Tichys Einblick
Neue Forschungsergebnisse

Perspektivenwechsel bei der Bewertung der Entspannungspolitik

Die eigentliche Initiative zur Entspannung zwischen den Blöcken ging von der durch den sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew eingeleiteten und forcierten sowjetischen Deutschland- und Westpolitik aus. Von Reinhard Olt

Leonid Breschnew und Willy Brandt 1971 in Simferopol

imago images / ITAR-TASS

Wir müssen umlernen! Willy Brandt war nicht der „Erfinder“ der Entspannungspolitik, und Egon Bahr, die „rechte Hand“ des ersten von der SPD gestellten Bundeskanzlers, nicht deren zwischen Bonn, Pankow und Moskau pendelnder Wegbereiter. Als solche sind sie uns im bisherigen wissenschaftlichen Schrifttum von Zeithistorikern und Politologen begegnet, als ebensolche wurden sie uns bis zur Stunde auch in der journalistisch-medialen Publizistik mehr oder weniger rühmend präsentiert.

Doch die künftige Geschichtsschreibung und diejenigen aus der Historikerzunft, die sich dem Ost-West-Verhältnis und der ihr innewohnenden waffenstarrenden Konfrontation verschrieben haben, also dem, was wir unter dem Begriff des „Kalten Krieges“ nach 1945 zu rubrizieren gewohnt gewesen sind, werden von den Ergebnissen eines österreichisch-deutsch-russischen Mammutprojekts zum Perspektivenwechsel gezwungen sein. Dasselbe gilt für den Teil der Medien, in Sonderheit des journalistischen Gewerbes, welcher historiographisch gebotene Veränderungen einem breiteren interessierten Publikum nahezubringen überhaupt willens und zudem in der Lage ist, sie angemessen darzustellen, unvoreingenommen einzuordnen sowie zu erklären.

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Die bedeutendsten österreichischen Osteuropahistoriker unter Leitung des Grazer Russlandfachmanns Stefan Karner legen im Zusammenwirken mit deutschen Kollegen und führenden russischen Geschichts- und Archivwissenschaftlern offen, dass die eigentliche Initiative zur Entspannung zwischen den Blöcken von der durch den sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew eingeleiteten und forcierten sowjetischen Deutschland- und Westpolitik ausging. Sie haben zuvor hermetisch versperrt gewesene sowjetische Aktenbestände in Bezug zu einschlägigem deutschen Archivgut gesetzt. Herausgekommen ist ein voluminöser, rund 800 Seiten starker Band mit dem Titel „Entspannung im Kalten Krieg. Der Weg zum Moskauer Vertrag und zur KSZE“ (Graz/Wien, Leykam-Buchverlag, 2020).

Und, sensationell: 100 Archivalien, welche den gesamten Prozess veranschaulichen, sind – über das Monumentalwerk hinaus – im Online-Portal www.ostpolitik.de verfügbar. Es finden sich darunter – in deutscher Übersetzung und, was als Besonderheit gelten darf – auch jene russischen Schlüsseldokumente als Faksimiles, welche die zu den neuen Erkenntnissen in der Bewertung der Deutschland-, Ost- und Entspannungspolitik führenden Sachverhalte untermauern.

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Brandt, als Kanzler der aus seiner SPD und der von Walter Scheel geführten FDP gebildeten sozial-liberalen Koalitionsregierung, und Bahr, als sein „(Ver-)Handlungsbevollmächtigter“ im Range eines Staatssekretärs, erwiesen sich mit der programmatisch und, ja man darf es ohne Vorbehalt so nennen, auch innen- und parteipolitisch propagierten „neuen Ostpolitik“ sohin lediglich als „Treibriemen“ für die Veränderung des zwischen Warschauer Pakt und Nordatlantischer Allianz bestehenden, konfliktgeladenen Aggregatszustands der Erstarrung. Sie waren sozusagen die westdeutschen Katalysatoren eines auf östlicher Seite maßgeblich von Breschnew forcierten Prozesses hin zu einem weniger spannungsreichen und allmählich moderate(re)n (Vertrags-)Verhältnis zwischen Moskau und Washington, was auch für die diesseits des Europa teilenden Eisernen Vorhangs gelegenen Länder – und naturgemäß für den westdeutschen Teilstaat an der von der DDR vermauerten und verminten Nahtstelle sowie insbesondere für die innerdeutschen Beziehungen – von Vorteil sein sollte.

