Tichys Einblick
Risikofallen und ihre Opfer

Negative Emotionen beeinflussen die Einschätzung von Risiken

Nicht nur bei der Ausstattung der Gesundheitsämter haben sich in der Corona-Krise systemische Fehler gezeigt. Auch beim Umgang mit Informationen haben sowohl die Politik als auch die Medien versagt. So sind sachliche Diskussionen fast unmöglich geworden. Eine Analyse

Covid-19 ist nicht nur eine gefährliche Krankheit, sondern hat auch gefährliche Defizite von Exekutive und Legislative beim Umgang mit Risiken aufgedeckt. Dabei handelt es sich weniger um einzelne Entscheidungen wie den Kauf von Impfstoffen. Nachher ist man immer klüger, und bei Risiken gibt es keine Sicherheiten. Wirklich problematisch sind vermeidbare systemische Fehler. Dazu gehören bekannterweise die technische Ausstattung der Gesundheitsämter, das Nebeneinander der Datenübermittlung durch Fax und E-Mail und der Verzicht auf bundesweit einheitliche Richtlinien für die Anschaffung von Geräten. Das betrifft in ähnlicher Weise auch Schulen, die aus Angst vor Fehlentscheidungen Milliarden an Investitionsmitteln nicht abrufen.

Auch der Umgang mit Informationen war fehlerbehaftet. So verzichtete die ARD in der „Tagesschau“ über Wochen auf präzise Informationen bezüglich neuer Vorschriften zum Schutz vor Corona und verwies lediglich auf ein anschließend gesendetes „ARD extra“. Dort erhielten die Zuschauer dann zwar die in der „Tagesschau“ fehlenden Handreichungen, garniert wurden diese aber mit erschreckenden Aufnahmen aus Intensivstationen, bei denen man hinter Geräten und Schläuchen Körperteile eines Menschen erkennen konnte. Dazu passte der Sprachstil der Beiträge.

Laut einer vergleichenden Analyse von 33 Medien über drei Monate durch Mainzer und Münchner Kommunikationsforscher war der Sprachstil in keiner Quelle so emotional wie in „ARD extra“. Erschreckende Bilder rufen negative Emotionen hervor – Angst, Wut, Hilflosigkeit. Ähnliche Effekte haben Horrormeldungen in Zeitungen und Zeitschriften über tödliche Nebenwirkungen von Impfungen, deren relative Häufigkeit nicht genannt wird.

Wer schweigt, stimmt zu
Corona: Die groteske Inszenierung einer traurigen und tragischen Realität
Eine derart aufgeladene Berichterstattung kann eine Wirkungskette in Gang setzen: Negative Emotionen beeinflussen die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit von Risiken: Menschen, die Bilder von negativen Ereignissen gesehen oder erschreckende Berichte gelesen haben, halten Risiken durch Krankheiten, Unfälle und Verbrechen aller Art für signifikant wahrscheinlicher als Menschen, die neutrale oder positive Berichte über die gleichen Risiken gesehen oder gelesen haben. Das wirkt sich auf ihre Mediennutzung aus: Je wahrscheinlicher ihnen ein Risiko erscheint, desto eher suchen sie nach weiteren Berichten dazu.

Mediennutzung im Teufelskreis

Beispiele für diese Prozesse sind, neben Corona, Fukushima, Terroranschläge und Finanzkrisen. Die zusätzlichen Berichte können die negativen Emotionen verstärken und zu einem Teufelskreis führen. Dann werden sachliche Diskussionen nahezu unmöglich, weil die Betroffenen nur noch Informationen glauben, die ihre Emotionen unterfüttern, und alle anderen für indiskutabel halten. Besonders anfällig dafür sind Menschen, die schon aufgrund ihrer emotional getönten Meinungen einzelne Risiken leidenschaftlich ablehnen, darunter Kernenergie, Impfungen, Dieselabgase, Pestizide. Im Internet verdichten sich heterogene Meinungen in der Gesellschaft zu homogenen Lagern.

Deshalb ist der erwähnte Mechanismus zu einer gesellschaftlich relevanten Risikofalle geworden: Sie verschafft gut vernetzten und organisationsfähigen Minderheiten eine Meinungsmacht, die weit über ihre gesellschaftliche Bedeutung hinausgeht und im Extremfall demokratisch legitimierte Entscheidungen blockiert.

