Die Geschichte wird von Angela Merkel vor allem drei große Fehler übriglassen (von der Entkernung ihrer Partei einmal abgesehen, die aber außerhalb der CDU niemanden interessiert): die ruinöse sogenannte „Energiewende“ inklusive des opportunistischen Ausbremsens der klimafreundlichsten Energieerzeugungstechnik, die es derzeit gibt: Kernkraft. Ihr blauäugiges Hineintreibenlassen in die kommende Rentenkatastrophe und ihre wahnsinnige Einladung an rund 5 Milliarden unzufriedene fluchtwillige Menschen wo auch immer auf der Welt: kommt doch bitte her zu uns. Dann gibt es noch ein viertes Riesendesaster in ihrer Regierungszeit, die Demontage der Maastricht-Verträge und der Ruin des europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls, aber da hat sie nur mitgespielt und nicht selbst die Katastrophe ausgelöst.
An diesen Oberthemen sind die insgesamt 23 Beiträge dieses Sammelwerkes sozusagen aufgehängt. Alle wurden mit der 2017 erschienen Erstauflage verglichen und aktualisiert, zum Teil beträchtlich erweitert oder, wie der Beitrag von Werner Patzelt zu Merkels ideologischem Aderlass der CDU, sogar fast völlig umgeschrieben. Denn da ist ja seit 2017 noch einiges zusätzliches passiert. Zwei Kapitel, von Alexander Kissler zu Merkels Corona-Management und Joachim Steinhöfel zu Merkels Medienpolitik, sind neu.
Zu Merkels Politikstil („geschmeidig anpassungsfähig“), Herkunft und Aufstieg äußern sich der Historiker Dominik Geppert, der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz, der Theologe Wolfgang Ockenfels („das hohle C“) und der Historiker Ralf Georg Reuth, der Merkel als eine intelligente Opportunistin des SED-Regimes – nicht eigentlich entlarvt, das hätte jeder, der es wissen wollte, wissen können, aber doch wieder in Erinnerung ruft: „Sie gehörte zu jenen Reformkadern, die das Zeug und die Beweglichkeit hatten, sich der neuen von den Menschen zwischen Rostock und Suhl, zwischen Magdeburg und Frankfurt an der Oder geschaffenen Realität anzupassen, nachdem sich der Kreml dieser Realität gebeugt und die DDR als Staat abgeschrieben hatte.“ Solche Leute heißen andernorts auch Wendehals. Auch dass Merkels bei Bedarf immer wieder gern hervorgekehrtes Christentum von wahrer Religiosität so weit entfernt ist wie Mecklenburg vom Vatikan, passt gut in dieses Bild.
Speziell zu Merkels Missmanagement der Eurokrise äußerst sich der britische Finanzexperte David Marsh: „Manchen Außenstehenden vermittelte Merkel den Eindruck felsenfester Stabilität, aber tatsächlich konnte schon eine leichte Änderung der Kräftebalance oder ein sich drehender Wind die deutsche Position gefährden. Immer wenn der Druck auf Merkel sich sehr stark aufgebaut hatte, weil es einen neuen Krisenschub gab, gab sie etwas nach. Die Kapitulation kam zeitverzögert, allerdings war es nur eine Teilkapitulation. Die Deutschen haben nie ganz eingelenkt und sich den Forderungen der anderen ganz ergeben. So waren letztlich beide Seiten unzufrieden.“
Von einer Missachtung des deutschen Grundgesetzes völlig abgesehen. Gegen die von Merkels Vasallen im Bundestag durchgewunkene indirekte und im Grundgesetz verbotene monetäre Staatsfinanzierung durch das berüchtigte Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank, genauso wie gegen die von Merkel durchgepeitschte und von ihr immer offiziell abgelehnte Gemeinschaftsverschuldung durch das gigantische Corona Hilfsprogramm der EU liegen zwei Verfassungsbeschwerden vor, an denen auch der Schreiber dieser Zeilen beteiligt ist. Und dass der Brexit vor allem ein Resultat der Merkelschen Flüchtlingspolitik gewesen ist, gehört mittlerweile zu den Allerweltswahrheiten der Europadiplomatie: „2015, im Fall der Massenmigration nach Deutschland und Europa, kann man zeigen, dass ihr Handeln desaströse Konsequenzen hatte, die fast sicher, wie ich weiter unten erklären werde, zum historischen Brexit-Votum der Briten am 23. Juni 2016 geführt haben,“ schreibt der Politikwissenschaftler Anthony Glees in dem Kapitel „Bye bye Britain“.