Keineswegs schmälert die Kategorisierung Brandts und Bahrs als Katalysatoren, nicht aber Initiatoren der Entspannung, ihre darob anerkannten Verdienste. Diese dürfen aber auch – was die westdeutsche Zeitgeschichtler-Zunft insbesondere der „Nach-Achtundsechziger-Generation“ eher dürftig beleuchtete, wenn nicht gar ausblendete – die, wie die Forscher aus Österreich und Russland herausarbeiteten, von Moskau durchaus augenfällig begleitete, weil erwünschte Anbahnung eines verbesserten westdeutsch-sowjetischen Verhältnisses seit Adenauers Besuch und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1955 ff nicht verdunkeln. Insbesondere dürfen Brandts und Bahrs von Washington anfangs skeptisch beäugte Schritte die ostpolitischen Markierungen nicht verdecken, welche der von 1961 bis 1966 im Amt befindliche Außenminister Gerhard Schröder (CDU) bereits vorgenommen hatte. Wie aus den im Buch angestellten Betrachtungen hervorgeht, hielten sich die beiden sozialdemokratischen Ostpolitiker denn auch weitgehend an Leitlinien, wie sie seit der Endphase der Kanzlerschaft Adenauers (1949-1963), anschließend jener Ludwig Erhards (1963–1966) sowie der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD (1966-1969) unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger und Außenminister Brandt gewissermaßen vorgegeben waren.

Was waren nun die entscheidenden Beweggründe für Breschnews Kurswechsel? Ganz überwiegend sind dafür zunächst wirtschaftliche zu nennen. Denn im Gegensatz zu Nikita Chruschtschow (Parteichef der KPdSU 1953-1964) und der von ihm provozierten Kubakrise (Oktober 1962; zweifellos der Höhepunkt des Kalten Krieges) mit den USA unter John F. Kennedy, vor allem aber zu dessen Vorgänger Josef Dschugaschwili (Stalin), denen die von Partei- und Staatsgründer Wladimir Uljanow (Lenin) propagierte Weltrevolution vorschwebte und die alles taten, um bei Einsatz des militärisch-industriellen Schwerindustrie-Komplexes der Sowjetunion der marxistisch(-leninistischen) Weltanschauung den Siegeszug um den Globus zu ermöglichen, konzentrierte sich Breschnew auf den gesellschafts- wie innenpolitisch für ihn absoluten Vorrang genießenden Ausbau der Konsumindustrie. Dabei musste er zu gewärtigende innere (in Politbüro und Zentralkomitee) sowie blockinterne Widerstände (in den „Bruderländern“) überwinden.

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Es kam daher nicht von ungefähr, dass just unter Breschnews Ägide als Partei- und Staatschef (1964-1982) die nach ihm benannte Doktrin von der begrenzten Souveränität der Satellitenstaaten oberste Maxime war und sich nicht allein auf die Außen- und Militärpolitik beschränkte, sondern auch weithin auf wirtschafts- und gesellschaftspolitische Fragen erstreckte und dabei besonders Polen und Ungarn sowie die DDR berührte. Insbesondere in Pankow/Ost-Berlin fürchtete die Partei- und Staatsführung – trotz Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch Sowjettruppen 1968, was sie heißen Herzens unterstützt hatte – den von Breschnew eingeschlagenen „Westkurs“, in Sonderheit dessen Offerten an Brandt. Walter Ulbricht, der stalinistisch geprägte Erste Sekretär des ZK der SED und Vorsitzende des DDR-Staatsrats, sah darin die Gefahr einer Schwächung der sozialistischen Staaten, vor allem der DDR sowie seiner eigenen Position; 1971, im Jahr nach Unterzeichnung des Moskauer Vertrags, wurde er – maßgeblich auf Betreiben Moskaus respektive Breschnews – durch Erich Honecker ersetzt.

Ironie der Geschichte: 1983, elf Jahre nach Unterzeichnung des BRD-DDR-Grundlagenvertrags (1972), misstraute die Moskauer Führung – unter Breschnews Nachfolger, dem vormaligen KGB-Chef Juri Andropow – den „deutsch-deutschen Sonderbeziehungen“, welche sich just aus Breschnews Westpolitik sowie dem deutsch-sowjetischen und dem deutsch-deutschen Vertragswerk bis hin zur KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) erst hatten ergeben können, und blockierte Honeckers Plan eines Besuchs in der BRD. Dieser konnte erst 1987 stattfinden, als in Moskau der Reformer Michail Gorbatschow mit „Glasnost“ und „Perestroika“ das seit Breschnews Saturiertheits-Phase in Erstarrung geratene System letztlich erfolglos zu retten versuchte. Das Ende ist hinlänglich bekannt: Es kam 1989/90 zum Systemkollaps, zum Fall der Mauer, der Aufhebung der Teilung Europas und mit dem Untergang der Sowjetunion zur Auflösung des Warschauer Pakts sowie der Beendigung des Ost-West-Gegensatzes alter Art.

