„Die Kinder waren Samstag wieder da. Gute Kinder.“, schreibt Ulrike Meinhof 1973 an Ihren Anwalt Heinrich Hannover. Hier schreibt allerdings keine Mutter, die sich aus dem Knastalltag – wahlweise: aus der Hölle ihrer Isolationszelle heraus – etwa liebevoll an ihre beiden zehnjährigen Zwillingsmädchen Bettina und Regine erinnert, die sie gerade im Gefängnis besucht hatten und die sie in einem früheren Brief mit „Meine lieben Mäuse“ anredete. Nein, hier erinnert sich die Terroristin Ulrike Meinhof in einer Art Post Scriptum unter einem Schreiben an ihren Anwalt an ein Leben vor dem nicht mehr Erleben, nachdem sie zunächst abschließend in Versalien gebrüllt hatte: „FÜR DEN SIEG DES VIETCONG SCHLAGT DIE FASCHISTEN WO IHR SIE TREFFT Tschüss Ulrike“.
Wäre in den vergangenen Jahrzehnten nicht bereits Buchregalmeter lang über die RAF und die 68er sinniert und geschrieben worden – Gleichklangliteratur, die sich zu einer legendenbildenden Rezeptionsgeschichte zusammenfügt – möchte man diese der Erwähnung der Töchter vorangestellten Parolen der Pförtnerloge zur Pathologie als Tourette-Syndrom übereignen.
„Die Kinder waren Samstag wieder da. Gute Kinder.“, schreibt also Ulrike Meinhof so hintendran, als wäre es nur eine kurz aufflammende Erinnerung an ein Leben vor der persönlichen Katastrophe. Und es gibt ein weiteres Post Scriptum, dieses Mal aus einem Brief, der direkt an ihre Zwillinge gerichtet ist: „Die RAF hat Euch lieb“. Ein Satz, der zum Titel eines über sechshundert Seiten starken Buches der Journalistin und Autorin Bettina Röhl geworden ist. Ein Buch das, soviel sei vorweggenommen, ein warmherziger wie eiskalter, ein enorm kühner Einschnitt geworden ist, mitten hinein in diese so entsetzlich verschorfte RAF-Rezeption, deren Autoren und Protagonisten sich schon auf dem Endstück des roten Teppichs auf dem Weg ins vermeintlich rettende Unsterblichkeits-Mausoleum sahen.
Nun lesen sich Röhls Kindheitserinnerungen streckenweise wie für das Klemmbrett des Psychologen diktiert, Diagnose „Stockholm Syndrom“, wenn die Mädchen dieser Nicht-Mutter hilflos ausgeliefert sind, wenn sie mit ihren naiven kindlichen Seelen und Gemütern immer noch das Beste daraus machen, so, wie sich weltweit wohl tagtäglich Millionen Kinder mühen müssen, wenn ihre Mütter elend an ihrer natürlichen Rolle scheitern – irgendwo in den Slums von Kalkutta oder sonst wo, eben überall da, wo defizitäre Lebensumstände ihren Teil dazu beitragen, Müttern furchtbar zusetzen.
Aber doch weniger in der Wohlstandsfettheit der Bundesrepublik Deutschland der späten 1960er und 70er Jahre, zwischen Antiquitäten und Plüschsofas in einer Villa in Blankenese und ausgestattet mit Urlaubsdomizil auf Sylt, im abgeschirmten Hummerfressparadies, in Sichtweite der optionalen Champagnerduschen, ein Ort, den Christian Kracht als Ausgangspunkt für seinen wohlstandsmüden Debütroman „Faserland“ ausgewählt hatte. Sein erfolgreichstes Werk ist heute Schullektüre.
Bettina Röhl geht den umgekehrten Weg, sie ist mit diesem Spätwerk – die heute 55-jährige ist seit Jahrzehnten im Geschäft – auf dem Höhepunkt ihres Schaffens angekommen. Sie hat die Erzählung ihrer Kindheit und ihres Lebens mit Ulrike Meinhof in eine beeindruckend filigrane Konstruktion verschiedener Erzählstränge eingebettet, die sie bis zur letzten Seite nicht mehr aus der Hand geben wird, bis daraus ein fester Zopf geflochten ist, der Literatur von seiner attraktivsten Seite zeigt. Ein Buch, dem das bisher unmöglich scheinende gelingt: eine nachhaltige Erschütterung der wie in Beton gegossenen RAF-Rezeption.
