Manche Erkenntnisse sind von zeitloser Bedeutung. Etwa die, dass man einen Kanzler schlecht im Wahlkampf in die Wüste schicken und stattdessen einen anderen Kandidaten ins Rennen schicken könnte. Wer denkt dann nicht an die gerade zu Ende gegangene mediale Posse um den vermeintlichen SPD-Kanzlerkandidaten Boris Pistorius? Das bezieht sich aber nicht auf Olaf Scholz, sondern auf die Kandidatur von Angela Merkel im Wahljahr 2009.
Sie war vier Jahre vorher mit mehr Glück als Verstand erstmals in das Amt des Bundeskanzlers gelangt. Den Wahlkampf gegen Gerhard Schröder hatte Merkel 2005 gnadenlos vor die Wand gefahren, trotz der fast einhelligen Unterstützung der Medien. Vier Jahre später waren zwar für Forscher unter dem Mikroskop noch Restbestände der alten CDU zu finden, aber ihre erneute Kandidatur war nie gefährdet. Ihr Profil war nach dem profilierten Wahlkampf vier Jahre vorher Profillosigkeit, die SPD scheiterte 2009 dagegen am Bruch zweier zentraler Wahlkampfversprechen von 2005: Die Mehrwertsteuer nicht anzuheben, es wurden in der damals noch großen Koalition statt zwei sogar drei Prozentpunkte, und vor allem an der Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre.
Merkels Profillosigkeit setzte die SPD das Charisma ihres Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier entgegen. Schließlich stand der damalige Bundesaußenminister lange Zeit an der Spitze der politischen Beliebtheitsskala. Sein Charisma entsprach dem eines Beamten aus dem Einwohnermeldeamt von Osnabrück, wie sich im Wahlkampf nach seiner Nominierung zeigte. So kam es wie es kommen musste: Die SPD verlor mehr als 11 Prozentpunkte. Gewinner waren FDP und Linke, die Grünen durften auch profitieren. Kanzlerin Merkel hatte zwar das zweitschlechte Unionsergebnis von 2005 noch einmal unterboten, konnte aber mit der FDP eine Koalition bilden.
„Männer machen Geschichte“
Wie gelang es einer Bundeskanzlerin und CDU-Parteivorsitzenden nach zwei solchen Wahlergebnissen nicht nur acht Jahre, sondern sogar sechzehn Jahre im Amt zu bleiben? Der Satz über einen amtierenden Kanzler, den man nicht im Wahlkampf in die Wüste schickt, ist in „Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit“ zu finden. Klaus-Rüdiger Mai nennt es eine „kritische Biografie“, woran es keinen Zweifel geben kann.
Es geht um das, was der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke (umstritten) einmal in dem Diktum zusammenfasste: „Männer machen Geschichte“. Merkel war tatsächlich seit 2000 der einzige Mann in den Unionsparteien, wenigstens was ihr machiavellistisches Geschick betraf. Welche Rolle spielten ihre Geschlechtszugehörigkeit und ihre ostdeutsche Herkunft? Welcher Taktiken aus dem Arsenal der Machtpolitik bediente sie sich, um diese nicht nur zu erringen, sondern auch zu behalten? Darum geht es in dem Buch von Klaus-Rüdiger Mai.
Zeitgleich erscheinen die Memoiren der früheren Kanzlerin, die unter dem Titel „Freiheit“ am 26. November in den Buchhandel gekommen sind. Sie sind Teil des Weihnachtsgeschäfts, wo gerne repräsentative Bücher an Menschen verschenkt werden, die schon alles haben. Meistens werden sie nicht gelesen, weshalb ein dekorativer Einband unverzichtbar ist. Aber selbst selten gelesene Memoiren gelten als gelungen, wenn sie die Erinnerung an den Menschen prägen, der sie geschrieben hat. In dem Fall sind es sogar zwei: Neben der Kanzlerin wird ihre engste Vertraute Beate Baumann als Autorin genannt, eine seltene Ehre für die Mitarbeiterin einer bedeutenden Politikerin. Baumann ist wie Scholz und Pistorius in Osnabrück geboren, das nur nebenbei. Diese Co-Autorenschaft weist auf eine symbiotische Beziehung der beiden Frauen hin, die seit 1992 zusammenarbeiten.
