Ist Philip Plickerts Buch Pflichtlektüre für den, der über Merkel mitreden will, findet der Interessierte bei Markus Vahlefeld eine Beschreibung des denkwürdigen Zustandes, dass eine CDU-Kanzlerin mit den Themen von SPD und Grünen und deren Unterstützung mit einer Art Allparteien-Koalition regiert – der sich nur hin und wieder die Partei Die Linke verweigert.
Titel und Untertitel sagen unmissverständlich, worum es in diesem Buch geht. Geschrieben ist es Deutsch, doch die Erzählart ist wie der Zugang zum Thema angelsächsisch international, keine Spur von Provinzperspektive. Deutsch-Brite Markus Vahlefeld ist in Hong Kong geboren, wuchs in Hamburg auf, machte Abitur in Washington, D.C., studierte Philosophie in Bonn, Berlin und Barcelona, gründete eine Privatschule, wechselte in die Filmproduktion und arbeitet selbständig als Produzent und Autor. Das Thema fasst Vahlefeld so:
„Das Misstrauen gegen den Nationalstaat und jede Form des Patriotismus hatte im Deutschland des Jahres 2015 endlich und flächendeckend den Traum entstehen lassen, nicht mehr in einem begrenzten Nationalstaat oder einem Gebilde wie der EU – das sich aus Nationalstaaten zusammensetzt – leben zu müssen, sondern in einer ‚Welt jenseits der Zuordnungen’, in einer irdischen Gemeinschaft mit allen Menschen dieser Erde, die man nun nur noch glücklich willkommen heißen durfte. Die bis dato nur von linksextremen Splittergruppen zu hörenden Slogans ‚no borders’ und ‚kein Mensch ist illegal’ wurden unter einer CDU-Kanzlerin zur offiziellen Regierungspolitik.“
„Diskussionen über das Deutsche, das Deutschsein, deutsche Werte und deutsche Leitkultur waren seit den 70er Jahren in Deutschland nur schwer möglich und wurden regelmäßig von den Führern der linken Meinungselite in den Redaktionen, Universitäten und Parteien unterbunden. Man wolle, so hieß es, keiner positiven Besetzung eines neuen deutschen Patriotismus nachhelfen, denn deutscher Patriotismus verbiete sich spätestens seit Auschwitz. Die meist nur achselzuckenden liberalen Kräfte, die sich angewöhnt hatten, Indifferenz als Befreiung zu verkaufen, und die intellektuell und analytisch schwachen Konservativen in Deutschland ließen aus Angst, in die rechtslastige Ecke gestellt zu werden, ein fulminantes Vakuum entstehen.”
„Die positive Besetzung des Deutschseins wurde im öffentlichen Diskurs mit so vielen Stopp- und Verbotsschildern belegt, dass es für das politische und mediale Establishment das Geschmeidigste war, Deutschsein maximal als ‚Negation zum Nationalsozialismus‘ zu definieren. Alles andere sei schon die Fratze eines neuen zerstörerischen Nationalismus.”
So weit ist das Thema politisch Interessierten hierzulande bekannt, welche Position sie dazu auch selbst einnehmen. Dass den „Traum von der Überwindung der Nationalstaaten zur One World … weltweit die meisten Linken träumen“ und nicht bloß die in Deutschland, dürften noch relativ viele wissen. Weniger im Blick haben wohl die meisten hingegen, dass „Selbsthass und Lust an der Anklage der weißen Kultur in linken Kreisen generell weit verbreitet“ ist. Vahlefeld:
„Da unterscheiden sich die populistische Linke in England, in Frankreich, in Deutschland und inzwischen auch in den USA nur marginal. Was den Deutschen ihr Nazi-Feindbild, ist den Engländern und Franzosen ihr koloniales Erbe und den US-Amerikanern die Rassentrennung sowie der Umgang mit der indigenen Bevölkerung. Die Diskurse in den fortschrittlichen intellektuellen Kreisen des Westens ähneln sich auf frappierende Weise. Sie drehen sich um Schuld und Wiedergutmachung und die Gebote, die daraus erwachsen.“
Der Linkspopulismus war nie populär
