seinen Anteil jedoch auf 72 Stimmen ausbauen und kam damit nahe an die nötige Zweidrittelmehrheit heran. Auch Bergoglio konnte mit 40 Voten seinen Stimmenanteil noch einmal erhöhen, ausreichend, um mit einer Sperrminorität die Wahl zu blockieren. Damit wäre das Rennen wieder völlig offen. »Martini gehört zu jenen«, notiert an dieser Stelle der Anonymus, »die für den Morgen des nächsten Tages einen völligen Austausch der Kandidaten vorhersagen …«

»In dem Moment der Geschichte war Ratzinger der einzige Mann
mit der Statur, der Weisheit und der notwendigen Erfahrung,
um gewählt zu werden.«
Jorge Mario Bergoglio – Papst Franziskus

Nicht Ratzinger begann freilich zu zögern, wie Martini gehofft hatte, sondern der Argentinier. Er habe zu verstehen gegeben, heißt es im »Anonymen Tagebuch«, dass er nicht weiter zur Verfügung stehe. Im Rückblick erklärte Bergoglio in einem Interview mit der argentinischen Zeitung La Voz del Pueblo, er sei nicht wirklich ein Gegenkandidat zu Ratzinger gewesen. Gegenüber der britischen Zeitschrift Catholic Herald ergänzte er, er habe seine Anhänger aufgerufen, für den Kandidaten Joseph Ratzinger zu stimmen. Auch in seinem Interviewbuch Latinoamerica vom Oktober 2017 führte er aus, er habe damals gefühlt, dass die Zeit für einen lateinamerikanischen Papst noch nicht reif sei. Wörtlich sagte Franziskus in dem Buch: »In dem Moment der Geschichte war Ratzinger der einzige Mann mit der Statur, der Weisheit und der notwendigen Erfahrung, um gewählt zu werden.«

Weil sowohl die Stimmzettel für den zweiten als auch für den dritten Wahlgang in einem Durchgang verbrannt werden, stieg erst gegen 11.50 Uhr wieder Rauch aus dem Schornstein der Sixtina auf. Aber welcher? Erneut dieselben Fragen, wild durcheinandergerufen: »nero« oder »bianco«? Minutenlang herrschte Unsicherheit. Mal wurde der Rauch dunkler, dann kam wieder eine vermeintlich helle Schwade aus dem Rohr. Der Korrespondent von agence france press schüttelte den Kopf: »Sie sollten sich endlich ein anderes System überlegen.« Ein deutscher Radiokorrespondent brüllte in sein Handy: »Es sieht so aus, als wäre Ratzinger, der als Favorit gehandelt wurde, geblockt. Jetzt ist das Rennen wieder völlig offen.«

Buch Robert Kardinal Sarah und Nicolas Diat
Das Abendland geht seinem Untergang entgegen
Das war es ganz und gar nicht. In Wahrheit stellte sich in der Mittagspause für viele Beteiligte nur noch die Frage, ob Ratzinger das Amt auch wirklich annehmen würde. Der Dekan saß wie die anderen an einem der runden Tische im Speisesaal des Gästehauses. Es gab keine Sitzordnung. »Als langsam der Gang der Abstimmung mich erkennen ließ, dass sozusagen das Fallbeil auf mich herabfallen würde«, sollte er später sagen, »war mir ganz schwindelig zumute. Ich hatte geglaubt, mein Lebenswerk getan zu haben.« Er habe dann »mit tiefer Überzeugung zum Herrn gesagt: Tu mir dies nicht an! Du hast Jüngere und Bessere, die mit ganz anderem Elan und mit ganz anderer Kraft an diese große Aufgabe herantreten können.« Gleichzeitig kam ihm jedoch »ein Brieflein« in den Sinn (»es fiel mir ins Herz«, meinte er wörtlich) das ihm im Vorfeld der 93-jährige Kardinal Augustin Mayer zugesteckt hatte. »Wenn der Herr nun zu Dir sagen sollte: ›Folge mir‹«, hieß es darin, »dann erinnere Dich, was Du gepredigt hast. Verweigere Dich nicht! Sei gehorsam, wie Du es vom großen heimgegangenen Papst gesagt hast.«

War nicht auch Johannes XXIII. schon 78, als ihn die Kollegen
in den Stuhl Petri hoben? Sophokles hat seinen Ödipus auf Kolonos mit 89 Jahren vollendet. Tizian war ein Greis, als er eines seiner beeindruckendsten Werke schuf: Die Dornenkrönung.

