Tichys Einblick

Matussek bespricht Matussek

Matthias Matussek gilt als einer der wort- und meinungsstärksten Journalisten der Gegenwart. In seinem neuen Buch beschreibt er, wie der Medienbetrieb im Zuge der Massenzuwanderung die kritische Distanz verlor und zur allgemeinen Regierungssprecherei verkam. Eine Selbstrezension.

Gleich ein Geständnis vorweg: Von allen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs war es wohl diese, auf die ich am neugierigsten war: Matthias Matussek mit dem Rätseltitel „White Rabbit“. Matusseks letztes Buch, die Weihnachtsnovelle „Die Apokalypse nach Richard“, liegt bereits drei Jahre zurück, und seither beschäftigte er eher die Boulevardpresse mit Skandalen und Skandälchen. Eine Schaffenskrise?

Nun liegt sein neues Buch vor, und ich kann – trotz der zufälligen Namens­gleichheit in aller Unvoreingenommen­heit – sagen: nein! Es ist ein spätes jour­nalistisches Meisterwerk! Das Warten hat sich gelohnt, ja, es war notwendig, denn Matussek beschreibt eine Zeiten­wende, und sie braucht eben Zeit, die Zeit, um sich zu wenden. Rund drei Jah­re in diesem Fall.

Das vielleicht Schönste an Matusseks neuem Buch, in das er hineinstürmt wie in eine fröhliche Keilerei mit der ei­genen journalistischen Zunft, ist wohl die Tatsache, dass man spürt, wie sehr er diesen Beruf liebt, auf jeder Seite, in jeder Zeile. Der Mann erlebt geradezu süchtig Zeitgeschichte und erzählt dar­über wie kein Zweiter, er debattiert, er streitet (und lässt sich bisweilen im Streit davontragen), er liebt die Pointe, auch die auf eigene Kosten. Ja, Matus­sek hat Selbstironie, eine in unserer Branche seltene Eigenschaft.

„White Rabbit oder Die Abschaffung des gesunden Menschenverstandes“
erzählt vom Kontrollverlust, den unse­re Republik in den letzten drei Jahren erlitten hat. Der weiße Hase als Lotsen­tier, das die kleine Alice in sein unterir­disches Wunderland lockt, in dem alle Proportionen durcheinanderpurzeln, in dem sie ständig schrumpfen oder wachsen muss, um mitzuhalten, und Großes klein wird und Kleines groß.

So, meint Matussek, erging es der Nation im Rausch der Willkommens­kultur, die das Land verhexte und die guten Deutschen, die verzückt waren von ihrem Gutsein, in eine verrückte Gegenwelt entführte, in der Vernunft und gesunder Menschenverstand abge­schafft waren und über Bord geschmis­sen wie nutzloses Kartenwerk und in der die Deutschen außer sich waren wie auf LSD.

Er legt sie regelrecht auf die Couch, die Deutschen, und bescheinigt ihnen eine Art kognitiver Dissonanz: „Offen­bar heben wir uns die religiöse Eksta­se für die Politik der Regierung auf, im transzendenten Bereich dagegen sind wir ausgenüchtert bis in den Stumpf­sinn.“ Das Volk im Zustand der „See­lendämmerung“ hat eine schale Ersatzreligion gefunden – die Liebe zum Fremden, die lustvolle Vernichtung des Eigenen.

Während Robin Alexander in einer glänzenden Recherche mit seinem Bestseller „Die Getriebenen“ eine In­nenansicht der Macht lieferte, kommt Matussek mit einer Innenansicht un­serer Branche, die man einst die vierte Gewalt nannte, weil sie die Regieren­den kontrollierte, bevor sie sich, beson­ders in den öffentlich­-rechtlichen Anstalten, in einen regierungsbegleitenden Jubelchor verwandelte in einer „gespenstischen, weil freiwilligen Gleichschaltung“.

Matussek nimmt mit diesem Buch auch Abschied von dem Journalismus, mit dem er aufwuchs, dem mit Schreibmaschine und erst beginnender Digitalisierung, einem raubeinigeren Betrieb, in dem Redakteure nackt und derangiert im Fahrstuhl fuhren und sich ab und zu prügelten, in dem heftig getrunken und geliebt wurde, er kennt die Branche und erzählt von ihr, ja er entblättert eine veritable kleine Sittengeschichte des Journalismus.