Eine Erzählung in drei Akten: „Auf dem Höhepunkt von 68“, „Die Entstehung der RAF“ und „Mythos Meinhof“. Eine Ich-Erzählung, ein einfühlsamer autobiografischer Blick aus Kinderaugen, exakte Essays zu den jeweiligen Daseinszuständen der Bundesrepublik bis in die Gegenwart hinein, die Geschichte einer enttäuschten Liebe, eines zunächst banal beginnenden Rosenkrieges, der so furchtbar in Stammheim endet, eine provokante Gesellschaftsstudie der Bundesrepublik der 1960er und 70er Jahre, eine Kriminalisierungsgeschichte der 68er Bewegung, eine Kriminalgeschichte der RAF, eine überzeugende Zäsur, Abrissbirne eines Mythos, noch dazu mit spielerischer Leichtigkeit geführt, wie von Kinderhand, mit sich ringend von einer Journalistin als umfassendes Sittengemälde gezeichnet, als Blick zurück in den Brutkasten einer linken Ideologie, die so erfolgreich war, das sie heute, fast fünfzig Jahre später, weite Teile der Gesellschaft bestimmt – eine weitere beeindruckende, vielleicht sogar: die Meta-Ebene schlechthin.
Die damals Sechsjährige ist fassungslos: „Wir sollten jetzt abends so lange aufbleiben, bis wir von alleine umfielen. (…) Ich sollte nicht mehr mit Puppen spielen.“ Ulrike Meinhof kauft den Mädchen Polizei- und Feuerwehrautos: „Wir sollten Polizei und APO spielen und uns nicht in eine Mädchenrolle drängen lassen. Mädchen würden genauso gern mit Autos spielen wie Jungs, das wüssten wir nur noch nicht.“ Bettina Röhl nennt es „Das Diktat der Mutter im Befreiungskampf“.
Im Kinderladen hingen große Autoreifen an dicken Seilen „auf denen mindestens sechs oder sieben Kinder gleichzeitig schaukelten und wild herumturnten.“ Die Meinhof lieferte die Kinder ab, aber nur dann, wenn sie nicht von den verrauchten und weinseligen Diskussionsrunden der Nacht viel zu müde war, dann, wenn nicht ein Mann zur Stelle war, wie Peter Homann, der die Nähe der Meinhof suchte und dafür die Kinderbetreuung übernahm, also morgens die Brote schmierte, den Schulweg organisierte und als Allround-Ansprechpartner für die Zwillinge fungierte.
Kleidchen waren tabu. Als Litanei angelegt hat die Autorin den Wunsch der kleinen Bettina, das verspielteste Rüschenkleid der Stadt besitzen zu wollen. In endlosen Diskussionen mit der Mutter, wo es auch um die Länge der Haare geht, die abgeschnitten werden sollen, fällt Bettina am Ende regelmäßig vor Erschöpfung um, nur um am nächsten Morgen mitzuerleben, wie die Meinhof jedem erzählte, „dass Bettina in einer schrecklichen Trotzphase sei und die Scheidung nicht verkraftet hätte.“ Die Tochter ist empört, das immer wieder mit anhören zu müssen. Und die erwachsene Autorin befindet: „Heute denke ich, da gab es schwere Fehlschaltungen in ihrem Kopf.“ Natürlich meint sie die Meinhof.
Die Autorin schaltet sich hier und da behutsam erklärend ein, wenn sie die kleine Bettina erzählen lässt. Auch diese kurzen Perspektivwechsel sind so unaufdringlich wie kunstvoll angelegt – mit allem Feingefühl für das Kind, das Ulrike Meinhof nie aufbringen konnte. Und da sind wir noch nicht einmal dort angekommen, wo die Zwillinge von der Meinhof, von der RAF nach Sizilien entführt werden, von wo aus sie dann wiederum kurz vor dem Abtransport in ein palästinensisches Waisenhaus zurück zum Vater, zum Konkret-Verleger Röhl, gebracht werden.
In der Blankeneser Villenwelt Kinderbetreuung durch die Mutter von Wolf Biermann. Ein Zufall? Nein, denn Verleger Klaus Rainer Röhl will der linksradikalisierten Terror-Ex-Frau etwas entgegensetzen, die ihn immer öfter öffentlich diskreditiert, übel beleidigt und als reaktionär abstempelt, die sogar eine feindliche Übernahme anzettelt gegen ihn als Konkret-Herausgeber und seine Existenz bedroht. Also stellt Röhl die liebenswerte Kommunistin Biermann als Kindermädchen ein. Die Zwillinge lieben sie vom ersten Moment an.