Mai beschreibt anschaulich die Ausgangsposition der in Bonn von Helmut Kohl nach der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 berufenen Bundesministerin für Frauen und Jugend. Sie hatte in der kurzen Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung eine erstaunliche Karriere gemacht. Merkel ging zum Demokratischen Aufbruch als die Unumkehrbarkeit des Mauerfalls vom 9. November feststand, wurde Pressesprecherin, wechselte nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 in das Amt der stellvertretenden Pressesprecherin der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maiziere, um nach dem 3. Oktober 1990 als Ministerialrätin im Bundespresseamt ein auch für Westdeutsche gutes Auskommen zu finden.
Sie bekam in Mecklenburg-Vorpommern einen Wahlkreis als CDU-Kandidatin, wurde in den Bundestag gewählt und sofort Bundesministerin. Während Millionen Ostdeutsche die Wiedervereinigung als Absturz und Zusammenbruch ihrer Lebenswelt erfuhren, war Merkel schon mit Mitte dreißig und am Anfang ihrer Karriere dort, wo andere erst an deren Ende landen.
Auffallen, ohne aufzufallen
Wie hatte Merkel das geschafft, was die meisten nicht schaffen, ob als West- oder Ostdeutsche? Ministerin wurde „Kohls Mädchen“, wie sie damals gerne genannt wurde, aus drei Gründen: Sie war jung, eine Frau und aus Ostdeutschland. Diese Übererfüllung des Plansolls namens Quote war ein Angebot, das Kohl unwiderstehlich finden musste. Nur wie ist sie dahin gekommen?
Mai beschreibt das banale Erfolgsgeheimnis. Sie ist ihm aufgefallen, ohne sonst weiter aufzufallen. Im Gegensatz zu den anderen Ostdeutschen in der Politik hatte sie nichts von einer Ostdeutschen.
Der 1963 geborene Mai sieht auf Merkel mit dem Blick des in der DDR sozialisierten Intellektuellen, der sich seine Freiheit im Gegensatz zur späteren Kanzlerin erkämpft hat, nicht zuletzt im Denken. Merkel war in der DDR keine Außenseiterin, ihr Vater wusste beide Welten im geteilten Deutschland zu nutzen. Einerseits war er ein evangelischer Theologe, der gute Beziehungen zur westdeutschen evangelischen Kirche hatte. Andererseits ein Protagonist der Kirche im Sozialismus, die der DDR positiv gegenüberstand. Seine Tochter war keine Außenseiterin, sie war mittendrin in der ostdeutschen Gesellschaft, aber lief „nur mit Westklamotten herum“, wie es Mai ausdrückt.
Mai erklärt diese erstaunliche Karriere gerade nicht mit einer spezifischen ostdeutschen Biografie, wie es viele Westdeutsche gerne tun, weil sei keine bessere Erklärung haben, so schreibt er einmal. Er beginnt nicht mit Kindheit und Jugend, sondern mit der Kanzlerin im Ausnahmezustand namens Pandemie. In seinem Buch gehe es nicht so sehr um die Frage, was Merkel zu ihrer außergewöhnlichen Karriere befähigte, sondern wieso Angela Merkel in Deutschland diese Karriere machen konnte.
Damit verstellt er sich aber den ansonsten messerscharfen Blick auf eine Machiavellistin, die auf leisen Sohlen kam, ähnlich wie einst der SED-Chefideologe Kurt Hager die Entspannungspolitik beschrieb: „Aggression auf Filzlatschen“. Mai beschreibt sie als eine Frau, die sich vor allem nützlich machte, etwa, als sie sich nach der Gründung des Demokratischen Aufbruchs um den Anschluss von PCs kümmerte. In der DDR war sie in den gesellschaftlichen Organisationen des SED-Staates aktiver als sie es hätte sein müssen.