Matussek begann bei Tageszeitungen, verbrachte Jahre beim „Stern“, über ein Vierteljahrhundert beim „Spiegel“ und zuletzt knapp zwei Jahre bei Springer, bis zu einem, sagen wir, lauten Abgang. Da hat sich eine Menge Material angesammelt, lustiges und verstörendes, das Verstörendste aber ist für ihn das Klima der Ängstlichkeit und politischen Korrektheit, die ihm in den Redaktionen besonders in den letzten Jahren „zunehmend die Luft abschnürte“. Den Tag seines Rausschmisses bei Springer schreibt er als grotesken kleinen Krimi aus („Auftritt Father Brown“) mit durchaus überraschender Auflösung.

Medien-Dämmerung
Matthias Matussek - "White Rabbit oder der Abschied vom gesunden Menschenverstand"
Zunächst aber ist dieser „White Rabbit“ ein Reiseabenteuer durch eine in den letzten drei Jahren veränderte Republik (die Immigrationstrecks ohne Papiere), eine veränderte Welt (Donald Trump), und zum Reisegefährten hat er sich einen legendären Kollegen genommen, den katholischen Konvertiten und Debattenkünstler, den Schöpfer der Father-Brown-Krimis Gilbert K. Chesterton, den Ernst Bloch einst „einen der gescheitesten Menschen, die je gelebt haben“ nannte.
Er ist ein Verwandter im Temperament, ein Polemiker von Gnaden und felsenfest in der katholischen Orthodoxie verankert. Das ist ihm wichtig, denn Chesterton liefert ihm notwendige Stichworte: „Das Christentum“, schreibt Chesterton, „ist eine sehr mystische Religion, und gleichzeitig war es immer die Religion der praktischen Menschheit. Es hat weit größere Paradoxa als die orientalischen Religionen, und trotzdem baut es bessere Straßen.“

Tatsächlich gibt Matussek im Vorwort eine Art Glaubensbekenntnis ab, was heutzutage durchaus als Skandal gelten darf, denn Journalisten reden in unseren Breiten nicht über ihren Glauben: Er sieht unser Land in einer metaphysischen Krise und gespalten in einem heftigen Kulturkampf zwischen, „hellem und dunklem Deutschland“, wie es der einstige Bundespräsident Gauck nannte, oder zwischen Rechts- und Linkspopulismus, wie es Matussek nennt, wobei er im Linkspopulismus die herrschende Ideologie erkennt, eine brachiale, die Sprachregelungen schafft und Kritik an der Regierung dadurch unterdrückt, dass sie sie unter Rechtsverdacht, ja unter Naziverdacht stellt und sogar mit strafrechtlicher Verfolgung droht und Denunziationen belohnt – im Kapitel „Denunzianten-Rodeo“ schreibt er darüber.

So intensiv und dicht, wie Matussek 25 Jahre zuvor mit seinem „Palast Hotel Zimmer 6101“ das zur Einheit rasende Deutschland beschrieben hat, so lustvoll und polemisch nimmt er sich das vereinte Deutschland der Gegenwart vor, das paradoxerweise alle Anzeichen eines Zerfalls in Ost und West aufweist. Wobei sich der Osten als hellsichtiger erweist, denn er kennt die Macht und frommen Lügen der Presse und die Antifa-Folklore zu Genüge.

Damals kassierte er Lob und Preise in seiner Branche, in den Jurys und bei seinen Kollegen im Westen, denn er nahm das Unrechtsregime der DDR und dessen Opfer unter die Lupe. Diesmal allerdings, so Matussek, sei die Sache komplizierter, denn diesmal nimmt er „das eigene Regime aufs Korn – eine Kanzlerin, die sich geriert wie eine Staatsratsvorsitzende, die am Parlament und eifrig abnickenden Blockparteien vorbei ihre einsamen Entscheidungen traf und dabei Recht und Gesetz missachtete“. Für solche Sätze kassierte er Prügel als Rechter und „gefährlicher Bürger“, wie es in einem Buch hieß.