Um 16 Uhr kehren die Kardinäle in die Sixtinische Kapelle zurück. Allen ist bewusst, dass dies der entscheidende Moment des Konklaves ist. Diesmal nimmt Ratzinger nicht mit den anderen den Bus, er möchte zu Fuß gehen. Sekretär Gänswein begleitet ihn. Gesprochen wird nicht. Was sollte er tun? Durfte er sich wirklich verweigern? War nicht auch Johannes XXIII. schon 78, als ihn die Kollegen in den Stuhl Petri hoben? Sophokles hat seinen Ödipus auf Kolonos mit 89 Jahren vollendet. Tizian war ein Greis, als er eines seiner beeindruckendsten Werke schuf: Die Dornenkrönung. »Sodann bitte ich denjenigen, der gewählt werden wird«, hieß es in Nr. 86 der Bestimmung Johannes Pauls II., »sich dem Amt, zu dem er berufen ist, nicht aus Furcht vor dessen Bürde zu entziehen, sondern sich in Demut dem Plan des göttlichen Willens zu fügen. Gott nämlich, der ihm die Bürde auferlegt, stützt ihn auch mit seiner Hand, damit er imstande ist, sie zu tragen.«

Bei der Auszählung der 115 Stimmzettel haben die Kardinäle weiße DIN-A4-Blätter mit den Namen der Teilnehmer vor sich liegen. Es beginnt der vierte Wahlgang, und immer häufiger fällt der Name Ratzinger. Zehn Striche, zwanzig, fünfzig. Ab siebzig wird es spannend. Niemand spricht. Aber die meisten zählen mit und machen ihre Striche. Um 17.30 Uhr erkennen sie an ihrer Liste, dass das Quorum einer Zweidrittelmehrheit mit der mystischen Zahl 77 erreicht ist. Die 77, die Doppelung der heiligen Zahl 7. Sie steht für den Abschluss einer Reihe, für Vervollkommnung. 77 Namen verzeichnet der Stammbaum Jesu im Lukas-Evangelium, die Abstammungslinie Christi bis zu Adam. »Und Noach ging, bevor die Flut kam, in die Arche«, heißt es wiederum in Genesis 7,7, »und mit ihm seine Söhne, seine Frau und die Frauen seiner Söhne.«

Wie auch immer, in diesem Moment erheben sich die Kardinäle einer nach dem anderen, und das ganze Auditorium beginnt zu klatschen. Leise, dann immer lauter. »Ich habe mein Gesicht verhüllt«, berichtete Meisner, »ich hab geheult vor Rührung. Und ich war nicht der Einzige.« Wie groß die Nervosität des Gewählten selbst war, enthüllte er einen Tag später bei seiner ersten Predigt als Papst Benedikt XVI. in der Sixtinischen Kapelle: »Mir ist, als fühle ich, wie seine [Johannes Pauls II.] starke Hand die meine hält. Ich fühle, dass ich seine lächelnden Augen sehen und seine Worte hören kann, die in diesem Augenblick besonders an mich gerichtet sind: Hab keine Angst!«

Auszug aus:
Peter Seewald, Benedikt XVI. Ein Leben. Droemer Knaur, 1184 Seiten, 38,- €


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Der Biograf des Papstes aus Bayern

Ein altgedienter Vatikanist hat ihn einmal augenzwinkernd den »Apostelfürsten unter den Vatikanberichterstattern« genannt. Peter Seewald, 1954 in Bochum geboren und in der Nähe von Passau aufgewachsen, hätte sich nie ausgemalt, was Joseph Ratzinger aus ihm werden lassen würde, als er sich 1996 nach Rom zum Präfekten der Glaubenskongregation begab, um mit dem »Großinquisitor« ein Gespräch zu führen, aus dem das Interviewbuch »Salz der Erde« werden sollte. Seewald hatte zuvor für den »Spiegel«, den »Stern« und die »Süddeutsche Zeitung« gearbeitet. Dann wirkte er als freier Journalist und baute in München einen Verkaufsladen mit Bio-Produkten aus Klöstern auf. Im Zuge der 68er Bewegung war er Marxist geworden und trat 1973 aus der Kirche aus. Doch das lange Gespräch, das er dann mit Kardinal Ratzinger führte, löste bei ihm eine Neubesinnung aus und führte ihn zurück in die katholische Kirche. 2004 erschien sein Buch »Als ich begann, wieder an Gott zu denken«.
»Salz der Erde« folgten noch drei weitere Gesprächsbücher mit Joseph Ratzinger und schließlich Benedikt XVI.: »Gott und die Welt« (2000), »Licht der Welt« (2010) und »Letzte Gespräche« (2016), die alle zu internationalen Bestsellern wurden. Wenn die beiden bei ihren Gesprächen ins Bayrische fielen, wurden die aufgezeichneten Interviews ins Hochdeutsche zurückübersetzt. Seewald veröffentlichte außerdem kurz nach Ratzingers Wahl zum Papst eine Biographie (»Benedikt XVI. Ein Portrait aus der Nähe«, 2005) und gab in Zusammenarbeit mit dem Bistum Passau einen Bildband über Benedikt XVI. (»Benedikt XVI. Der deutsche Papst«) heraus.
Die jetzt erscheinende Ratzinger-Biografie ist das ehrgeizigste Buchprojekt Seewalds und hat ihn Jahre an Arbeit gekostet. Laut Verlag erscheint das Buch zeitnah auch in Italien, Frankreich, Polen, Spanien, Großbritannien und in den Vereinigten Staaten.

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