Tichys Einblick
Die Hebel der Macht 4

Parteienstaat und Staatsparteien: Systemwechsel nötig

Existenz und Wuchern der politischen Klasse sowie ihre Abschottung beschneiden die politische Mitwirkung der Bürger. Das frustriert und entfremdet, die politische Klasse reagiert mit noch mehr Abschottung. Was die Politikerverdrossenheit erst recht vertieft.

In der Affäre um den Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, erklärt die nordrhein-westfälische Landesregierung von SPD und Grünen die Vorgängerregierung von CDU und FDP für verantwortlich. In der Tagesschau sagt Hans Herbert von Arnim:

„Doch da wir in Deutschland keine echte Gewaltenteilung haben, werden sich in dieser Frage wahrscheinlich die Reihen der Regierungsparteien schließen, und es wird – zumal auch die Opposition wohl Mitverantwortung trägt – kaum Klärung und schon gar keine Sanktionen geben – es sei denn gegenüber Herrn Wendt.“

Mit dem Fall Wendt wird ein Mäschchen jenes Netzes kurz sichtbar, das die Staatsparteien über die Jahrzehnte zu ihrem Parteienstaat geknüpft haben: ein ebenso dichtes wie unsichtbares Netz von Abhängigkeiten, das nahezu alles erfasst. Natürlich kann die „Öffentliche Hand“ mit einem Gewerkschafter anders reden – hinter verschlossenen Türen – , der von ihr bezahlt wird, obwohl er keinen „Öffentlichen Dienst“ macht. Wer da nachgräbt, findet viel, hat aber danach keinen Zugang mehr zu diesem Netz.

Vom Parteienstaat zum Bürgerstaat

Das Prinzip bringt von Arnim auf die schlichte und einleuchtende Formel: „Da die Macht von Parteien und Volk sich oft wie kommunizierende Röhren verhalten, geht es hauptsächlich darum, das Volk zu aktivieren. Je mächtiger die eine Seite, desto ohnmächtiger die andere.“

Dem füge ich hinzu: Angesichts der totalen Übermacht des Parteienkartells kommt man ihm nur bei, indem man dessen Ausgangspunkt im Art.  21 Grundgesetz streicht, dessen Sinn das Kartell so völlig auf den Kopf gestellt hat. Den Parteien hier und dort etwas wegnehmen, hier und dort Grenzen zu setzen, ist dem Bundesverfassungsgericht nicht gelungen, haben die Parteien über alle angeblichen und tatsächlichen politischen Gegensätze hinweg stets abgewehrt und in der Abwehr ihre Macht und Privilegien trickreich noch weiter ausgebaut.

Der deutsche Parlamentarismus kann nur genesen, wenn die Parlament nur aus direkt gewählten Abgeordneten bestehen, deren Unabhängigkeit sich schon darin ausdrückt, dass ihre Namen auf den Stimmzetteln stehen und keine Parteien, auch nicht additiv.

Eine wirksame Begrenzung der Macht bietet auch „entsprechend der Weimarer Reichstagswahl die Größe des Parlaments je nach Wahlbeteiligung variieren zu lassen, Wiederwahlbegrenzungen (‚term limits‘) für Amtsträger einzuführen oder Parlamentsabgeordnete nich mehr alle gleich hoch zu besolden, sondern sie für den Einkommensverlust zu entschädigen, den sie durch die Übernahme des Mandats erleiden“ (von Arnim).

Auch von Arnim:

Reparaturen innerhalb des Systems der Staatsparteien nennt von Arnim zahlreiche, die in sich auch alle Besserungen brächten, stellt aber an ihrem Ende die rhetorische Frage:

„Besteht hinsichtlich der Regeln der Macht in Wahrheit gar kein halbwegs ausgewogener demokratisch-rechtsstaatlicher Prozess mehr, weil die Parteien in eigener Sache entscheiden? Existiert die angebliche Ausgewogenheit also nur noch kraft allgemeiner politischer Übereinkunft? Der italienische Soziologe Caetano Mosca sprach insoweit von bloßen ‚politischen Formeln‘, die man, bei Strafe der Ächtung, nicht infrage stellen darf.“

Von Arnim beantwortet die eigenen Frage so, wie es jeder politisch gut Informierte und Vorurteilslose tun wird:

„So gesehen, dürfte die direkte Demokratie letztlich das einzig wirksame Gegenmittel darstellen. Besonders das Wahlrecht und die Politikfinanzierung und überhaupt die Regeln des Machterwerbs sollten für die direkte Demokratie zugänglich gemacht werden.“

Von Arnim erinnert an frühe fundamentale „Kritiker der Fehlentwicklung“, Richard von Weizsäcker, Erwin K. Scheuch und sich selbst. Er beleuchtet „Die etablierte Politikwissenschaft“ und nennt Stefan Immerfall mit der Feststellung: „Die früher oft kritische Haltung der Politikwissenschaft sei ‚in Opportunismus‘ umgeschlagen; gesellschaftliche Entwicklungen würden ‚nur noch konstatiert oder gar legitimiert‘“. Ja, füge ich an, das Netz des Parteienstaats und der Staatsparteien hat auch und gerade die Politikwissenschaft eingesponnen.

