Tichys Einblick
Nicht Merkevellismus

Mehr Machiavelli wagen

Niccolò Machiavelli war nicht nur ein Apologet der Macht, sondern auch der Freiheit. Warum eine Wiederentdeckung des Florentiners auch für Liberale lohnt. Begründet Marco Gallina.

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Machiavelli hat einen schlechten Ruf. Dass verschiedene Stimmen der regierenden Bundeskanzlerin „Machiavellismus“ unterstellen, macht die Sache nicht besser. Dabei liegen zwischen dem, was Machiavelli wirklich intendierte, und dem, was seine Gegner ihm anlasten, in etwa so viel Raum wie zwischen dem real existierenden Merkevellismus und dessen Deutung in der Berichterstattung.

Niccolò Machiavelli gilt nicht nur als Begründer der politischen Wissenschaft, sondern auch als Lehrmeister der Macht. Real- und Machtpolitik werden eng mit seinem Namen verbunden. Zeitgenossen assoziieren ihn vor allem mit dem Buch vom Fürsten (Il Principe). Dem Werk hängt der Ruch eines politischen Ratgebers an, demnach der Zweck die Mittel heiligt. Obwohl Machiavelli den Begriff der Staatsraison nicht verwendet, kommt dieser in der Wendung des „mantenere lo stato“ vor, d. h. der Staat ist (in seiner Form) zu erhalten.

Der Fürst, so Machiavelli, muss zum Wohle des Staates auch Böses tun – ein Mann, der immer moralisch gut handeln will, wird unter der Mehrheit der Menschen, die sich nicht darum kümmern, zwangsweise untergehen. Auch ist es als Herrscher besser gefürchtet, denn geliebt zu werden, da die Furcht beständig, die Liebe jedoch launisch und schwankend ausfällt. Verträge sind nichtig, sobald sie nicht mehr dem Interesse des Fürsten entsprechen, dessen redlicher Anschein wichtiger ist als seine tatsächlichen Eigenschaften. Und zuletzt: wer eine freie Gesellschaft unterwerfen will, muss die gesamte Elite mit Stumpf und Stiel ausrotten.

Nach der Renaissance die Barbaren

Vor dem Hintergrund von Machiavellis Lebensweg verwundern diese Ratschläge nicht. Der Florentiner wird im Jahr 1469 am Vorabend einer unruhigen Epoche geboren. In seiner Jugend erlebt er noch die goldene Zeit seiner Heimatstadt unter Lorenzo de‘ Medici, den man den „Prächtigen“ nennt. In ganz Italien blüht damals die Renaissance. Ein diplomatisches Netzwerk sichert seit einem halben Jahrhundert den Frieden auf der Halbinsel. Krieg haben die verschiedenen Kleinstaaten Italiens seitdem kaum gesehen.

Dann bricht das Chaos aus: die Franzosen fallen 1494 in Italien ein. Städte werden erobert, geplündert, ganze Landstriche verwüstet. Die Medici fliehen aus Florenz. Es ist der Beginn einer Abfolge von Konflikten, die als „Italienische Kriege“ Europa die ganze Renaissance über bestimmen, und in der die großen ausländischen Mächte – neben Frankreich vor allem Spanien und Österreich – Italien zum Schlachtfeld machen. Bis auf Venedig und den Kirchenstaat verlieren die Staaten der Halbinsel ihre Freiheit, teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein.

Machiavelli führt den Verlust der italienischen Freiheit und den Sieg der „Barbaren“ auf die Unfähigkeit der herrschenden Elite zurück. Der Principe liest sich nicht zuletzt als Mahnschrift, wieso Italien, der zeitgenössische  Vorreiter auf dem Feld von Kultur, Wissenschaft, Technik und Wirtschaft – seine Freiheit an die Ausländer verlieren konnte. Kein unabwendbares Schicksal, sondern die Inkompetenz der Herrschenden hat demnach Italien in den Untergang geführt.

Machiavelli ist dabei kein Schreibtischtäter. Seine Anschauung gewinnt er aus jahrelanger persönlicher Erfahrung als Botschafter der Republik Florenz: beim König von Frankreich, bei Kaiser Maximilian, beim Papst.

Obwohl der Florentiner Karriere macht, bleibt er ein Außenseiter; die eigene Familie gehört zwar zum Stadtpatriziat, ist aber nach Generationen in die Bedeutungslosigkeit abgesunken. Hinter vorgehaltener Hand spottet man über Machiavellis Vater Bernardo, er sei der erfolgloseste Advokat der ganzen Republik. Die Familie hat de jure eine alte Geschichte, gehört aber faktisch dem Mittelstand an – und die übrigen Kollegen lassen das den talentierten Aufsteiger spüren. Obwohl Machiavellis Intelligenz in der florentinischen Politik berühmt ist, und selbst alterfahrene Diplomaten den Neuling die Verhandlungen führen lassen, darf er stets nur als zweiter Gesandter mitreisen. Das bedeutet: die Annehmlichkeiten und das Prestige gehen an den vorstehenden Mann aus alter Familie, indes Machiavelli die harte diplomatische Arbeit leisten darf. Er muss sich im Rededuell Ludwig XII. von Frankreich und dem berüchtigten Feldherrn Cesare Borgia stellen, während sein Kollege die Lorbeeren einheimst.