Ja, dieses Buch liest sich auch wie eine einzigartige Sammlung prominenter Namen, natürlich sind die Protagonisten der 68er vertreten. Der noch legale Horst Mahler wird von den Kindern „Chef“ genannt, weil er immer mit Krawatte und Anzug zu den nächtlichen Diskussionen erscheint und Johannes Rau gab Autorin Röhl als Bundespräsident Interviews im Schloss Bellevue, wo er gewisse Sympathien für die Terroristin Meinhof kaum verbergen mochte.
Als Stefan Austs Buch „Der Baader-Meinhof-Komplex“ erschien, wurde es für eine ganze Generation junger Linker zu so etwas wie einer Bibel. Angehende Anwältinnen trugen es mit sich herum – manche sollen sogar nur dieses Buches wegen Jura studiert haben – wie jene, die von einer dritten Generation der RAF träumten und selbst dabei sein wollten. Also irgendwie oder nur ein ganz klein bisschen.
Aber wie hölzern, fast eindimensional liest sich heute diese Aust-RAF-Geschichte, wenn man sich erst einmal gefangen nehmen lässt von den über dreißig Jahre später verfassten sechshundert Seiten aus der Feder von Bettina Röhl. So passt es dann wieder, dass es Aust selbst war, der vor zehn Jahren seinen einstigen Kult-Bestseller auf dem Altar des Mainstreams opferte, als der nur noch Pop-Literatur war, als Aust ausgerechnet Uli Edel und Bernd Eichinger die öffentlich-rechtlich co-finanzierte Verfilmung gestattete, mit dem Ergebnis eines „zügig inszenierten Actionfilms“, wie die Frankfurter Allgemeine urteilte.
Nun ist Bettina Röhls Kindheit an einem entscheidenden Punkt eng mit Stefan Aust verwoben, denn es war Aust, der die Zwillinge in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf Sizilien vor dem Abtransport in ein palästinensisches Waisenhaus rettete. Er selbst ist im Buch einer von etwa einem Dutzend prominenter Zeugen, welche in Interviewform zu Wort kommen. Bei ihm bedankt sich Röhl im Anhang des Buchs, das sie hier „Projekt“ nennt, dafür „meine Schwester und mich teilweise unter Lebensgefahr vor einem ungewissen und möglicherweise tödlichen Schicksal in Palästina oder sonst wo bewahrt zu haben.“ Neben Aust bedankt sich Röhl bei Peter Homann, Hanna K., Rudolf Augstein und „bei meinem Vater Klaus Rainer Röhl.“
„Die RAF hat Euch lieb“ hat nun das Potenzial, nicht weniger zu sein, als ein Signal zum Umsturz der in Beton gegossenen zahllosen Regalmeter RAF-Literatur. „Die Geschichtsschreibung zum Thema der 68er-Bewegung liegt seit 50 Jahren fest in der Hand der inzwischen ebenfalls 50 Jahre älter gewordenen 68er aller Couleur“, schreibt Bettina Röhl auf Seite 32. Und diese Geschichtsschreibung beginne stets mit einem Märchen: „Es war einmal ein schrecklich’ Land namens Bundesrepublik Deutschland“.
Wenn Röhl mit Ulrike Meinhof ins Gericht geht, dann besitzt sie dafür die natürlichste aller Legitimationen. Aber die Autorin geht in „Die RAF hat Euch lieb“ weit über die Mutter-Tochter-Beziehung hinaus. Und vielleicht brauchte es ja diese Jahre des Nachdenkens und Herantastens – einige zitierte Gespräche sind fast zwanzig Jahre alt – um endlich abzuliefern, was nun vorliegt, was auch ein literarisches Leseabenteuer geworden ist, welches die große schriftstellerische und journalistische Bandbreite der Bettina Röhl von 2018 abbildet.
Bettina Röhl, Die RAF hat Euch lieb! Die Bundesrepublik im Rausch von 68. Eine Familie im Zentrum der Bewegung. Heyne Verlag. 640 Seiten, 16 Seiten Bildteil, 24,00 €.
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