Mehrfach betont Otfried Preußler, warum er ein Geschichten-Erzähler für Kinder geworden ist und was dies bedeutet. In diesem Zusammenhang verweist er auf »Herkunft«, auf »Werdegang«. »Ich bin unter Büchern aufgewachsen«, so setzt eine der Erinnerungen, nämlich die an »Mein Elternhaus im Schieferdörfel«, ein, um sodann auf maßgebliche Erfahrungen der »Lektüre der frühen Jahre« zu sprechen zu kommen. Dabei spielen die »Großmutter Dora« wie auch der Vater eine entscheidende Rolle.
Die Großmutter habe in der Abenddämmerung, wenn ihr danach zumute war, mit dem Geschichtenerzählen begonnen. Was Otfried Preußler hier nicht mitteilt, das ist der Umstand, daß die Großmutter »geböhmakelt« hat. Das »Böhmakeln«, das auch »Kuchldeutsch« genannt wird, ist schon damals ein österreichisches Deutsch, das stark durch einen böhmischen Akzent bzw. Mundart geprägt wird. Gesprochen wird es keineswegs nur in Böhmen, sondern auch in Mähren, der Slowakei und nicht zuletzt in Wien. Und natürlich gibt es literarische Figuren, die das »Böhmakeln« in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben haben. Die bekannteste ist die Hauptfigur aus Jaroslav Hašeks Schelmenroman »Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk« (1920–1923).
Die Geschichten, um die es damals in der Kindheit geht, sie nehmen sich wie eine Vorwegnahme jener Stoffe aus, die dann im Schaffen von Otfried Preußler zentrale Bedeutung gewinnen: »Vom Wassermann in der Iser erzählte sie dann, von schlauen Schneidern und dummen Teufeln, von Hexen und Hutzelweibern, vom Riesen Plampatsch, von echten und falschen Wahrsagern, von verwunschenen Schätzen im Wald, von Nachtgespenstern und Poltergeistern – und immer und immer wieder von unserem Lieblingshelden, dem kleinen Däumling (…).«
Sich in die damalige Situation als kindlicher Rezipient versetzend, wird auch auf die Qualität der Geschichten und ihre Form verwiesen. »Das waren Geschichten nach unserem Herzen«, so Otfried Preußler, »lustig und bunt, wie Kinder sie mögen, voll unerwarteter Wendungen, häufig an überlieferte Stoffe und Episoden anknüpfend – und doch frei in den Abend hineinfabuliert, nach Laune und Gutdünken der Erzählerin so oder so sich fortspinnend, bis sie nach mancherlei kühnen Schleifen und listig herbeigeführten Verwirrungen doch noch zu einem guten Ende kamen.« (…)
Auf die eindringlicher werdende Frage der Kinder nach dem Verbleib des großen Geschichtenbuches findet die Großmutter immer neue Ausreden. Letztlich ahnen die Jungen, daß das Buch möglicherweise gar nicht existiert. Allerdings haben sie eine natürliche Scheu, der alten Dame diese Vermutung mitzuteilen.