Machiavelli trifft auf Mittelmaß

Hier ruht der unbekannte Machiavelli. Die Ungleichbehandlung zeugt eine tiefe Abneigung gegenüber dem Feudal- und Günstlingswesen in der Politik. Eine Elite, die nach unten tritt und jeden Aufstieg verhindert, um die eigenen Pfründe zu wahren; ein System, das Beziehung, nicht Leistung fördert. Machiavelli, der als Patriot alles für sein Land tut, wird so gut wie nie belohnt. Am Ende, als die Spanier Florenz erobern – und jene Republik stürzen, welche Machiavelli so liebt – arrangieren sich die Netzwerker schnell mit den Eroberern, indes sie Machiavelli diffamieren und denunzieren. Der einstige Spitzenbotschafter von Florenz wird gefoltert und zieht sich auf sein Landgut zurück.

Hier wird offenbar: Machiavelli wollte keine Monarchie und auch nicht die Tyrannei der Macht. Er hat beides selbst erlitten. Sein Buch vom Fürsten gibt sich als Ratgeber der Monarchen, ist aber in Wahrheit eine Warnung an Republikaner: die Mächtigen handeln wie in diesem Buch, also nehmt euch in Acht! Die Discorsi, Machiavellis Hauptwerk, handeln von der Republik und sind in ihrem Umfang dreimal so dick wie der erwähnte Principe. Obwohl er keinen „Idealstaat“ konstruiert, gibt Machiavelli Rezepte und Leitsätze aus. Vorbild ist die idealisierte Schweiz mit ihrer „freien Freiheit“, weil sie Freiheit nach innen (frei von Klientelsystemen) und nach außen (frei von Einmischung äußerer Mächte) besäße.

Der Republikaner Machiavelli

Was dort steht, lässt aufhorchen: das Volk entscheidet weiser als ein einzelner Herrscher. Republiken sind Monarchien überlegen, weil erstere mehr fähige Männer zählen, die durch Leistung aufgestiegen sind. Die Römische Republik ist dem Römischen Reich überlegen, die Diktatur hat ihr geschadet. Wer in einer Republik zu mächtig wird, dem muss Einhalt geboten werden; und wer die Not des eigenen Volkes nicht lindert, beschleunigt seinen Fall.

Ganz im Gegensatz zum Ruf ist für Machiavelli die Macht dabei kein Selbstzweck: sie ist und bleibt Mittel um den Staat als solchen zu stabilisieren. Ein Herrscher, der die Staatsraison über Bord wirft, muss zugrunde gehen, und setzt zudem das höchste Gut aufs Spiel: die Freiheit seines Landes.

Weil jedoch Machiavelli die Rezepte der Mächtigen ausplaudert, erscheint er letzteren als persona non grata. Principe und Discorsi sind deswegen gefährlich, weil sie zeigen, wie die Umstände sind, und nicht wie sie sein sollen. Für die Herrscher, die sich gerne als christlich, ritterlich und tugendhaft zeigen – ein Affront.

Machiavellis zweite Ächtung ist daher eine damnatio memoriae, oder besser: eine Verklärung seiner Schriften hin zu skrupellosem Machtmissbrauch. Noch Friedrich der Große sollte einen „Anti-Machiavelli“ als aufgeklärte Erwiderung auf den Teufel aus Florenz verfassen, obwohl er im kleinen Kreis zugab, Zeit seines Lebens seine Ratschläge befolgt zu haben.

Damit handelte die Elite genau Machiavellis Diktum entsprechend und wurde noch nach seinem Tod deren erneutes Opfer. Machiavelli, der im Widerspruch zum Feudalsystem der Etablierten stand, stattdessen Freiheit und die Meritokratie beschwor, wurde ob seiner Unbequemlichkeit mundtot gemacht.

Dass Machiavelli als leistungsorientierter Mittelständler von den Herrschenden erst ausgenommen und zuletzt diffamiert wurde, weil er unangenehme Wahrheiten aussprach, ist allerdings wohl weniger ein Einzelfall, als vielmehr Kontinuität in der Geschichte.

Marco Gallina studierte Geschichte und Politikwissenschaften, Schwerpunkt europäische Diplomatiegeschichte, und schloss mit einer Arbeit über Machiavelli das Masterstudium ab. Er nennt sich Italo-Deutscher Mischling, kulturell bilingual aufgewachsen und im Rheinland sozialisiert. Doktorand in spe.

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