Nicht in die deutsche Öffentlichkeit durchgedrungen ist, dass Brexit, Trump und Macron das Ergebnis der Gegenbewegung sind, die eingesetzt hat. Die Medien schreiben nahezu ausnahmslos darüber, wie es im U.K., in den U.S. gegen May und Trump und in Frankreich mit Macron zurück zum status ante quo geht. Sie tun das, weil sie übersehen oder nicht verstehen, was das gemeinsame der Abstimmungen in diesen Ländern ist (abgeschwächt auch in den Niederlanden): Ein großer Teil ihrer Bürger sagte nein zur bisherigen Politik. Vahlefeld:
„Es ist ja auch einer der nicht auflösbaren Widersprüche linken Denkens: das Aufreißen gewachsener Traditionen hilft vornehmlich, ein merkantiles Nützlichkeitsdenken zu installieren, das ebenfalls Traditionen nur als Störfaktor wahrnimmt. Die linke Vision von der One World spielt vor allem multinati- onalen Konzernen in die Hände und verpflichtet die Menschen darauf, sich in ein identitätsloses Effizienzheer einzugliedern, das weltweit nur noch den Maßstab der ausbeutbaren Bildung zu kennen scheint. Dass sich die Linken damit zu Bütteln des grenzenlosen Kapitals gemacht haben, ist ihnen viel zu spät aufgefallen, egal wie laut sie gegen Freihandelsabkommen wie TTIP auch demonstrierten.“
„Das linke Projekt des weltumspannenden Humanismus ohne Grenzen, für den sich die westlichen Gesellschaften kulturell radikal verändern und nanziell ausplündern lassen müssen, ist von der Mehrheit der Menschen inzwischen gewogen und als erheblich zu leicht befunden worden. Den Rollback eines neuen, durchaus auch aggressiven rechten Konservativismus haben sich die Linken mit ihrer intellektuellen Arroganz und ihrer Schwäche, Konkretes aus ihren internationalistischen Träumen erwachsen zu lassen, selbst zuzuschreiben. Denn der Unterschied – und diese Erkenntnis ist den Redlichen unter den Linken nicht neu – zwischen Links- und Rechtspopulismus ist ja der, dass der Linkspopulismus nie populär war.“
Die Achse Tusk/Juncker/Merkel
Der Autor beschreibt den Irrweg der deutschen Migrationspolitik im Verein mit der EU-Spitze, die in diesen Tagen bezeichnender Weise Bill Gates eindringlich kritisiert, und zieht diese Bilanz:
„Die Achse Tusk/Juncker/Merkel steht seitdem für die Abschaffung der nationalen Souveränität, was den rechten Parteien außerhalb Deutschlands, die die deutsche Übermacht immer schon mit allergrößter Skepsis verfolgten, in die Hände spielt. Was ihr CDU-Vorgänger Helmut Kohl, der Deutschland als Mittelmacht und unfreiwilligen Hegemon begriff, der vor allem nach der unseligen Geschichte stets um Ausgleich bemüht sein müsse, in Europa aufbaute, haut Angela Merkel mit Kaltschnäuzigkeit zu Scherben. Die wiederum ist die Kehrseite dieses humanitären Imperativs, der sein Pathos nur mit autoritärer Gebärde durchzusetzen imstande ist.“
Der „Widerstand gegen die Herrschenden“, den „die Linke“ in den Sechzigern ausrief, beendete sie final: „Mit dem September 2015 jedoch wurde endlich wahr, was Kaiser Wilhelm II so gerne gekannt hätte: keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Und die Linke skandierte mit Entzücken.“ Angela Merkel werde oft die Sozialdemokratisierung der CDU vorgeworfen. Doch, sagt Vahlefeld, vergliche man den letzten SPD-Kanzler mit Merkel, fiele auf, „dass Gerhard Schröder eine Agenda hatte und sie verfolgte, bis sie durchgesetzt war und dafür sogar seine Abwahl in Kauf nahm.“ Die Strategie Merkels dagegen sei „vollkommen agendalos“. Sie warte ab die Medienstimmung ab, bevor sie sich im letzten Moment entscheide. Deshalb seien das dann oft Kehrtwenden, als hätte sich Merkel vom Saulus zum Paulus gewandelt – freilich ohne gesellschaftlichen Diskurs. Die CDU sei also nicht sozialdemokratisiert, sondern habe sich von Merkel schlicht entpolitisieren lassen.
