Tichys Einblick: „Die Krise hält sich nicht an Regeln“ heißt Ihr neues Buch. Sie hatten ja ein Buch über eine sich anbahnende Krise geschrieben. Kommt sie jetzt anders?
Max Otte: Sie hält sich nicht an die Regeln, die vielleicht die Ökonomie aufgestellt hätte. Wir haben einen brutalen Lockdown der Wirtschaft. Vor einem halben Jahr hätte ich noch gesagt: Na ja, der Effekt ist ungefähr das Doppelte der Finanzkrise von 2008/2009. Jetzt sind wir wahrscheinlich beim Dreifachen. Damals hatten wir fünf Prozent Wirtschaftseinbruch. Wenn wir jetzt 15 bis 20 haben, kommen wir noch gut weg. Trotzdem sind die Immobilienpreise weiter gestiegen. Trotzdem geht es irgendwie weiter. Also die klassische Ökonomie würde das erst einmal nicht erklären können.
Tichys Einblick: Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute behaupten, wir hätten nur fünf Prozent Konjunktureinbruch. Wovon reden wir wirklich?
Max Otte: Fünf Prozent kann ich nicht nachvollziehen, die hatten wir schon 2009. Wir haben jetzt mindestens zehn, wahrscheinlich eher 15. Die Hochschulökonomie, auch die Forschungsinstitute schwimmen natürlich gern mit dem Strom. Wenn ich als Hochschulökonom eine Krise vorhersage und damit falschliege, dann habe ich meine Laufbahn ziemlich ruiniert. Wenn ich allerdings eine optimistische Prognose mache, dann sind meine industriellen Auftraggeber oder die Politik alle recht zufrieden damit. Das stört dann nicht. Die anderen machen ja auch alle optimistische Prognosen. Um erfolgreicher Krisenprognostiker zu sein, ist mir eins ganz wichtig: dass man nicht für seine Prognosen bezahlt wird. Das wirft man mir ja auch gern vor, dass ich ein Geschäft mit der Angst machte. Aber ich werde ja nicht für meine Prognosen als solche bezahlt, sondern dafür, dass irgendwann meine Fonds richtigliegen.
Tichys Einblick: Wenn ich durch die leeren Städte gehe und daran denke, wie viele Leute in Kurzarbeit sind, dann habe ich das Gefühl, wir müssten einen gigantischen Wirtschaftsabriss haben. Und dann sagen uns die Ökonomen: Es sind nur fünf Prozent, vielleicht sieben. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Was kommt tatsächlich auf uns zu?
Tichys Einblick: Wahrscheinlich sterben 30 bis 40 Prozent des Handels. Die Gastronomie leidet. Aber Amazon gewinnt und Microsoft und Google auch. Wie sieht Deutschland aus, wenn wir aus dieser Krise herauskommen?
„Die Menschen werden immer mehr in Konzerne eingebunden.
Die selbstständig disponierende Arbeit,
die Selbstständigkeit wird zurückgedrängt“
Max Otte: Wir haben schon jetzt nur noch einen Restmittelstand. Die Mittelschicht war immer Deutschlands Stärke, ob das der industrielle Mittelstand war oder der Bäcker. Diese Konzentrationstendenzen laufen ja seit mindestens 40 Jahren. Wir sind eigentlich längst am essenziellen Minimum des selbstständigen Mittelstands angekommen. Weniger geht nicht. Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, ist so aber nicht mehr funktionsfähig. Und da steuern wir gerade darauf zu. Also ein „Deskilling“. Die Menschen haben immer weniger selbstständige Arbeit. Sie werden immer mehr in Konzernketten, in Systeme, in Callcenter, in EDV-Systeme eingebunden. Die selbstständig disponierende Arbeit, die Selbstständigkeit wird zurückgedrängt.
Tichys Einblick: Wie schauen dann unsere Städte aus? Vernagelte Fensterscheiben, geschlossene Lokale – oder geht’s wieder voran?
Max Otte: Jeff Bezos ist dieses Jahr mit Amazon 55 Milliarden Dollar reicher geworden. Ich war zur Wahl in den USA, da habe ich in New York schon viele, viele vernagelte Geschäfte gesehen. Unsere Städte werden nicht unbedingt veröden. Wir werden aber nur noch so kleine Läden haben, solche Convenience Stores wie in USA. Der Fachhandel ist sowieso schon in den letzten Zügen. Der schrumpft seit den 1980ern. Das Handwerk floriert erstaunlicherweise noch. Durch den Bauboom. Das kann Amazon noch nicht liefern. Noch nicht.