So geht er also in sich und erkundet, amüsiert und kopfschüttelnd, wie es geschehen konnte, dass aus ihm, dem einst geachteten Journalisten, ein „Geächteter“ wurde. „Wenn Krömer und Böhmermann, wenn also beide mich im TV als Arschloch bezeichnen … hm, vielleicht ist da was dran?“

An einer plötzlich nachlassenden erzählerischen Kraft kann es auf jeden Fall nicht liegen, denn das Buch beginnt mit einer fulminanten Reportage, die ihn in die Praxis eines Marihuana-Doktors, durch die Wüste Nevadas, und in einen Knast in Arizona führt. („,You’re going to jail for this‘, blafft er, als ich auf der Kühlerhaube liege, und er reißt mir die Hände nach hinten, um mir Handschellen anzulegen. Ich denke noch: Wenn der mir die Schulter ausgerenkt hat, dann kann er was erleben.“)

Bis er schließlich doch noch nach San Antonio kommt, wo sich jene Gesellschaft trifft, die sich Chesterton, den „Apostel des gesunden Menschenverstands“ zum Heiligen erkor. Gesunder Menschenverstand, denkt sich Matussek, ist genau das, was unsere Zeit benötigt.

Ja, dieses Buch ist ein Monster

Matussek theoretisiert nicht über das Handwerk des Journalisten, er führt es vor. „Tja, und dann der Lake Mead, das Wasserreservoir, die Lebensquelle … Stark abgesunkener Pegel, umgeben von Bergflanken, die mit hohen gelben Löwentatzen in diese Restpfütze greifen wie ein durstiges Rudel, das sich knurrend um den letzten Schluck streitet.“ Da schaut ihm wahrscheinlich sein Idol aus Hippietagen über die Schulter und grinst anerkennend, Hunter S. Thompson, der Erfinder der drogenbefeuerten Gonzo-Reportage, und Gonzo ist eindeutig das, was Matussek auf diesem Trip treibt.

Seinen Job bei Springer beginnt er Anfang 2014, also in der Ruhe vor dem Flüchtlingssturm, einem Jubiläumsjahr, in dem er wie in einem Menetekel all die historischen Erregungszustände der Deutschen erinnernd vorbeiflimmern sieht, das kriegsekstatische Augusterlebnis zu Beginn des Ersten Weltkriegs 100 Jahre zuvor, 25 Jahre später das Schnarren in den Volksempfängern zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, („ab 5 Uhr 30 wird nun zurückgeschossen“), schließlich, 25 Jahre zuvor, der trunkene Freiheitstanz auf der Mauer. Nicht zuletzt der Gewinn der Fußball-WM in diesem Jahr, in dem sich die Nation zum letzten Mal parteiübergreifend selber feierte.

Deutschland, die Drama-Queen unter den Nationen, diejenige, die sich ihrer selbst am wenigsten sicher ist – Matusseks Essay darüber („Festung Europa“) ist mit wunderbaren autobiografischen Erlebnissen aus seinen Korrespondentenzeiten im Ausland durchsetzt. Bereits zwei Wochen nach Eintritt in die Redaktion der „Welt“ gerät Matussek in einen Shitstorm, den er, im Streit um Sexualerziehung für Pennäler, mit der britisch-zugespitzten Debattenzeile „Ich bin wohl homophob, und das ist auch gut so“ entfacht hatte. Eine Abmahnung bereits nach 14 Tagen. Matussek: „Das war neuer Rekord, beim ,Spiegel‘ als neuer Kulturchef hatte es immerhin zwei Monate gedauert.“

Matussek schildert den Shitstorm, den er nicht nur auf Facebook erlebte, sondern auch in einer offenbar humorlosen, politisch korrekten Redaktion: ein glänzender Anlass, den Mut der Verantwortlichen zu testen. In einer surrealen Satire („Experte für Abschiebung“) reicht er das Erlebnis in anderer Aufbereitung nach und übertreibt die ihm unterstellte Homophobie ins Absurde. Ja, dieses Buch ist ein Monster, es ist ein merkwürdiger und überaus unterhaltsamer Zopf aus Essayistik, Reportage, Reflexion.