Rückblickend, im Jahre 1972, ist Otfried Preußler froh darüber, daß es zu dieser Konfrontation nie gekommen ist und das Rätsel ungelöst blieb. »Ich weiß heute nur eines«, schreibt er erinnernd, »Großmutters dickes altes Geschichtenbuch, das es in Wirklichkeit überhaupt nicht gegeben hat, ist das wichtigste Buch aller Bücher für mich, mit denen ich je im Leben Bekanntschaft gemacht habe; und da, wie erwähnt, die Großmutter Dora eine bescheidene Frau war, würde sie hier mit Nachdruck hinzufügen, daß es beileibe nicht ihr, sondern allenfalls jenem Buch zu verdanken sei, wenn der Enkel an ihrem Beispiel gelernt habe, wie man Kindern Geschichten erzählt.«
Jahre später, 1985, wird Otfried Preußler etwas theoretischer in seine »Kunst des Erzählens« einführen und bekennen:
»Als Geschichtenerzähler repräsentiere ich seit Adams und Evas Zeiten das älteste Medium der Unterhaltung, Belehrung, der Nachrichtenübermittlung schlechthin – eine Tatsache, die mich mit Stolz erfüllt, ohne daß sie mich überheblich machte. Vielmehr verleiht sie mir eine gewisse Sicherheit der Einschätzung meiner selbst, zudem meines Handwerks. Oder sollte ich Mundwerk sagen? Die Unterscheidung ist schwierig.«
Als jemand, der eine Geschichte erzählt, »bist Du zugleich Intendant, Regisseur und Ensemble eines glorreichen Einmann-Theaters«, so Preußler. »Je nach Bedarf«, fährt er fort, »kannst du deine Stimme leise und zart machen, polternd und grobschlächtig. Du kannst, wo erforderlich, bellen oder auch zwitschern, blöken wie eine ganze Hammelherde oder auch muhen. Du kannst langsam erzählen, kannst Pausen einlegen, Sätze abbrechen, sie mit einer Handbewegung zum Abschluss bringen. Du kannst mit den Ohren wackeln nach oben, nach unten schielen, dich räuspern, dich schütteln, ängstlich die Hände ringen. Auch kannst du dich, je nach Bedarf, mit deinem Publikum unterhalten. Du kannst Fragen stellen, kannst Gegenfragen provozieren, kannst sie auch gleich beantworten.«
Otfried Preußler sieht die große Herausforderung darin, die mündlich geformten Geschichten ohne Verluste ins Schriftliche zu überführen. Anders gesagt: Im Schreibvorgang soll es gelingen, die wundervolle Eigenart der mündlichen Erzählung zu bewahren. Das Faszinosum des Preußler’schen Erzählens ist, daß er die familiären »Prägungen« des Erzählens in seine spezifische, Mündlichkeit und Schriftlichkeit versöhnende Art überführt.
Was für die Großmutter Dora gilt, das trifft auch für den Vater Josef zu. In einer »ganz frühen Erinnerung«, nämlich die eines Drei- bis Vierjährigen, bezieht sich Otfried Preußler auf ebenjene Episode, die auch Josef Preußler in seinem Bericht für die Söhne aufgeschrieben hat. »Hoch auf meines Vaters Schultern sitzend, reite ich in den Abend hinein.« Schon als Kind darf der Junge den Vater zu Vorträgen und Führungen in die Heimatschutzstätte in Reichenberg begleiten und dort erlebt er, »daß er großartig erzählen konnte und immer darauf bedacht war, seine Geschichten so auszuwählen, daß auch der Humor nicht zu kurz kam.«
Die Tradition des Geschichten-Erzählens in der Familie erinnert einmal mehr an den Philosophen und Kulturkritiker Walter Benjamin, der in seinem Erzähler-Essay die Auffassung vertritt, daß »Erfahrung, die von Mund zu Mund geht«, jene Quelle ist, »aus der alle Erzähler geschöpft haben«. Dabei seien die besten jene gewesen, »deren Niederschrift sich am wenigsten von der Rede der vielen namenlosen Erzähler abhebt.« Otfried Preußler wird genau dies später gelingen, und die Grundlagen dafür sind in der Atmosphäre der Familie Preußler zu suchen. Hier wird das Geschichten-Sammeln und Erzählen als eine lange Tradition bewahrt. Im Bericht für die Söhne beschreibt der Vater nämlich auch seine volkskundliche Sammler-Tätigkeit: »Ich selber habe ja über 25 Jahre Heimat- und Volkskundeforschung im Jeschken-Isergebirge betrieben und ein reiches Material zusammengetragen, das alle Gebiete des Lebens erfaßte. Von der Landschaft kommend, wollte ich dann das menschliche Werk in den Mittelpunkt stellen und aufzeigen, wie sich Bodenkraft und Menschenseele gegenseitig bedingen. Es sollte eine Monographie dieser Landschaft werden.«