Merkel machte Abitur, studierte Physik in Leipzig, promovierte länger als üblich an der Akademie der Wissenschaften, durfte sogar als junge Frau zur Hochzeit einer Cousine nach Hamburg reisen. Jeder wusste, wie schwer solche Reisegenehmigungen zu bekommen waren. Sie genoss Privilegien, aber ließ sich von der Macht nicht vereinnahmen, so könnte man das zusammenfassen. Für die Gerüchte um ihre Stasi-Akten interessiert sich Mai kaum, für ihn stellt ihre Lebensgeschichte „Fragen, die sich nicht beantworten lassen.“ Merkels Erzählungen stimmten „an wichtigen Punkten nur sehr schwer mit der DDR-Realität überein.“
Klimaanpassung wie bei Merkel
Es kann sich niemand vorstellen, Merkel hätte leidenschaftlich über einen anderen, demokratischen Sozialismus diskutiert. Die DDR war nun einmal da, so der Eindruck. Sie hielt sich in Debatten zurück, so schildert es Mai, aber sie hatte eine Fähigkeit vom Ende her zu denken. Allerdings als persönliche Risikominimierung, falls sich der Wind doch noch drehen sollte.
Merkel plante da schon den Weg in das westdeutsche Bundesdorf namens Bonn. Während dort die meisten Ostdeutschen wie Fremdkörper wirkten, bewies sie ihre in der DDR erlernte Fähigkeit sich an jedes Klima schnell anzupassen. Sie machte wenig falsch, aber verlor schnell das Odium ihrer Herkunft. In den kommenden Jahren baute die Außenseiterin im Seilschaften-Gestrüpp der CDU ihr eigenes Netzwerk auf. Dabei nutzte sie ihr Geschlecht in einer von Männern dominierten Partei.
Der Feminismus begann sein linkes Ghetto zu verlassen, nicht zuletzt bahnten ihm Frauen wie Rita Süßmuth den Weg. Dort setzte Merkel zusammen mit ihrer begabten Pressesprecherin Eva Christiansen an. Frauen begannen in den Medien Fuß zu fassen, sie waren nicht mehr seltene Ausnahmen. Mai schildert die Attraktivität Merkels für junge Journalistinnen, die für ihren Aufstieg unverzichtbar wurden. Sie bekam in der alten Kohl-CDU als Umweltministerin zwischen 1994 und 1998 das Image der Fortschrittlichkeit. Zur gleichen Zeit meinten noch die jungen Greise vom legendären Andenpakt, die CDU nach alter Väter Sitte unter sich aufteilen zu können.
Mit Marx Merkel verstehen
Bei Mai erfährt der Leser etwas über die Qualitäten der Kanzlerin: Organisationstalent und Instinkt für verändernde Machtkonstellationen. So wurde die immer unterschätzte Merkel nach der Wahlniederlage von 1998 CDU-Generalsekretärin, um anschließend den Parteivorsitzenden Wolfgang Schäuble und den Ehrenvorsitzenden Helmut Kohl ins Abseits zu schieben. Sie wurde über Nacht die alternativlose CDU-Vorsitzende. An ihren rhetorischen Fähigkeiten lag es nicht. Mai seziert ihren legendär gewordenen Artikel in der FAZ vom 20.12.1999, wo sie den überlebensgroßen Kohl auf Lebensgröße stutzte. Sie besäße „wie alle großen Populisten die Gabe, Schlichtheit als Wahrheit zu verkaufen.“
Einem Mann hätte man ihre von Allgemeinplätzen triefende Rhetorik nicht durchgehen lassen, Kohls Redekünste waren eine Fundgrube für Satiriker. Aber Merkel begründete damit ihren über den Parteien thronenden Regierungsstil, den Mai treffend unter Hinweis auf die Bonapartismus-Analyse von Karl Marx beschreibt:
„So wie sich Louis Bonaparte vom Präsidenten erhob und zum Kaiser krönen ließ, so unternahm Angela Merkel alles, sich mindestens in ihrer zweiten Legislaturperiode von der Kanzlerin einer Partei zur Präsidentin aller Deutschen zu erheben, allerdings mit der vollen Macht der Exekutivmittel der Bundeskanzlerin.“
Die Grundlage war intellektuelles Desinteresse an politischen Inhalten. Versteht man Mai richtig, übernahm sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit die programmatischen Überzeugungen der CDU, wie sie auch die der DDR akzeptiert hatte. Sie waren nun einmal da, und Merkel ging es darum, ihre nach 2005 eroberte Kanzlerschaft zu sichern.