Weitere Kapitel beleuchten das Merkelsche Versagen in der Migrations- und Flüchtlingspolitik (Cora Stephan und Thilo Sarrazin), die Sozialdemokratisierung der CDU-Familienpolitik (Birgit Kelle), dass kontraproduktive Eingreifen Merkels in Forschung und Forschungsförderung (Roland Tichy), die Merkel-induzierte „Entfremdung von Deutschland“ unserer mitteleuropäischen Nachbarn (Boris Kálnoky, Andreas Unterberger) oder Merkel als Hebamme bei der Wiedergeburt des Populismus in Deutschland (Michael Wolffsohn): „Indem sie die eher rechts- und konservativ-nationalen, teils auch nationalistischen Kräfte schon lange vor der Flüchtlingswelle des Jahres 2015 der Union zunehmend entfremdete, wurden jene politisch heimatlos. Sie suchten und fanden ihre neue Heimat bei den nationalistischen Populisten rechts von der Union. Damit hat sie die herausragende, strukturhistorische, gesamtstaatliche Leistung der frühen CDU (und CSU) revidiert: die Einbindung der Rechten in die parlamentarische Demokratie durch und in eine zweifelsfrei demokratische Partei.“
Der Herausgeber Philip Plickert hat nicht gerade die besten Merkel-Freunde als Autoren für diesen Sammelband gewonnen. Dennoch strahlen viele Beiträge ein durchaus ernsthaftes Bemühen um ein ausgewogenes Urteil aus, Vokabeln wie „nicht so schlecht“, oder „den Umständen entsprechend gut“ finden sich oft. Und Autor Michael Wolffsohn beginnt seinen Beitrag sogar mit einer „Beichte vorab: Ich sagte ja zu Angela Merkel als Bundeskanzlerin.“ Aber dieses Lob klingt hohl. Sich etwa gegen die aktuelle SPD-Parteispitze positiv abzuheben ist ja nun wahrlich keine Kunst.
Und wenn man mit grünohrigen Parteiapparatschiks wie Kevin Kühnert oder Annalena Baerbock konkurriert, denen man im wahren Leben noch nicht einmal ein Bahnhofskiosk anvertrauen würde, kann man leicht als Landesmutter glänzen. Und auch die angeblich so vorzeigbare deutsche Wirtschaftsleistung verglichen mit anderen Volkswirtschaften der EU ist bei näherem Hinsehen alles andere als vorzeigbar. Sie lebt großteils von Exporten, für die wir alle hart arbeiten, aber deren Erträge wir ebenfalls zum guten Teil nie sehen werden: Diese Exporte werden von den Importeuren größtenteils auf Pump gekauft, mit Geld, das direkt oder indirekt in Deutschland ausgeliehen ist und nie zurückfließt. Denn ein Großteil der inzwischen über 8 Billionen Euro an Auslandsforderungen, die deutsche Wirtschaftsteilnehmer über viele Jahre durch ihre Exportüberschüsse angesammelt haben, werden niemals einzutreiben sein. Damit hätte Deutschland dem Rest der Welt einen Großteil seiner Exporte sozusagen geschenkt. Wie man darauf auch noch stolz sein kann, mag verstehen wer will. Aber immerhin: man hat Arbeit gehabt. Und das ist doch auch schon was …
Philip Plickert (Hg.), Merkel. Eine kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft. Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe. FBV, 320 Seiten, 18,00 €