Totschweigen statt informieren

Im Frühjahr 2021 meldeten zahlreiche Medien, dass der Anteil der Migranten unter den Corona-Patienten auf Intensivstationen zwischen 30 und 60 Prozent liege. Außerdem berichteten sie, dass in einigen Stadtteilen von Großstädten zwei Drittel der Infizierten einen Migrationshintergrund hatten.

Beides war Insidern lange bekannt, allerdings hielten Mitarbeiter der Krankenhäuser und Gesundheitsämter sowie Politiker die Daten unter Verschluss. Zwar hatten zahlreiche Medien auch vorher einzelne Beiträge über den Zusammenhang zwischen Lebensstandard und Infektionsrisiken veröffentlicht, erwähnten die Betroffenheit von Migranten aber allenfalls am Rande.

Das Thema wurde totgeschwiegen, bis es wegen der gegenläufigen Entwicklung sinkender Infektionszahlen und steigender Belastungen von Intensivstationen nicht mehr totgeschwiegen werden konnte. Warum wurde es bis dahin totgeschwiegen? Vermutlich hätten bei Teilen der Bevölkerung Berichte über die Belastungen der Intensivstationen durch Migranten und gezielte Impfungen von Migranten Empörung ausgelöst. Möglicherweise hätte es auch zu erneuten Konflikten über die Migrationspolitik Angela Merkels geführt. Das wollte niemand.

Interview
„Nur eine Minderheit äußert sich“
Eine Diskussion über gezielte Impfungen von Migranten hätte gezeigt, dass ihr Schutz auch Deutsche ohne Migrationshintergrund vor Infektionen schützt. Das hätte vor allem Beschäftigten mit niedrig bezahlten Tätigkeiten geholfen, die eng mit Migranten zusammenarbeiten und oft in den gleichen Häusern leben, sowie unzähligen Schulkindern in Grundschulen mit ihrem hohen Anteil an Migrantenkindern. Hätten die positiven Folgen, der Schutz vor schweren und manchmal tödlichen Erkrankungen, die negativen Folgen, nämlich eine Zunahme von Fremdenfeindlichkeit, überwogen? Die Antwort darauf hängt davon ab, was man für wichtiger hält, den Schutz vor Krankheit und Tod oder die Vermeidung von Fremdenfeindlichkeit. Die Antwort muss jeder für sich selbst finden.

Diskreditieren statt Diskutieren

Am 29. August 2020 protestierten in Berlin etwa 38000 Demonstranten gegen die Corona-Verordnungen der Bundesregierung, darunter auch einige Hundert Rechtsextreme und Reichsbürger. Vor dem Reichstag überrannten etwa 100 Demonstranten die Absperrungen und liefen johlend die Treppen zum Reichstag hinauf. Einige schwenkten Reichsflaggen.

Das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ berichtete darüber unter der Überschrift „Sorgen wurden wahr: Corona-Demo mit ,Sturm auf den Reichstag‘“. ARD und ZDF setzten in ihren Nachrichtensendungen ähnliche Schwerpunkte. Über die Masse der Demonstranten erfuhr man dagegen nur, dass sie Maskenpflicht und Abstandsregeln missachteten und aus einem breiten Spektrum von Subkulturen kamen. Auskunft über ihre mentale Heimat gab eine Onlinebefragung von Corona-Demonstranten in Deutschland und der Schweiz zwei Monate nach dem „Sturm auf den Reichstag“.

Bei der Bundestagswahl 2017, so eines der Ergebnisse der Forscher der Universität Bern, hatten 23 Prozent der Corona-Demonstranten die Grünen gewählt, 18 Prozent die Linke und 15 Prozent die AfD. Das spricht, auch wenn die Befragung sicher nicht repräsentativ war, nicht für den Verdacht einer rechtsradikalen Bedrohung. Dagegen sprechen die anthroposophischen beziehungsweise esoterischen Sichtweisen vieler Protestteilnehmer. Die Thesen „Unsere natürlichen Selbsterhaltungskräfte sind stark genug, um das Virus zu bekämpfen“ und „Mehr Spirituelles und ganzheitliches Denken würde der Gesellschaft guttun“, hielten 35 respektive 45 Prozent für „voll und ganz“ richtig. Zudem waren jeweils mehr als 25 Prozent der Meinung, die Thesen seien zumindest teilweise richtig.