Ob die AfD als Abspaltung von der CDU dieser „weit mehr Schaden zufügen kann“, als die Abspaltung der Linkspartei der SPD, hält Vahlefeld für offen. Über die heutige Politiklandschaft sagt er:
„Wenn man die Reden der früheren Wortführer der Studentenproteste der 1960er Jahre heute nachliest oder -hört, stellt man fest, dass viele der Parolen von damals heute fast wortgleich von den sogenannten Rechten vorgetragen werden. Ob es die der Lügenpresse, der Systemmedien oder des Volkes, das belogen wird, ist: Die Revolution in Deutschland kommt immer mit einem Zuviel an Pathos und Hass daher.“
„Beide – die neuen Rechten wie die alten Linken – treten bzw. traten dafür ein, die durch das System sklerotisierte Demokratie wieder den Menschen zurückzugeben. Eines der Hauptanliegen der Grünen in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts waren Volksentscheide und der Kampf um die direkte Demokratie à la Joseph Beuys. Heute wollen die Grünen davon nichts mehr wissen; zu tief sind sie bereits im System angekommen. Die Geste des Systembrechenden und Revolutionären, die die neuen Rechten an den Tag legen, erinnert doch sehr stark an das Pathos der 1968er, und der heutige linke Abwehrreflex erscheint merkwürdig geschichtsvergessen.“
Den geistigen Abstand des Autors vermisse ich in den allermeisten Teilen der Medienwirklichkeit von heute.
Im Kapitel „Die Blase, in der wir leben“ analysiert Markus Vahlefeld den „Topos der Wiedergutwerdung der Deutschen durch das Ökologische, Weibliche, Offene und Pazifistische“ als eine Art Glaubensbekenntnis des (noch regierenden) Zeitgeists. Der demographische Niedergang des Westens (gegen den Migration helfen soll) habe „das Rad der friedlichen Kooperationen und zivilisatorischen Errungenschaften mit ungeheurer Schnelligkeit zum Drehen gebracht und hat erst jene linksliberalen, friedlichen Gesellschaften entstehen lassen, die merkwürdigerweise vor allem von den Linksliberalen mit dem größten Argwohn betrachtet werden“, hält der Autor dem Zeitgeist den Spiegel vor.
„Die Blase, in der wir leben“
Aus dem Kapitel „Das linke Denken“ sei als Appetizer zum Thema Populismus zitiert: „Das Wesen von politischen Bewegungen und politischen Parteien ist es, populistisch zu sein, was nichts anderes bedeutet, als ständig die Fahne im Meinungswind der Wählerklientel flattern zu haben und komplizierte gesellschaftliche Sachverhalte so darzustellen, dass auch Menschen, die kein Studium absolviert haben, sie zu verstehen meinen. Wenn es ein wirklich herausragendes Beispiel für Populismus gibt, dann ist es der Atomausstieg der Deutschen 2011.“
Zum gängigen Begriff linksliberal: „Der Zeitgeist gibt sich gerne als linksliberal, wobei beide Begriffe in ihrer Uneindeutigkeit fast alle Interpretationen zulassen. Links bedeutet im weitesten Sinne barmherzig, und liberal bedeutet irgendetwas mit tolerant und weltoffen. Der verbindende Kleber zwischen dem Linken und dem Liberalen ist der Glaube, dass nur staatliche Strukturen für eben diese Barmherzigkeit und diese Toleranz sorgen könnten. Linksliberal ist alles andere als liberal, wenn man die Verteidigung des Individuums gegen alle staatlichen Zumutungen als das Herzstück des Liberalismus begreift.“
Beim „Universalienstreit“ des Mittelalters ordnet Vahlefeld den Zeitgeist ein: Die „Entzerrung von Anspruch und Wirklichkeit ist auf merkwürdige Weise ein Markenzeichen des linken Zeitgeistes geworden. Jede Tatsache wird derart in das linke Weltbild eingepasst, dass für jeden, der diesem Weltbild nicht anhängt, das Widersprüchliche und die Unverhältnismässigkeit sofort sichtbar sind. Nur den Vertretern des linken Zeitgeistes scheinen die Widersprüche nicht aufzufallen. Zu geschlossen ist das Weltbild, zu festgefügt die Überzeugungen, als dass die Stimmen von Außen noch eindringen könnten. Dem linksliberalen Zeitgeist ist schlicht der Kompass abhanden gekommen, die angelegten Standards, die doppelt zu nennen eine Untertreibung wäre, noch zu erkennen.“