Josef Preußler hat mithin in Jahrzehnten ein umfangreiches Material zusammengetragen, er hat mit kundigen Erzählerinnen gesprochen, ihren mundartlichen Überlieferungen gelauscht und die Texte schriftlich erfasst. So ist über viele Jahre ein umfassendes Archiv entstanden. (…) Von diesem über Jahrzehnte entstandenen Archiv wird ihm kein einziges Blatt bleiben, er verliert alles. Er und seine Familie, wie zahlreiche Sudetendeutsche, werden mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Böhmen verlassen müssen, sie werden ausgesiedelt bzw. vertrieben. (…)
Begonnen wird mit einer Geschichte, die auf den ersten Blick nichts mit dem Vater zu tun hat. Der Erzähler berichtet, wie schwierig es war, einen Uhrmacher zu finden, der über das nötige handwerkliche Geschick verfügt, um eine zierliche Standuhr zu reparieren. Schnell aber wird klar, daß dies die Uhr des Vaters ist, die er zum 65. Geburtstag von der Ehefrau, also der Mutter, als Geschenk bekam. Diese Uhr hat ihm in den letzten Lebensjahren, »bis zum 9. Jänner 1967, seinem Todestag«, durch ihren Stundenschlag »das Geleit« gegeben. »Und ich bin dankbar dafür«, bekennt der Erzähler, »daß sie nun auch mich durch die Tage und Jahre begleitet – und daß sie mir immer wieder Anlaß gibt, meines Vaters zu gedenken.«
Wiederum folgt eine warmherzige frühe Erinnerung, die versucht, das Wesen des Josef Preußler für die Nachwelt zu fassen. »Es ist Winter, der Abend bricht herein, ganz fein hat es angefangen zu schneien«, schreibt der Sohn Jahrzehnte später. »Hoch auf meines Vaters Schultern sitzend, reite ich in den Abend hinein. Es geht durch einen verschneiten Wald bergauf, mitten in einem Schwarm fröhlicher Leute. Ich genieße es ungeheuer, auf sie hinunterzuschauen, weil ich ja die Erwachsenen für gewöhnlich nur aus dem Blickwinkel des Drei- bis Vierjährigen zu sehen bekomme, von unten her. Der Vater hält mich an den Füßen fest, während ich mit beiden Händen nach seinen Ohren gefaßt habe, um ihn zu lenken. Geduldig pariert er den Anweisungen des Reiters, nicht ohne hin und wieder ein lautes Wiehern von sich zu geben.« (…)
Das Erinnerungsstück von Otfried Preußler (…) wird durch das ergänzt, was die Eltern kommentierend mitgeteilt haben: »Später habe ich erfahren, daß mich die Eltern an jenem Winterabend auf den Dreikönigsausflug des Reichenberger Lehrergesangsvereins ›Silcher‹ zur Königshöhe mitgenommen hatten. Alles, was sich sonst noch an diesem Abend ereignet hat, ist mir entfallen.« Gleichwohl besitzt die nicht mehr vollständig zu rekonstruierende Episode für Otfried Preußler eine über sich hinausweisende Bedeutung. Sie ist für den Sohn gewissermaßen zu einem symbolischen Bild geronnen, weil sie auf den Kern der Persönlichkeit des Vaters weist, wie er ihn sieht:
»Nicht nur Geduld und Güte sprechen aus diesem Bild, sondern auch jene selbstverständliche Bereitschaft zu freudigem Dienen, von der sein ganzes Leben bis in die letzten Stunden hinein erfüllt gewesen ist. Und noch eins kommt darin zum Ausdruck. Anderen helfen: das war für ihn, den leidenschaftlichen Pädagogen, stets gleichbedeutend damit, ihnen auch gleichzeitig ein Stück »weiter hinauf« zu helfen, sei es auf dem Wege von Friedrichswald auf die Königshöhe, sei es in der Entwicklung zum vollen Menschsein.«
Gekürzter und um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Carsten Gansel, Kind einer schwierigen Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre. Galiani Berlin, Hardcover mit Schutzumschlag, 560 Seiten, 28,00 €.