Tichys Einblick: Gleichzeitig erleben wir eine gewaltige Umverteilung über die Finanzmärkte. Sie sind Vermögensverwalter, das scheint im Augenblick recht einfach: Man kauft eine Aktie, und sie steigt.
Max Otte: Wenn sie auf die letzten zehn bis 15 Jahre schauen, dann ist man mit klassischen Industriewerten oftmals gar nicht so gut gefahren. Wir haben wirklich eine große Umwälzung in der Wirtschaft. Die Techwerte sind ja wie Viren, die setzen sich quasi ins zentrale Nervensystem, mit relativ wenig Kapitalbedarf. So saugen sie den Mehrwert ab. Das könnte man natürlich auch erst einmal Marktwirtschaft nennen. Aber wenn es dann mächtige Oligopole sind, dann muss man sich schon überlegen, ob man die nicht regulieren sollte.
Tichys Einblick: Wir hatten ja früher durchaus stolze Unternehmen wie Siemens oder riesige Versandhändler. Neckermann und Quelle gibt es nicht mehr. Otto hält sich, aber Amazon dominiert. Was ist da schiefgelaufen?
Tichys Einblick: Das sind die Aktienmärkte. Dumm läuft es für jemanden, der in Deutschland Lebensversicherungen und klassische Zinspapiere hatte und hat. Der wird ärmer. Aktionäre werden reicher. Und es gibt eine weitere Gruppe: Immobilienbesitzer in den zentralen Lagen. In den Metropolregionen steigen und steigen und steigen die Immobilienpreise, obwohl wir angeblich eine Krise haben. Wie kann das sein?
Max Otte: Zur Asset Price Inflation kommt das Misstrauen in das Geldsystem. Das bricht sich eben doch Bahn, wenn ein Ken Rogoff, der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds war, sagt: Wir müssen das Bargeld verdrängen, damit die Leute nicht ausweichen können, wenn wir vier Prozent Strafzinsen einführen, weil wir vier Prozent Inflation nicht hinkriegen. Dann merken doch immer mehr Leute, dass Lebensversicherungen und Geldvermögen auf der Bank gefährdet sind. Und auf der anderen Seite kann ich natürlich für wenig Zinsen Geld aufnehmen und Immobilien kaufen.
Tichys Einblick: Sie sagen, es gibt viele Leute, die haben einfach kein Geld mehr. Und dann gibt es welche, die haben so viel, dass die Banken ihnen sogar Strafzinsen abnehmen ab 100.000 Euro auf dem Konto. Wie kommt es dazu, dass die einen keins haben und die anderen zu viel? Wo und wie muss ich mich hinstellen, damit die Golddukaten in meine Schürze prasseln?
Max Otte: Sie müssen Assets haben, Aktien und Immobilien, sich vielleicht auch ein bisschen – billig – verschulden. Dann prasselt es, wenn Sie halbwegs die richtigen Anlagen haben. Es war wie ein Fahrstuhl für die, die schon was hatten in den letzten Jahren. In meiner Verwandtschaft gibt es auch Leute aus der Arbeiterschicht, die sehr sparsam waren. Da liegen dann auch mal 100.000 oder sogar 300.000 Euro herum. Das gibt’s schon noch relativ häufig. Aber jüngere Familien müssen wirklich ums Überleben kämpfen. Sie können mit einem normalen Job als Krankenpfleger oder als Polizist in einer Großstadt nicht mehr leben. Damit erodiert das Fundament der Gesellschaft.
Tichys Einblick: Wir Älteren, die schon mal ein Haus in den noch günstigeren Jahren gekriegt haben, werden reich, und unsere Kinder stehen draußen vor der Tür. Meinen Sie das so?
„Bei jeder Transaktion müssen Sie Ihre Daten
abgeben und werden registriert.
So habe ich Zwangswirtschaft und den gläsernen Bürger“
Tichys Einblick: Wenn es so unglaublich hohe Staatsschulden gibt, was macht das mit der Währung? Früher sagte man ja, dass man Schulden zurückzahlen müsse. Und heute geht einfach alles. Viele Wirtschaftswissenschaftler, die ich mir so anhöre, sagen: Geht doch!
Max Otte: An der Qualität der Währung misst sich die Qualität eines Staates oder eines Rechtssystems. Am Geld kann ich sehen, wie gut die Rechtsordnung ist. Wenn das Geld stabil ist und allgemein fungibel und akzeptiert wird, möglichst auch fälschungssicher ist, dann habe ich wahrscheinlich auch eine gute Rechtsordnung.
Tichys Einblick: Aber das haben wir ja. Man kann ja nicht sagen, dass wir Inflation hätten.