Viel mehr über Gender und Co. muss man eigentlich nicht lesen als: „Wenn schon das Geschlecht ein soziales Konstrukt sein soll, dann ist es die Sprache allemal. In ihr Herrschaftsfreiheit zu installieren, ist dann einfach zu verlockend. Wie nur definiert man Herrschaftsfreiheit und wie konnte es kommen, dass eben jene, die die Herrschaftsfreiheit wie eine Monstranz vor sich hertragen, zu denen wurden, die die Herrschaft über die Sprache an sich reißen konnten?“
Zur Schlüsselrolle des „Opfers“ im noch regierenden Zeitgeist formuliert Vahlefeld: „Im Deutschland des Jahres 2017 kann man sich absolut sicher sein, zu den Gutmeinenden zu gehören, sofern man diesen kleinen Dreh beherrscht: Der Minderheit ist immer der Vorzug zu geben vor der Mehrheit und Verfehlungen von Mitgliedern der Mehrheit fallen auf das Kollektiv zurück, während Verfehlungen von Mitgliedern der Minderheit grundsätzlich Einzelfälle sind. Damit soll dann wahre Demokratie und allerschönste Offenheit erreicht sein.“
Der verbreiteten Sicht, „wahre Demokratie entscheide sich an ihrem Umgang mit Minderheiten“, widerspricht der Autor: „Dass diese Einstellung einer Verbands- und Interessengruppendemokratie das Wort redet, wird schon gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Demokratie lebt aber nicht vom Schutz der Minderheiten, sondern vom Schutz des Individuums. Dass dieses im Verschwinden begriffen ist, muss als größter Vorwurf an die Progressiven gelten, die damit ein Projekt der Antimoderne vorantreiben, das schon seit einem Jahrhundert Europa zwischen den verschiedenen Formen des Sozialismus hin- und hertaumeln lässt. Denn die Abschaffung des Einzelnen ist die Verbindungsnaht zwischen den ganz linken internationalen und den ganz rechten nationalen Sozialisten.“
Das Kapitel „Die große Öffnung“ beginnt Vahlefeld mit diesem Satz: „Das Jahr 2015 zeichnet sich für Europa und für Deutschland in seinen historischen Dimensionen viel weniger durch das aus, was getan wurde, als durch das, was nicht getan wurde.“ Seine Schilderung der Folgen von „Unterlassung als Politik“ habe ich so kompakt noch nirgendwo an einem Stück gelesen.
Man muss wohl den geistigen Abstand der Biografie des Autors haben, um im Kapitel „Der Sound der Krise“ auf den Punkt zu sagen: „Vom Standpunkt einer Volkspartei sind die Grünen nicht mehr als eine Sekte. Aber sie haben es geschafft – und diese Hochachtung muss man den Grünen zollen –, das gesamte Parteienspektrum in Sippenhaft zu nehmen. Die LINKE unterscheidet sich von den Grünen, weil sie ein etwas entspannteres Verhältnis zu Antisemitismus, Mauer und Todesschützen hat, die SPD durch ihre putzige Arbeiterrhetorik, die CDU durch ein wenig mehr Hang zum Großkapital und die FDP durch ihre Betonung des Individuums. Dem grünen Mythos jedoch, dass sich ein Deutschland nach 1945 in Negation zum Nationalsozialismus entwickelt habe und auf den entscheidenden Pfeilern von Ökologie, Pazifismus, Offenheit und Gender beruhe – diesen Mythos haben sie alle übernommen und zur deutschen Staatsräson erklärt.“
Das hochkomplexe Mediensystem berichtet unterkomplex
Vahlefeld berichtet auch von einer Studie der Hamburg Media School mit dem Fazit: „Die Glaubwürdigkeit der ‚vierten Säule der Demokratie‘, deren Aufgabe es sein sollte, die Herrschenden zu kontrollieren, statt sie offensiv in ihrer Politik zu unterstützen, hat arg gelitten.“ Und ergänzt: „Ein hochkomplexes System wie die deutsche Medienlandschaft hat völlig unterkomplex über die ‚Flüchtlingskrise‘ berichtet. Ein wichtiger Hinweis, um diese Unterkomplexität zu erklären, sind Umfrageergebnisse zur Parteienneigung, die unter deutschen Journalisten durchge- führt wurden. Sie kommen recht regelmäßig zu dem Schluss, dass – ginge es nach deutschen Journalisten – die Partei der Grünen stärkste Kraft in Deutschland wäre und die SPD abgeschlagen dahinter folgen würde. Dürften nur Journalisten den deutschen Bundestag wählen, Grün/Rot/Links hätte eine stabile 2/3-Mehrheit.“
Statt der umlaufenden Verschwörungstheorien über Merkels Motive und die Unterstützung bis Duldung ihrer (Nicht)Handlungen bietet Vahlefeld die mir sympathische Formel an: „Es mag Kalkül, Rafinesse oder schlicht Faulheit gewesen sein, eine ganze Nation an ein grünes Nationalnarrativ verkauft zu haben.“ Oder um mit Merkel zu sagen: Jetzt ist es halt so.