Im Lauf der Zeit konzentrierten sich die Demos auf Proteste gegen Einschränkungen für Ungeimpfte und gegen eine Impfpflicht. Dazu liegen die Meinungen zu zwei Aspekten vor. Der These „Beim Impfen muss man das Für und Wider sorgfältig abwägen“ stimmten 88 Prozent „voll und ganz“ zu. Das spricht für einen reflektierten Umgang mit Risiken. Allerdings zeigen die Antworten auf die Frage, ob sie sich freiwillig mit einem Impfstoff impfen lassen würden, der „nachweislich keine nennenswerten Nebenwirkungen hat“, die Grenzen des Handlungsspielraumes der Befragten. Dazu waren nur zwei Prozent entschieden bereit, 68 Prozent lehnten es entschieden ab.

Medien befeuern Sympathisanten

Die Berichterstattung über die Demonstration am 29. August lieferte eine Blaupause für den Tenor der Darstellung kommender Proteste: Rechtsradikale bilden zwar nur eine Minderheit, aber sie sind das Problem. Die Folgerungen daraus waren politisch-publizistische Aufforderungen zur Distanz von Rechtsradikalen und Nazis und zur Solidarität mit der Mehrheit. Die Konzentration der Berichterstatter auf eine Gefahr durch Rechtsradikale verschaffte ihnen eine weit über ihre politische Bedeutung hinausgehende publizistische Bedeutung.

»Moralisiert den Diskurs. Wir sind die Guten«
»Das Framing der Linken« – nun statistisch belegt
Aus Sicht von Rechtsradikalen war das eine Belohnung für ihr Engagement. Zudem förderte sie den Zulauf von unentschlossenen Sympathisanten. Das deutete sich schon bei der Befragung der Demonstranten im Oktober/November 2020 an: 2017 hatten 15 Prozent die AfD gewählt, bei der nächsten Bundestagswahl wollten 27 Prozent dies tun.

Die meisten Demonstranten bemerken die Konzentration der Berichterstattung auf Rechtsradikale und die damit einhergehende Vernachlässigung ihrer eigenen Sichtweisen. Bei der Befragung im Oktober/November waren 85 Prozent entschieden der Meinung, dass „die Corona-Proteste […] in den etablierten Medien gezielt abgewertet und verzerrt“ werden. Diesen generellen Eindruck verstärkten einige Journalisten durch diskreditierende Begriffe wie „Covidioten“ oder „Schwurbler“. Das dürfte die Abwehrhaltung verstärkt und die geforderte Solidarität mit der Mehrheit zusätzlich blockiert haben.

Eine weitere Folgerung aus der Darstellung der Proteste waren die Aufforderungen zur Impfung. Sie bestanden vor allem aus Solidaritätsappellen sowie aus dem Vergleich der großen Risiken einer Corona-Erkrankung von Ungeimpften mit den erheblich geringeren Risiken von Geimpften. Dieses Vorgehen entwickelte sich aus zwei Gründen zu einer Risikofalle. Aufforderungen zur Solidarität und Verantwortung für Dritte beruhen auf dem unausgesprochenen Vorwurf, Impfskeptiker ließen sich aus einem Mangel an Solidarität und Verantwortung nicht impfen, obgleich die meisten eine Impfung wohl aus respektablen Gründen ablehnen. Diese Gründe muss man nicht teilen, aber ernst nehmen und respektieren.

Skeptiker moralisch im Unrecht?

Die erwähnten Aufforderungen setzen Impfskeptiker moralisch ins Unrecht und erscheinen ihnen als unberechtigte Zumutung. Der Vergleich der Krankheitsrisiken von Ungeimpften mit Geimpften geht an der Problemsicht der Impfgegner vorbei. Die meisten werden eine Impfung nicht deshalb ablehnen, weil sie ihr eigenes Risiko einer Corona-Erkrankung mit den Risiken von Geimpften vergleichen, sondern weil sie das Risiko einer Corona-Impfung für größer halten als das Risiko einer Corona-Erkrankung.