Max Otte: Aber das Geld ist gar nicht mehr so einfach fungibel, also tauschbar. Es ist zum Beispiel nicht mehr anonym. Wir haben zwar noch Bargeld, aber fast bei jeder Transaktion, schon über Kleckerbeträge, müssen Sie Ihre Daten abgeben, werden Sie registriert. Das ist eine Vorbereitung darauf, das Geld ins Netz zu schicken, in Bits zu verwandeln. Und dann ist das alles kein Problem mehr. Dann habe ich Zwangswirtschaft und den gläsernen Bürger.
Tichys Einblick: Dann kann ich per Knopfdruck entscheiden, der Otte, der war wieder frech, dem regle ich das Konto runter?
Max Otte: Man kann dann natürlich gezielt bestimmte Bevölkerungsgruppen mit Sondersteuern belegen. Oder gezielt neue Gebühren auf irgendwas einführen. Man kann Preise manipulieren durch gezielte Steuern auf einzelne Produkte. Das sind Manipulationsmechanismen, die sich ein sozialistischer Diktator vor 30 Jahren in seinen feuchtesten Träumen nicht erträumt hätte. Der digitale Euro soll jetzt im Schnelldurchlauf getestet werden. China hat so etwas schon getestet. Das ist natürlich ein weiterer Schritt in diese Richtung. Man sagt dann, E-Geld sei anonym, aber letztlich sind das immer Stücke von Codes, und wenn man dann die Verbindung zur Person hat, hat man die gesamte Transaktion auf dem Bildschirm.
Tichys Einblick: Aber das ist ja kein deutsches Problem, das ist in den USA genauso, also die Entmaterialisierung des Geldes, die Zentralisierung in Computer. Und auch die hohe Staatsverschuldung und die hohe Geldmenge. Machen alle denselben Fehler?
Tichys Einblick: Was heißt das: Es fährt vor die Wand? Wie muss man sich das vorstellen? Geld ist ja kein Auto …
Max Otte: Es gibt im Prinzip nur wenige Möglichkeiten, einen solchen Schuldenüberhang zu beseitigen. Da muss ja Geld vernichtet werden. Das kann ich machen, indem ich spare. Dann wird es aber eine Depression geben, und viele werden Pleite gehen. Wir hätten Kreditausfälle und Vermögensverlust auf der Papierseite. Das zweite wäre die Inflation …
Tichys Einblick: … die aber nicht da ist …
Max Otte: Ja, doch. Die Asset-Preis-Inflation …
Tichys Einblick: … bei Immobilien und Aktien …
Max Otte: … die trifft auch die Mittelschicht. Die Immobilienpreise ziehen dann steigende Mieten nach sich. Dann haben wir im Gesundheitswesen Inflation bei manchen Dienstleistungen. Aber die Güterpreisinflation ist noch nicht da. 20 Jahre haben die Notenbanken das nun versucht und haben gemerkt, sie kriegen es nicht hin. Und die dritte Möglichkeit ist Umverteilung. Also ich könnte jetzt nehmen von denen, die große Geldvermögen haben, und könnte es anderen geben, die weniger haben: enteignen oder transferieren per Gesetz. Wenn man die Eurozone sanieren will, müsste man vielleicht einen Schuldentilgungsfonds machen, wo jedes Land 70 oder 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an Schulden reinpackt. Damit wäre Deutschland quasi schuldenfrei, Italien hätte immer noch 50 Prozent Schulden, Griechenland hätte immer noch 100 Prozent.
Tichys Einblick: Sie sagen ja nichts anderes als: Schulden hin oder her, die kommen irgendwohin und liegen in der Ecke wie ein alter Kartoffelsack, und niemand kümmert sich drum.
„Ich finde, man muss eigentlich kein Investor sein,
um ein guter Bäcker zu sein oder eine gute Krankenschwester.
Aber wir sind gezwungen zu investieren“
Tichys Einblick: Und Sie glauben also, dass es zu einem Schuldenschnitt kommt? Jeder noch mal 40 Euro auf die Hand, und das war’s?
Max Otte: Ja, aber ein Schuldenschnitt geht heutzutage in dieser smarten, technokratischen Welt eleganter.
Tichys Einblick: Es gibt jetzt viele Leute, die fragen sich: Ich hab ein bisschen was gespart, bleibt mir das – oder geht es weg?
Max Otte: Das geht weg.
Tichys Einblick: Das geht weg? Einfach futsch?
Max Otte: Ja. Das wissen aber auch immer mehr Leute. Es ist ja die letzten Jahre schon relativ abgeschmolzen durch die immer niedriger werdenden Zinsen. Wir Deutschen sind keine Investoren. Ich finde auch, man muss eigentlich kein Investor sein, um ein guter Bäcker zu sein oder eine gute Krankenschwester. Aber wir sind gezwungen zu investieren. Also in Sachwerte. Immobilien, Edelmetalle, Aktien. Aber davon muss man ein bisschen was verstehen …
Tichys Einblick: Man soll raus aus Bargeld, aus Bankguthaben, raus aus Lebensversicherungen. Aber wohin? Die Preise sind bereits hoch.