Gepflegter Spott gehört auch zum Repertoire von Markus Vahlefeld, wie wir hier lesen können:
„Es gehörte fast zum guten Spiel der Demokratie westlichen Zuschnitts, dass ein nicht unerheblicher Graben zwischen der working class (kurz: dem Steuerzahler) und der chattering class (kurz: der Bildungselite) bestand, dessen völliges Auseinanderdriften wie in einem Spagat eine Regierung zu verhindern trachten musste. Die dadurch entstehende Dynamik setzte Diskursenergie und intellektuelle Kräfte frei. Gleichzeitig blieb dem linken Zeitgeist erspart, in irgendeine Verantwortung treten zu müssen, was – so darf man vermuten – der Idealzustand der chattering class ist.
Angela Merkel jedoch hat den Zeitgeist in die Regierungsverantwortung erhoben, die ’schnatternde Klasse‘ als praktische Vernunft geadelt und das Hochtechnologieland Deutschland einer Bildungselite ausgeliefert, die Fortschritt allein als moralischen Fortschritt definiert und den technischen verabscheut. Aber schon Sören Kierkegaard wusste: ‚Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird bald Witwer sein!'“
Ganz ernst ist Vahlefelds Zusammenfassung des Geschehens Ende 2015:
„In Anlehnung an die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land 2006, als bei strahlendem Sommerwetter die ‚Welt zu Gast bei Freunden‘ war, wurde das unkontrollierte Eindringen von hunderttausenden Fremder auch in den nicht unseriösesten Medien als ‚Sommerrefugeemärchen‘ gefeiert, das den klein- kindlichen Komplex der Deutschen, vom Rest der Welt nicht mehr geliebt zu sein, endlich kompensierte. Und wer nicht spurte, war ein menschlicher Lump, besser noch ein ‚Defätist‘, wenn nicht gleich ein Nazi in Nadelstreifen.
Die Volksvertretung des deutschen Volkes, der Bundestag, schaffte es noch nicht einmal, eine Generaldebatte über die wohl wichtigste Entscheidung seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 abzuhalten. Und die Kanzlerin? Sie hielt ihre Regierungserklärung in einer Sonntags-Talkshow, in der sie mehrmals betonte, dass Deutschland seine Grenzen nicht schützen könne („Wie soll das gehen?“) und dass eine Obergrenze mit dem deutschen Grundgesetz nicht vereinbar sei.“
„Der infantile Traum von der einen Menschheit, in der sich alle lieb haben, wurde für sechs lange Monate Regierungsprogramm.“
Eine Schilderung der Umstände und Folgen des führungs- und richtungslosen Geschehens folgt, von der schlichten Feststellun unterbrochen: „Hätte Angela Merkel die Anreize, die sie und das deutsche Sozialsystem so gerne ausstrahlen, zurückgefahren, es wäre die beste Art der Fluchtursachenbekämpfung gewesen.“
Eurabia
Das Kapitel „Eurabien“ wird für viele Leser unvertraute Gedankengänge enthalten. Es beginnt so:
„Das konservative Denken in Deutschland verlor seine Unschuld 1933, als es sich nicht streng genug von der nationalsozialistischen Bewegung absetzte, sondern in dem blanken Umstand des Umsturzes und der Machtergreifung eine zumindest faszinierende historische Kraft sah. Die europäische Linke verlor ihre letzte Unschuld mit dem französischen Denker Michel Foucault, der als bekennender Homosexueller die islamische Revolution im Iran 1979 förmlich herbeiphilosophierte.“
Von nicht minderer Eindringlichkeit ist:
„Die Lust der Intellektuellen, im Mantel der Befreiungsbewegung unmenschlichsten Unterwerfungsideologien zu huldigen, ist kein neues und kein linkes Phänomen. Der Geist des Westens, der einst alle Autoritäten stürzte, hat eine nur als psychodynamisches Phänomen erklärbare Sehnsucht nach Gewalt und Unterdrückung. Die neuerdings in feministischen Kreisen erfolgte Umdeutung des islamischen Kopftuchs als Symbol und Zeichen weiblicher Befreiung steht in dieser Tradition des Selbstekels und des Wunsches, aus der als Langeweile erlebten Kulturharmonie auszubrechen.“
Erschrecken muss dieser Satz: „Würde heute Salman Rushdie seine ‚Satanischen Verse‘ schreiben, er gälte als islamophober Rassist und Zündler.“
Der Bogen zum Thema „Ehe für alle“, das nicht Gegenstand des Vahlefeld-Buches ist, schließt sich, wenn er schreibt:
„Wollte man den Kampfbegriff der Islamisierung vermeiden, so kann man zumindest ein religiöses Rollback feststellen, das ob der latenten Illiberalität der Religionen einer liberalen Gesellschaft schlecht zu Gesicht steht. Und wenn dann politische Ideologen im Kardinalskostüm wie der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki behaupten: ‚Wer Ja zum Kirchturm sagt, der muss Ja sagen zum Minarett‘ – so kann man ihnen nur entgegnen, dass dann das Nein zum Kirchturm für jeden liberalen Demokraten zur Pflicht wird.
Konnten sich die linken Intellektuellen in den 60er und 70er Jahres des letzten Jahrhunderts nicht genug an religiösen Symbolen abarbeiten, und mussten, wo immer möglich, Kirche, Christus und Gott mit Unflätigkeiten beworfen werden, so hört heute schon bei Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Tageszeitung der Spaß für die Linksliberalen auf.“
Was der des Antisemitismus nicht unverdächtige Professor Georg Meggle aus Leipzig als Vision von Eurabia als Bollwerk gegen Afrika südlich der Sahara entwirft, weckt beim Historiker ungute Erinnerungen. Markus Vahlefeld schließt so:
„Was auf jeden Fall notwendig erscheint: die Karten auf den Tisch zu legen und endlich einen offenen Diskurs über die zukünftige geostrategische Entwicklung Europas zu beginnen: Will es weiter ungehemmt wachsen oder will es sich selbst zu einer Festung umbauen, die u.U. die Preisgabe des europäischen Umfelds an Russland und China bedeuten würde.
Momentan erscheinen die östlichen Nachbarn Deutschlands zwar wie verhaltensauffällige, unflätige Kinder; sie könnten aber der Fels in der Brandung gegen die derzeit waltenden Großraumphantasien der europäischen Eliten sein. Dann aber muss die für die nahe Zukunft entscheidende Aufgabe Europas geklärt werden: Wie werden Grenzschließungen am nördlichen Mittelmeer durchgeführt, und wer kämpft die erwartbaren Kriege – auch wenn es Verteidigungskriege gegen das Eindringen von Millionen Wanderungswilligen sein sollten?
Wie lange solche Kriege von einem pazifistischen Europa wirklich durchzuhalten sind, steht dabei in den Sternen.“
Vor sein erstes Buchkapitel – „Der deutsche Komplex“ – setzte unser Autor ein Churchill-Zitat: „Das ist der größte Vorwurf an die Deutschen: Dass sie trotz ihrer Intelligenz und trotz ihres Mutes immer die Macht anhimmeln.“
Aber dabei muss es nicht für alle Zeit bleiben, sondern wird sich unvorhergesehen und plötzlich ändern. Das steht nicht bei Vahlefeld. Ist nur meine unerschütterliche Meinung.
Markus Vahlefeld, Mal eben kurz die Welt retten. Die Deutschen zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung, Softcover, 240 Seiten, 16,00 €
Empfohlen von Tichys Einblick. Erhältlich im Tichys Einblick Shop >>>