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No society: Das neue Buch von Christophe Guilluy

Guilluy: Die einst breite Mittelschicht schrumpft. Das begann bei den Industriearbeitern, deren Lebensverhältnisse prekär wurden, jetzt hat sie Landwirte, Angestellte, öffentlich Beschäftigte und Rentner in ländlichen Gebieten sowie kleinen und mittleren Städten erreicht, im peripheren Frankreich an den Rändern der urbanen Ballungsräume.

XAVIER LEOTY/AFP/Getty Images

Christophe Guilluy ist manchen Lesern von TE schon bekannt. Sein neuestes Buch No society nimmt ältere Thesen wieder auf, verschärft sie aber auch. Guilluy ist in Frankreich kein unumstrittener Autor. Ebenso wie in Deutschland, Großbritannien, oder in den USA legen die eher linksliberalen oder linken Medien, aber auch große Teile der politischen Klasse Wert auf die Feststellung, dass der Aufstieg der sogenannten Rechtspopulisten, egal ob es sich nun um die Anhänger von Trump, um die Brexiteers in England, um den jetzt umbenannten Front National in Frankreich oder um die AfD in Deutschland handelt, eigentlich nur eine Art Betriebsunfall ist. Eine vermeintlich von Demagogen genährte Hysterie, über das Internet verbreitete Fake News, oder gar der Einfluss Russlands seien für dieses Phänomen verantwortlich; allenfalls ist man bereit einzuräumen, dass die Angst vor sozialem Abstieg oder Sparmaßnahmen im Bereich des Sozialstaates „populistische” Parteien jeder Art begünstige.

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Guilluy verwirft diese verharmlosenden Analysen, und wird gerade deshalb in Frankreich von der politischen Linken scharf angegriffen. Er konstatiert eine Auflösung der bisherigen gesellschaftlichen Strukturen. Während in den demokratischen Gesellschaften des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg es die Werte der Mittelschicht, und eben auch der unteren Mittelschicht, waren, die für die gesamte Gesellschaft verbindliche Orientierungspunkte boten, befinde sich jetzt diese Schicht im Niedergang. Zugleich würde ein neues kosmopolitisches und „cooles“ linksliberales Bürgertum diese Schicht und ihre Werte offen verachten und dem Spott preisgeben. Das ist eine Analyse, die recht plausibel wirkt, wenn man auf den Gegensatz zwischen den liberalen Eliten an der Ost- und Westküste und ihren Konflikt mit der weißen unteren Mittelschicht in den USA blickt, aber, wie Guilluy zeigen kann, auch auf Frankreich passt.

Für die Schicht, die in westlichen Demokratien einmal den Kern der Wählerschaft der großen demokratischen Parteien stellte, ist das Problem ein doppeltes. Zum einen gerät sie in Folge der Globalisierung, vor der der nationale Wohlfahrtsstaat sie nicht mehr schützen kann oder nicht mehr schützen will, wirtschaftlich unter Druck. Das gilt selbst für einstweilen noch relativ florierende Volkswirtschaften wie Deutschland, wie man an der wachsenden Altersarmut, die jetzt auch bereits Teile der Mittelschicht trifft, sehen kann.

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Dazu kommt aber ein wachsender Kulturkonflikt: Die kosmopolitisch, postnational denkenden Eliten haben der eigenen unteren Mittelschicht den Kampf angesagt; man wirft ihren Angehörigen nicht nur Rassismus und Chauvinismus vor, weil sie eher immigrationskritisch sind und am Nationalstaat festhalten wollen, man versucht sie auch durch die Regeln der politischen Korrektheit buchstäblich sprachlos zu machen. Denn es ist natürlich die Alltagssprache der weniger Gebildeten, die sich besonders schwer an das Ideal einer geschlechtergerechten oder gegenüber Minderheiten durchweg sensiblen Sprache anpassen lässt. Faktisch bleibt den Männern und Frauen, die man im weitesten Sinne des Wortes zum „Kleinbürgertum“ rechnen würde, nicht anderes übrig, als sich gar nicht mehr öffentlich zu äußern, wenn sie vermeiden wollen, zum Ziel sprachpolizeilicher Maßnahmen zu werden.
Der Niedergang der Mittelschicht und die scheiternde Integration von Immigranten

Diese Dämonisierung der alten, einheimischen Mittelschicht hat aber, und das ist ein wichtiges Argument Guilluys, Auswirkungen auch auf die zahlreichen Immigranten, die heute nach Europa streben. Früher haben sich Immigranten assimiliert, aber diese Assimilation funktionierte nur, weil es für Einwanderer im Alltag sichtbare Vorbilder gab und das waren eben die Angehörigen der unteren Mittelschicht. Die Elite war für sie in der ersten und oft auch in der zweiten Generation unerreichbar, aber sich so zu verhalten wie der einheimische Facharbeiter, dem man in der Fabrik begegnete oder der Bahnbeamte, den man als Kollegen konnte, das war erreichbar, und wenn man sich Deutschland ansieht, dann hat die Integration vieler Deutschtürken seit den 1960er Jahren genauso auch funktioniert. Heute aber ist dieses Modell obsolet geworden, denn die untere Mittelschicht ist zu einer Gruppe von Verlierern geworden, so argumentiert Guilluy für Frankreich, aber sein Argument lässt sich in etwas abgeschwächter Form wohl auch auf Deutschland übertragen.