Sie vergleichen sich also nicht mit anderen, sondern konzentrieren sich auf die eigene Person. Darauf verweist ihre große Zustimmung zu der These, beim Impfen müsse „man das Für und Wider sorgfältig abwägen“. Um ihrer Problemsicht gerecht zu werden, müssen die Risiken einer Impfung differenziert nach mehr oder weniger schweren Nebenwirkungen offengelegt und verständlich kommuniziert werden. Die Risiken dieser Nebenwirkungen müssten dann mit den Risiken ähnlich schwerer Corona-Erkrankungen von Ungeimpften verglichen werden – so könnte man sich ein Urteil bilden. Auch damit wird man nicht alle Impfgegner überzeugen, aber ungefähr ein Drittel ist, wenn man die erwähnten Umfragedaten zugrunde legt, dafür ansprechbar.

Politiker entscheiden, Berater beraten. Problematisch wird es, wenn Politiker sich hinter wissenschaftlichen Beratern verstecken und dadurch den Eindruck erwecken, ihre Entscheidung sei eine zwingende Folge objektiver wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie ist aber keine alternativlose Folge einer Einsicht in die Notwendigkeit. Sie ist eine Folge der interessen- und einstellungsgeleiteten Abwägung verschiedener Ziele und Mittel.

Die Vermessung des Unbekannten
Expertenherrschaft in der Risikogesellschaft
Ein Beispiel: Am 19. Januar 2021 sollte erneut eine gemeinsame Sitzung von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidentenkonferenz stattfinden. Die Kanzlerin tendierte zu einer Verlängerung der Maßnahmen. Für den 18. Januar lud sie dann ein Beratergremium zur Vorbereitung des Corona-Gipfels ins Kanzleramt. Dem Gremium gehörten sieben Experten an, von denen sich sechs zuvor als Befürworter flächendeckender Maßnahmen profiliert hatten. Die meisten waren Virologen und Modellierer. Soziologen, Ökonomen und Demoskopen, die über die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen von Corona hätten informieren können, waren nicht darunter. Die Zusammensetzung des Gremiums legt die Frage nahe, worin seine Funktion bestand?

Sollte es den Einfluss der Lebensverhältnisse auf die Wahrscheinlichkeit einer Infektion klären und Vorschläge machen, wie man diese Risiken vermindern kann? Offensichtlich nicht, weil dem Gremium kein Stadt- oder Sozialstruktur-Soziologe angehörte. Sollte es den Einfluss der Schließung der Schulen auf Lernerfolg und soziale Kontakte der Kinder klären? Offensichtlich nicht, weil keine Pädagogen eingeladen waren. Die Beratung der Politiker zum Umgang mit diesen Risiken war nicht die Funktion des Gremiums. Was dann?

Legitimation gefasster Beschlüsse

Am Tag nach der Sitzung der Kanzlerin mit ihren Beratern wurde dann „eine Verlängerung der bisherigen Corona-Maßnahmen bis zum 14.  Februar“ beschlossen. Begründet wurde der Beschluss mit der Entdeckung der Mutation B1.1.7, die „deutlich infektiöser ist als das uns bekannte Virus“.

Die Funktion der wissenschaftlichen Berater bestand also darin, einen bereits gefassten Plan der Bundesregierung als Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnis erscheinen zu lassen. Diese konnten die Ministerpräsidenten nicht ablehnen, ohne sich selbst ins Unrecht zu setzen. Die Logik der Macht.

Durch die Zusammensetzung des Gremiums wurde allerdings auch eine Verengung des Risikos auf die medizinischen Folgen einer Infektion mit Covid-19 in Kauf genommen. Sonstige Nebenfolgen der Maßnahmen wurden ausgeklammert. Hierbei handelte es sich um eine Risikofalle, deren schwerwiegende Folgen, darunter der Einfluss der Beschränkungen auf die Entstehung und Verschlimmerung von Depressionen, erst Monate später problematisiert wurden. Wer für die Nebenfolgen verantwortlich war, ging also im Nebel der Geschichte unter.

Der Beschluss mag auch nach Abwägung aller im Gremium nicht repräsentierten Aspekte sachlich richtig gewesen sein. Die Instrumentalisierung wissenschaftlicher Berater hat indes die Verantwortung der politischen Entscheider verschleiert.

Hans Mathias Kepplinger ist einer der führenden Kommunikationswissenschaftler. Bis 2011 Professor für Empirische Kommunikationsforschung an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Mehr zu diesem Thema in seinem jüngsten Buch:
Hans Mathias Kepplinger, Risikofallen und wie man sie vermeidet. Herbert von Halem Verlag, 198 Seiten, 23,00 €.


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