Max Otte: Sachwerte. Anders geht es nicht. Immobilien, Edelmetalle, Aktien. Viele Anleger haben eine ganz simple Logik: Wenn der DAX mal bei 10000 Punkten war und dann auf 5000 fällt, dann ist er billig; wenn er wieder auf 10000 geht, gilt er wieder als teuer. Das ist völlig falsch. Der DAX bei den zweiten 10000 kann ein völlig anderer sein als beim Mal zuvor. Unternehmen können sich weiterentwickelt haben. Wenn der DAX vor zehn Jahren 10000 Punkte wert war, ist er vielleicht heute 15000 wert. Das war beim Gold dasselbe.
Tichys Einblick: Das ist ja wieder teuer, oder?
Max Otte: Nein, nein. 95 Prozent der Menschen schauen sich nicht mehr an als den Chart, und der Chart ist aussagelos. Gold ist nicht teuer, es hat Luft bis 3200 Euro. Für Aktien ist das schon anders. Immobilien sind sehr teuer. Da würde ich wirklich eher von abraten, denn irgendwann können die steigenden Mieten nicht mehr bezahlt werden. Man muss schon dabei sein bei Unternehmen – über Aktien. Das ist auch keine Geheimwissenschaft. Jedenfalls besser, als wenn Sie Ihr Geld auf dem Konto lassen.
Tichys Einblick: Und Bitcoin, also dieses virtuelle Geld, ist es Betrug oder Zockerei?
Tichys Einblick: Also man muss raus aus dem Bargeld und aus den Bankguthaben und rein in Sachwerte. Aber passiert da nicht auch etwas? Man kann Hauspreise nicht ins Unendliche steigern. Dann sind dann doch wieder diese schönen Charts da, die nach unten zeigen.
Max Otte: Nicht unbedingt. Aber wir haben in der Tat dann vielleicht eine Verarmung breiter Schichten der Bevölkerung. Schauen Sie sich Detroit an. Ganz öde. Das ist eine Wüste. Das ist wirklich so wie in einer postapokalyptischen Science-Fiction-Szenerie. So weit kommen wir in Deutschland vielleicht nicht. Aber eine Gesellschaft, in der wir viele Menschen haben, die von schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs abhängig sind oder nur noch auf Stütze sind, und wenige, die viel verdienen, die ist nicht sehr erstrebenswert. Aber das ist trotzdem ein Szenario, in das wir vielleicht reinrutschen. Und es werden dann immer weniger Konzerne vorhanden sein, die immer größer werden. Und eine sehr, sehr reiche und vermögende Oberschicht. Diese Polarisierung läuft.
Tichys Einblick: Eigentlich waren Sie früher so etwas wie ein konservativer Wirtschaftsprofessor und sind Mitglied der CDU. Aber jetzt reden Sie plötzlich viel von Umverteilung, von gesellschaftlichen Konflikten, von Reichen, die reicher werden, die man eigentlich besteuern müsste. Sind Sie plötzlich ein Sozialist geworden?
Max Otte: Ich zitiere immer gerne Warren Buffett, den größten Börseninvestor der jüngeren Zeit. Der hat schon vor 15 oder 20 Jahren gesagt: „Es gibt Klassenkampf. Aber es ist meine Klasse, die Reichen, die ihn führt. Und leider gewinnen wir.“
Tichys Einblick: Das ist ein bitterer Satz …
Max Otte: Das ist eine unsolidarische Gesellschaft. Ich halte viel von Solidarität. Individuum, Gruppe, Freiheit, Bindung, das sind ja Fragen, die einen Konservativen beschäftigen. Ein Liberaler würde sagen: Freiheit in jeder Form, wie weit auch immer, vielleicht noch durch Traditionen gezügelt, ist immer vorzuziehen. Der Konservative sieht halt auch die Ideen der Bindung, der Solidarität, ob das katholische Soziallehre ist oder soziale Marktwirtschaft. Es ist für mich bitter, aber es gibt Zeiten, in denen die Gesellschaft solidarischer ist, und es gibt Zeiten, in denen die Gesellschaft auseinanderfällt. Und in so einer Zeit leben wir gerade. Keine schöne Zeit.
Max Otte, Die Krise hält sich nicht an Regeln. 99 Antworten auf die wichtigsten Fragen nach dem Corona-Crash. FBV, 256 Seiten, 20,- €.