Matussek, der Reporter, ist einer der Ersten, die unter den schweigenden Pegida-Demonstranten im Osten auf die Straße gingen, und schildert es im Kapitel „Schritte in der Nacht“: „Hier, in dieser Dresdner Nacht, hörte man Schritte. Verschlossene Gesichter. Vielleicht, dachte ich, laufen die so weiter, immer weiter, weit aus dieser Gesellschaft hinaus, aus der sie von ihrer Bundeskanzlerin zu Neujahr dann auch offziell ausgeschlossen wurden.“ Bisweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er nur deshalb zu den Rechten hält, weil sie gesellschaftlich geächtete Opposition sind. Er schreibt: „Rechts ist die spannendere Haltung.“ Vielleicht geht er in seinem Bemühen um Vorurteilsfreiheit zu weit, wenn er einen schwarzen AfD-Kandidaten ohne ideologische Begleitgeräusche porträtiert oder die Identitären feiert als Avantgarde einer neuen Kulturrevolution, aber der Gewinn für den Leser liegt darin, dass er „unbetreutes Denken“ und Eindrücke und Schilderungen aus erster Hand miterlebt.

Wie werden die Deutschen in 50 Jahren über die Bemühungen der Eliten von heute denken? Welche Literatur werden sie zurate ziehen, wenn sie Erklärungen dafür suchen, warum passiert ist, wovon viele heute befürchten, dass es passieren wird? Wird eine zufriedenstellende Rezeption der mittlerweile als umwälzend empfundenen Massenzuwanderung möglich sein?

Mit „White Rabbit“ hat er dem noch schmalen Kanon zur Flüchtlingspolitik nun ein gewichtiges Buch hinzugefügt, eines, das neue Einblicke gewährt und dringend benötigte Erklärungen dafür anbietet, warum die deutsche Gesellschaft, warum das politische System in den 2010er-Jahren so fundamental versagte, die Verantwortung für ein ganzes Land aufs Spiel gesetzt wurde und auch die Bürger nicht bereit oder in der Lage waren, die verantwortliche Regierung dafür zur Rechenschaft zu ziehen und so eine Kursänderung zu erzwingen.

Der Philosoph Rüdiger Safranski hat „White Rabbit“ bereits gelesen und resümiert: „Matussek in Hochform, zugleich links und konservativ, katholisch und anarchisch, polemisch und poetisch, diese einmalige Mischung. Er schildert eindringlich unser verändertes Land der Tugendbolde, der Schlafwandler, des politischen Kitsches, des betreuten Denkens und der verminderten Bereitschaft zur Selbstbehauptung. Wenig heitere Aussichten, aber dafür das reine Lesevergnügen.“

Linke Diskurshoheit durchbrechen

Ich hätte einen Vorschlag: Sind rechts und links, diese seit der französischen Revolution eingestanzten Lagerbegriffe, nicht ohnehin obsolet? Das Beharren auf Heimat zum Beispiel – ins Politische übersetzt: auf Nationalstaatlichkeit – ist ein klassischer rechter Topos. Gleichzeitig aber auch ein linker, denn er bedeutet Widerstand gegen den globalisierten Kapitalismus.

Wie wäre es, wenn wir die Achse drehen? Dann wäre die Linke auf die Zukunft hin angelegt, theologisch formuliert: eschatologisch orientiert, während die Rechte eher auf das Menschenmaß achten und den Ursprung bedenken würde. Das wären die Schwärmer auf der einen, die Realisten auf der anderen Seite. Also Rousseau versus Hobbes. Beide Haltungen sind wichtig. Wir aber haben uns leider angewöhnt, eindimensional nur die eine Diskurshaltung gelten zu lassen und die andere totzuschlagen.

Im Moment allerdings geht es darum, die alles erdrückende linke Diskurshoheit zu durchbrechen! Und, ja, auch, den Schulterschluss aus Politik und Journalismus, der seit Ende 2015 einen Riegel bildet, zu durchstoßen.


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