Bisweilen äußert sich der Zeitgeist in verblüffenden Buchveröffentlichungen. Soeben erschien eine Neuausgabe von René Guénons „Die Krise der modernen Welt“ (Matthes & Seitz Berlin) aus dem Jahre 1927 sowie der autobiographische Bekenntnisroman einer Galionsfigur des Zeitgeist-Journalismus der achtziger und neunziger Jahre, mithin der Popliteratur: „Mann auf der Couch“ von Michael Hopp (Textem).
Während der Franzose aufs Fröhlichste Verfall und Verirrung der Moderne geißelt, belegt die Erzählung des einstigen Gründungsredakteurs des Magazins „Wiener“ Guénons Phillipika schon damit, dass seine Hauptfigur 20 Jahre lang auf einer Therapie-Couch zubringt. Die Selbstverständlichkeit des Gestörtseins gehört zum selten hinterfragten Inventar unserer Gegenwart.
Gegen diese politisch korrekt bepinselte Dekadenz bringt Cora Stephan etwas in Stellung, was ein Rollkommando der Moderne, die Achtundsechziger-Bewegung, in ihrem Enttabuisierungsfuror bis heute tabuisiert hat wie die Tradition, die Heimat oder den Glauben: Es ist die Normalität.
Über so etwas wie Normalität zu schreiben, gleicht einem intellektuellen Husarenstück, denn die Relativierungsartistik der Dekonstruktivisten hat im 20. Jahrhundert aus der Normalität ein ebenso windzerrissenes Wolkengebilde imaginiert wie aus der Wahrheit. Nichts ist letztgültig wahr und nichts normal, so will uns der akademische Diskurs seit gut 50 Jahren suggerieren, alles versinkt am Ende im Morast von Subjektivität. Gleichwohl regen sich auch in der Philosophie Gegenstimmen. Unlängst notierte Norbert Bolz ganz zeitgemäß bei Twitter: „Das Normale ist zur Zeit das interessanteste philosophische Thema.“
Das Buch erscheint ein Jahr nach Beginn der Corona-Krise, die unser Leben, wie wir es kennen, auf den Kopf gestellt hat. Zwei Osterfeste und ein Weihnachten konnten wir nicht in gewohnter Weise feiern, das kulturelle, ja das öffentliche Leben überhaupt ist zum Erliegen gebracht, wer Freunde oder Verwandte treffen will, muss subversive Balanceakte vollziehen. Ganze Wirtschaftszweige sterben in monatelangen Shutdowns dahin, daheim leiden Familien im Lockdown-Modus, Schulen und Kindergärten sind zu Hochsicherheitszonen gerüstet, in denen Heranwachsenden das Lachen vergeht. Wir leben im vollklimatisierten Ausnahmezustand, der Gesundheit zuliebe.
Doch nicht allein solchen, mitunter vernunftentrückten, Gegenwartsbedingungen ist das aktuelle Bedürfnis nach Normalsein geschuldet. Cora Stephan beschreibt in fünf Kapiteln ein Sittengemälde von Verfall des Gewohnten im Umgang miteinander, im Scharmützel zwischen den Geschlechtern, im gebrochenen Verhältnis zu unseren Heimat-Empfindungen, in der gesellschaftlichen Gespaltenheit gegenüber Zuwanderern und Multikulturalismus sowie in der verbreiteten Neigung, Moral als Waffe einzusetzen. Dabei sind die 240 Buchseiten so kompakt und faktengeladen, dass daraus vier weitere Sachbücher destilliert werden könnten.
Allein die Abteilung „Krieg der Geschlechter“ birgt den Aufriss einer Sexologie, die einen Gutteil sexualkundlicher Gewissheiten seit den erotischen Reformbemühungen in den sechziger Jahren und der Einrichtung feministischer Kampfzonen in den siebziger Jahren revidieren könnte. Mit dem Bonmot „Heterosexuell, doch oft zu müde dafür“ räumt Stephan in einem Nebensatz den aktivistischen Stress ab, den uns die sexuelle Revolution und die Pornoindustrie durch sublimen erotischen Leistungsanspruch bereitet.
In ihrem Großessay gelingt Stephan das Porträt eines Landes, das seinen Kompass verloren hat. Nach 16 Jahren Kanzlerschaft Merkel ist Deutschland ein innerlich zerrissenes Land, dass seine verlorene Selbstachtung in servilem Moralismus zu kompensieren sucht. Anstatt die sozialen Verwerfungen im Landesinneren zu beseitigen, verschleiern scheinbar weltoffene Eliten den entstehenden Neofeudalismus mit propagandistischer Fernstenliebe gegenüber Migranten. „Die wahren Spießer sind die saturierten Linken“, sagt Stephan, „die sich noch immer im Widerstand glauben, obwohl sie längst die Diskurshoheit erobert haben, die sie ,moralisch totalitär‘ verteidigen.“
Der linke Mainstream, darauf läuft Stephans Argumentation hinaus, macht unser Land kälter, weil er uns aus kulturellen Geborgenheiten katapultiert: „Zu den negativen Folgen von massiver Einwanderung gehören Konkurrenz um günstigen Wohnraum und Sozialleistungen, die Gefahr von Lohndumping und zunehmende Gewalt, auch konkurrierender Migrantengruppen, also: nachlassende Homogenität und Vertrautheit.“ Das Irrwitzige dieser Entwicklung ist, dass die Probleme auf die Agenda linker Politik gehören. Stattdessen werden sie von Politikern erst geschaffen, die sich für links halten. Linke und Linksliberale sind das gesellschaftliche Rollkommando des neoliberalen Kapitalismus.
Aber gerade deshalb plädiert Cora Stephan für eine Rückbesinnung auf unsere Herkunft und die Werte, mit denen wir aufwuchsen und die uns prägten. Der Fetisch des Neuen, der keine Grundlagen kennt, ist selber altmodisch geworden, weil ausgelaugt und in Depressionen ergraut. Überlieferte Bräuche, Gewohnheiten und Rituale werden zunehmend wiedererobert, weil sie menschliches Maß kennen und mit unseren Emotionen korrespondieren. Dies ist das Normale. Manchmal langweilig, aber doch vertraut und voller Geborgenheit.
„Normal ist alles, was Orientierung schafft“, so Stephan. Wer normal kann, ist innerlich stabiler. Das ist so, wie bei glaubenden Menschen, die laut Untersuchungen weniger depressiv sein sollen. Und wer normal kann, weiß auch viel besser, wie unkonventionell sein kann. In diesem Wechselspiel lebt es sich allemal heiterer als im ewig progressiven Einerlei.
Dieser Beitrag von Holger Fuß erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Cora Stephan, Lob des Normalen. Vom Glück des Bewährten. ETE im FBV, 240 Seiten, 18,00 €.