Berufspolitiker und politische Klasse

„Politische Klasse und politische Elite“ – Berufspolitiker als politische Klasse“ überschreibt von Arnim ein Kapitel in „Teil 7: Der Fehler liegt im System“. In Zeiten, wo ein Alphabet der politisch inkorrekten Worte und Wendungen nach dem anderen auf den Markt kommt, kann es nützlich sein, in unserem Zusammenhang zu sehen, wie von Arnim wichtige Politikbegriffe verwendet (ZEIT online hat neulich „Establishment“ zum „rechten Kampfbegriff“ ernannt).

Die Hebel der Macht 3
Gewaltenteilung verwirklichen
Auch die Politikwissenschaft habe inzwischen „eingeräumt, dass sich eine Klasse von Berufspolitikern gebildet hat, die – über Partei- und Föderalismusgrenzen hinweg – gemeinsame Sache miteinander machen, wenn es darum geht, eigene Berufsinteressen zu fördern.“ In der Terminologie Klaus von Beymes: „Die politische Klasse hat an der Privilegienstruktur des politischen Systems teil und kann die strukturellen Bedingungen ihrer Existenz weitgehend selbst gestalten.“ Von Arnim differenziert: „Innerhalb der Berufspolitiker sind allerdings zwei Gruppen zu unterschieden: die Führungsgruppen der Parteien, die sogenannte politische Elite, und die übrige politische Klasse.“ Diese feine Unterscheidung habe ich bisher nicht gemacht, werde mich aber bemühen, sie zu übernehmen, weil sie deutlich mehr Genauigkeit in die Debatte bringt.

Von Beymes Ansatz, schreibt von Arnim, richtet unsere Aufmerksamkeit auf „eine kleine, aber sehr wichtige Gruppe innerhalb der Parteien“:

„Die eigentlichen Akteure sind weniger die Parteien als Ganze, sondern ihre Berufspolitiker. Sie sind von den Hunderttausenden bloß zahlenden Mitgliedern und ehrenamtlich in den Kommunen Tätigen zu unterscheiden, die meist kein berufliches Interesse an der Politik haben und über politische Fehlentwicklungen oft am meisten enttäuscht sind, worin auch ein Grund für den Mitgliederschwund der etablierten Parteien liegen dürfte.

Berufspolitiker neigen dazu, den Wettbewerb etwa um Mandate massiv einzuschränken, auch innerhalb der eigenen Partei, etwa durch bestimmte Regelungen zu ihren Gunsten und zulasten innerparteilicher Herausforderer. Zur politischen Klasse, die von der Politik lebt und über ihren Status selbst entscheidet, gehören 622 Bundestags-, rund 2.000 Landtags- und 96 Europaabgeordnete sowie rund 230 Regierungsmitglieder und Parlamentarische Staatssekretäre in Bund und Ländern. Auch Tausende staatsfinanzierte Mitarbeiter von Abgeordneten sowie in Parteien, Fraktionen und Stiftungen leben von der Politik, ebenso die große Zahl von Bürgermeistern, Landräten und Beigeordneten in den Kommunen.“

Politische Elite

Die Berufspolitiker ihrerseits unterscheidet von Beyme in „die Führungsgruppe der Parteien, die sogenannte politische Elite, und die übrige politische Klasse“ (Klaus von Beyme: Die politische Klasse im Parteienstaat, 1993). In meinen Worten kümmern sich die Führungsgruppen, deren stärkster Teil die Fraktionsspitzen sind, um den Macht-Wettbewerb im Wahlkampf, bestimmen weitestgehend die Auswahl der Kandidaten, vergeben Ämter usw. – kurz regieren in den Parteien von oben durch bis in die Gliederungen. Sie führen ihre Parteien als Wahlvereine.

Von Arnim bezieht sich auf Jens Borchert (Die Professionalisierung der Politik, Zur Notwendigkeit eines Ärgernisses, 2003):

„Die fatale Folge der Entwicklung, der Konsolidierung und des Wirkens der politischen Klasse liegt in der Entmachtung der Bürger und im Schüren politischen Verdrusses. Das ergibt sich geradezu ein Teufelskreis der Entfremdung, der ein zentrales Problem des Parteienstaates darstellt: Die Existenz und das Wuchern der politischen Klasse sowie ihre Abschottung beschneiden den Bürgern ihre politische Mitwirkung; das frustriert und entfremdet, worauf die politische Klasse mit umso größerer Abschottung reagiert und damit die Politikverdrossenheit der Bürger erst recht vertieft.“

Nach dem Grundgesetz sollen die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. In der Wirklichkeit haben sich die Parteien zu Staatsparteien im Parteienstaat gemacht und das Volk, die Bürger, von der politischen Willensbildung ausgeschlossen. Und die Medien, die Journalisten?