Breschnew war seinerzeit indes nicht nur an einer stärkeren Konsumorientierung interessiert, sondern wollte sich just im kapitalistischen Westen gegenüber dem ideologisch von Moskau abgewichenen maoistischen China und dessen sich verstetigender Bedrohung (durch Bevölkerungswachstum und militärische Stärke) im zentralasiatischen Raum (Teilrepubliken Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan) sowie im Fernen Osten (Amur-Ussuri-Grenzkonflikte) sozusagen den Rücken freihalten. Bei moderaterem Gebaren gegenüber dem Westen erstrebte Breschnew mittels Vereinbarungen „zu Vorteil und Nutzen beider Vertragsparteien“ zugleich das Verzurren des infolge von Zweitem Weltkrieg und Konferenzabkommen von Jalta errungenen sowjetischen Vorhofs bis zur Elbe, wofür u.a. just auch die De-Facto-Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze – die DDR hatte dies längst getan – sowie der DDR selbst durch die sozial-liberale westdeutsche Bundesregierung stand.

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Mit dem 1970 von Brandt und Scheel sowie dem sowjetischen Regierungschef Aleksej Kosygin und Außenminister Andrej Gromyko unterzeichneten und alsbald ratifizierten Moskauer Vertrag kam ein Prozess in Gang, der schließlich über die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE; Helsinki 1975) und sieben Nachfolgekonferenzen zur OSZE (Budapest 1994) führte und als eine Art „institutionalisierte Entspannung“ gelten konnte. Der berühmte „Korb 3“, worin der „Austausch von Informationen und Meinungen“ festgeschrieben war – den Breschnew, Moskau überhaupt, und die Warschauer-Pakt-Vasallen aufgrund ihrer Praxis gelenkter Medien und Kommunikationsmittel für leicht beherrschbar erachteten –, sollte letztlich erheblich zur Systemimplosion und Auflösung des Ostblocks beitragen.

Die aus den bis dato verschlossenen Akten, in Sonderheit aus Dokumenten von Breschnews archivalischem Nachlass, gewonnenen neuen Erkenntnisse und die Publikation, worin sie ausgebreitet werden, wären, das muss abschließend hervorgehoben werden, ohne die Zugänge und Kontakte, die der Grazer Historiker Stefan Karner, Gründer und langjähriger Leiter des „Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung“ in Russland eröffnete und kontinuierlich ausbaute, nicht möglich gewesen. Hierin zeigt sich, wie schon seinerzeit beim Zugang zu den Akten der in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenen österreichischen Wehrmachtsangehörigen und Zivilinternierten und deren gänzlich computerisierten Erfassung sowie Exploration, dass die zielführenden Wege just von diesem österreichischen Historiker und seiner Schule eröffnet wurden. Man fragt sich, warum das seit 2005 in Moskau tätige – und personell sowie materiell nicht eben schlecht ausgestattete – Deutsche Historische Institut (DHI Moskau) daran keinerlei Anteil hat, woraus der Schluss erlaubt sein muss, dass es offensichtlich nicht an Kooperation interessiert gewesen zu sein scheint.


Gastautor Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt war 27 Jahre politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) und von 1994 bis 2012 deren Korrespondent in Wien für Österreich, Ungarn, Slowenien, zeitweise auch für die Slowakei. Daneben nahm er Lehraufträge an deutschen, österreichischen und ungarischen Hochschulen wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993 erhielt er den Medienpreis des Bundes der Vertriebenen. 2003 zeichnete ihn der österreichische Bundeskanzler mit dem Leopold-Kunschak-Preis aus, und der Bundespräsident verlieh ihm den Titel Professor. 2004 wurde er mit dem Otto-von-Habsburg-Journalistenpreis für Min-derheitenschutz und kulturelle Vielfalt geehrt und ihm das Goldene Ehrenzeichen der Steiermark verliehen. 2012 ernannte ihn die Eötvös-Loránt-Universität in Budapest zum Ehrendoktor (Dr. h.c.) sowie zum Professor, und 2013 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.

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