Allerdings traf sie auf eine CDU, die dem Machterhalt ideologische Grundsatzdebatten schon immer unterordnete. Da war kein Widerstand zu erwarten, solange sie die Regierungsfähigkeit der Union garantierte. Hier unterschätzt Mai den strategischen Weitblick der Kanzlerin, denn sie hatte es mit mehr zu tun als der Unterwerfung unter den von vielen Konservativen bis heute bemäkelten Zeitgeist.
Schröders Wahlsieg von 1998 hatte den alten CDU-Staat Adenauers und Kohls zu Grabe getragen. Westdeutschland hatte sich gravierend verändert, gesellschaftspolitische und kulturelle Liberalität waren mit den Babyboomern zum Mainstream geworden. Kluge CDU-Strategen hatten das früh erkannt, die Großstädte waren für die Union längst verloren gegangen. Sie hatten nur bis Merkel kein Mittel gefunden, um daran etwas zu ändern. Erst mit ihr gelang es der CDU den Sozialdemokraten ihre Mehrheit bei den Babyboomern streitig zu machen. Wenn eine feministische Ikone wie Alice Schwarzer in das Merkel-Lager wechselt, muss viel passiert sein. Mit den jungen Greisen des Andenpaktes von Christian Wulf bis Roland Koch wäre das nicht gelungen.
Das wurde belohnt: Die gefürchtete AKW-Debatte als Wahlkampfthema fand nicht statt, die CDU erzielte mit 41,5 Prozentpunkten einen in der Höhe sensationellen Wahlsieg. Zwei Jahre später begann der Absturz. Die Schließung der Grenzen hätte sie gegen die Kritik der liberalen Medien durchkämpfen müssen, die längst ihre größten Unterstützer geworden waren. Dazu kam ihre Selbstzufriedenheit, die sie blind machte für den heraufziehenden Sturm namens Flüchtlingskrise. Schließlich hatte sie seit 2014 mit Beginn der Ukrainekrise eine Schlüsselrolle in der Weltpolitik bekommen.
Old-Girls-Netzwerke mit männlichen Einsprengseln
Merkels Kanzlerschaft stand ökonomisch unter einem guten Stern. Das Land hatte die Krisen der 1990er Jahre bis 2005 verarbeitet, die Exportwirtschaft brummte, Deutschland war ein Kraftpaket, das mehr Geld hatte als es ausgeben konnte. Die Wähler konnten sich Merkel leisten, die mit dem Image der Bescheidenheit und Überparteilichkeit auftrat. Ihre Old-Girls-Netzwerke mit männlichen Einsprengseln trafen die Sichtweisen vieler Wählerinnen. Die Frauen waren die wichtigste Wählergruppe Adenauers – und Merkels. So ändern sich die Zeiten – und deren Bewusstsein.
Politisch erzählt Mai Merkels Regierungszeit als eine Verfallsgeschichte, was aber zu sehr vom aktuellen Zeitgeist geprägt ist. Mit dem Pragmatismus, den Merkel 2008 in der Finanzkrise bewies, und dem machtpolitischen Opportunismus von 2011 hätte sie wahrscheinlich 2021 die Energiewende abgewickelt und sechs Atomkraftwerke weiterlaufen lassen. Alle hätten ihr zu Füßen gelegen, sogar die Grünen, wenn es denn endlich zur ersehnten schwarz-grünen Liaison gekommen wäre. Das ist ein Gedanke über Merkel, den man haben kann, wenn man sie kennt. Dazu ist es nicht gekommen, so dass sie jetzt dazu verurteilt ist, ihre ohne Überzeugung getroffenen Entscheidungen rechtfertigen zu müssen. Das kann man Schicksal nennen.
Merkels Buch wird sich unter vielen Weihnachtsbäumen finden, bei vielen schon heute als Erinnerung an die guten alten Zeiten. Wer es genauer wissen will, sollte Klaus-Rüdiger Mais „Angela Merkel“ dazulegen. Ein kleiner Hinweis für die zweite Auflage sei erlaubt: Gerhard Schröder wollte 2005 nicht über das konstruktive Misstrauensvotum zu Neuwahlen kommen, sondern über die Vertrauensfrage. Das will Olaf Scholz heute auch. Friedrich Merz verzichtet dagegen auf ein konstruktives Misstrauensvotum, um als Bundeskanzler in den Wahlkampf zu ziehen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Klaus-Rüdiger Mai, Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit. Eine kritische Biografie. Europa-Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, 26,00 €.