Richard von Weizsäcker (Krise und Chance unserer Parteiendemokratie, 1982) kritisierte früh die „Demoskopiedemokratie“, die Neigung der Medien zu Vordergründigem, sie fänden „das Schicksal der Parteien interessanter … als die Lösung der Probleme“, einen „unheilvollen Umkehrprozess der Wichtigkeiten“. In meinen Worten: Nur Skandale und Skandälchen von Stars und Sternchen in Film, Kommerzsport und im Fernsehen finden sie noch spannender als jene von Politikern. Politik in der Sache fristet in den real existierenden Medien ein Nischendasein.

Ganz fehlt im Blickwinkel der öffentlichen und veröffentlichten Meinung, was von Arnim so formuliert, es „droht statt Selbstbestimmung des Volkes Fremdbestimmung durch die politische Klasse, statt zur Richtigkeit tendieren die getroffenen Entscheidungen zur Unrichtigkeit … Sie erfolgen weder durch noch für das Volk.“

In Teil 10: Die fatale Rolle der Wissenschaft erklärt von Arnim, warum die Politikwissenschaft „teilweise blind“ eine unkritische Haltung einnimmt, weil sie nach 1945 „als eine Art demokratische Erziehungswissenschaft entstanden ist und sich der Etablierung der Demokratie und ihrer Verteidigung gegen Kritik verschrieben hat.“ Während die Staatsrechtslehre auf dem anderen Auge blind ist und sich „zur Hofberichterstattung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt, indem sie überwiegend nur noch nacherzählt, was dort entschieden worden ist“.

Den kurzen Teil 8: Wohin treibt Europa? will ich nur erwähnen. Er beschreibt, wie Kommissionsbürokratie, Parlament und Abgeordnete ihre eigene finanzielle Überausstattung, Überversorgung und die ihrer Beamten und Mitarbeiter im Vergleich zum nationalen Schlaraffenland (Weizsäcker) noch auf die Spitze treiben. Einer der Spitzennutznießer des Brüsseler Selbstbedienungsskandals, der darüber qualifiziert Auskunft geben könnte, ist nun Kanzlerkandidat der SPD.

Demnächst werden die Berufspolitiker der EU zum sechzigsten Jahrestag der Römischen Verträge sich selbst zelebrieren und ihr Mantra von „mehr Europa“, wiederholen, wenn auch auf diejenigen Länder beschränken, die vorauseilen sollen – EU der verschiedenen Geschwindigkeiten. Aber das ist ein eigenes Thema.

Parteienstaatlicher Absolutismus

Seinen Kollegen in der Wissenschaft widmet Hans Herbert von Arnim abschließend die folgende Hausaufgabe:

„Es mag ja sein, dass die Parteien trotz des allmählichen Verlusts ihrer Verankerung in der Gesellschaft ihren Einfluss aufrechterhalten, ja, ihre Macht im Staat noch gewaltig steigern, indem sie ihn sich immer mehr zur Beute machen, und dass sich dadurch die bisherigen Verhältnisse stabilisieren, womit viele Politikwissenschaftler sich beruhigen. Doch soll Stabilität – abgesehen davon, dass selbst dieseneuerdings nicht mehr gewiss erscheint – wirklich den folgenden siebfachen Mangel heilen können?

1. Das Schwinden der Kernfunktion der Parteien, zwischen Bürgern und Staat zu vermitteln,
2. die grassierende Staatsfinanzierung der Parteien,
3. die Ämterpatronage,
4. den wettbewerbsbeschränkenden Ausschluss kleinerer Konkurrenten,
5. das Umkrempeln des ganzen Systems,
6. die Usurpation der eigentlich dem Volk zustehenden Souveränität durch die Parteien und ihre politische Klasse und
7. die Entstehung eines parteienstaatlichen Absolutismus?“

Direkte Demokratie in vielen Formen

Ich wiederhole das weiter oben schon zitierte Fazit von Arnims:

„So gesehen, dürfte die direkte Demokratie letztlich das einzig wirksame Gegenmittel darstellen. Besonders das Wahlrecht und die Politikfinanzierung und überhaupt die Regeln des Machterwerbs sollten für die direkte Demokratie zugänglich gemacht werden.“

Die Stichworte für den Umstieg ist für mich, vom Verhältniswahlrecht zum Direktwahlrecht zu wechseln, direkte Demokratie auf allen Ebenen der staatlichen Organisation zu installieren und den Bürgern zur Selbstorganisation in der Gesellschaft maximal viel Raum ganz selbst zu überlassen.

Darauf werden viele sagen, das ist illusionär. Denen sage ich, ohne einen solch umfassenden Systemwechsel kehrt kein Friede in die Gesellschaft ein.

Fußnote: Wer sich von Arnim Buch systematisch erarbeiten will, dem empfehle ich, sich mit dem letzten Teil 11: Zusammenfassung einzulesen.

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