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Warum sind heute die „Kleinbürger“, wenn man sie so nennen will, Verlierer? Zum einen partizipieren sie nicht mehr an den Wohlstandsgewinnen der Wirtschaft, soweit es solche Gewinne überhaupt noch gibt, zum Teil verarmen sie sogar, zum anderen aber vertreten sie jene kulturellen Werte, über die man sich ungestraft lustig machen, die man ungestraft verächtlich machen kann, was etwa gegenüber ethnischen oder religiösen Minderheiten nicht möglich ist. Wer hat schon Lust sich in seinem Verhalten an eine Schicht anzupassen, die auf dem Weg nach unten ist und von den Eliten so offensichtlich verachtet wird? Dann hält man doch lieber an der eigenen traditionellen Kultur fest und bezieht daraus ein gewisses Selbstbewusstsein.

Sicherlich spielen bei der fehlenden Assimilation auch andere, etwa religiöse Faktoren eine Rolle, oder auch die leichtere Verbindung mit der ursprünglichen Heimat über Internet und Satellitenfernsehen, dennoch trifft Guilluy hier einen wichtigen Punkt. Er verweist zurecht darauf, dass die Berufung der Eliten auf ein „republikanisches“ Integrationsmodell in Frankreich wirkungslos ist, weil die Schicht, die dieses republikanische Modell vorgelebt hat, die untere Mittelschicht, im Niedergang ist und überdies noch offen von den Eliten verachtet werde.

Eine Gesellschaft löst sich auf

Sein Urteil über die kosmopolitischen Eliten ist ein sehr scharfes. Nie zuvor habe eine Klasse, die die Medien, die Universitäten und die Politik beherrsche, die eigene Bevölkerung, oder doch zumindest große Teile derselben, so sehr dämonisiert und beleidigt, eben als „Pack“, als „deplorables“ oder in ähnlicher Form wie das heutige linksliberale Bürgertum. Das mag etwas weit gehen oder jedenfalls in dieser Form bestenfalls für die USA und Frankreich zutreffen, aber Guilluy mag dennoch damit recht haben, dass die neue Elite sich sozial und kulturell „einbunkert“ und sich zugleich den Zwängen, die ihr der Nationalstaat einstweilen noch auferlegt – auch im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung – versucht zu entziehen, indem sie sich mit transnationalen Institutionen wie der EU oder der Weltgesellschaft an sich identifiziere. Die soziale Frage, eigentlich durchaus aktuell, wird dabei bei Seite geschoben, indem man statt dessen den grundsätzlichen Opferstatus von Immigranten betont.

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Damit wird die untere Mittelschicht, zu der in Wirklichkeit mittlerweile auch viele Familien mit Migrationshintergrund gehören, ethnisiert und auf die „petits blancs“, die weißen Kleinbürger, eingeengt, deren Interessen nicht wirklich legitim seien. Durch das Verschwinden gesellschaftlicher Kohärenz – es gibt keine Schicht mehr, die ein dominantes kulturelles Modell in der Gesellschaft verkörpert –  nehmen freilich die ethnischen Konflikte ohnehin zu. Keine Gruppe will in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld zu einer bloßen Minderheit werden. Das gilt in Frankreich mittlerweile für das neu entstandene Kleinbürgertum nordafrikanischer Herkunft, das sich von Zuwanderern aus weiter südlich gelegenen Regionen Afrikas bedrängt sieht, genauso wie für einheimische Franzosen, die eigentlich auf Sozialwohnungen angewiesen sind, aber diese meiden, weil sie dort unter den vielen Immigranten nur eine geduldete Minderheit wären.

Wie sieht die Zukunft einer derartig zerfallenden Gesellschaft aus? Guilluy ist hier überraschenderweise nicht gar so pessimistisch, wie man meinen sollte, denn er ist davon überzeugt, dass auf die Dauer die dominierenden Eliten sich dem Druck von unten, dem Druck der „classes populaires“ (der ärmeren Schichten) nicht entziehen können, zumal natürlich in Wirklichkeit die Immigranten den Werthorizont der wohlhabenden bürgerlichen Eliten keineswegs teilen. Man müsse daher die Eliten, die sich ihrem Land entfremdet hätten, in den Nationalstaat re-integrieren. Ob das eine realistische Vision ist, sei dahingestellt, denn was wir in vielen westlichen Ländern beobachten können, ist ja eher eine tiefe Spaltung der Gesellschaft, die einen Dialog über die entstandenen Gräben kaum noch möglich erscheinen lässt. Andererseits leben wir in sehr schnelllebigen Zeiten, in denen jede Prognose grundsätzlich unsicher bleiben muss. Das mag in diesem Fall ausnahmsweise einmal ein Trost sein.

Christophe Guilluy, No society. La fin de la classe moyenne occidentale, Paris 2018, 242 S.

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