Tichys Einblick
Die Erfindung der sozialen Marktwirtschaft

Ludwig Erhard – Der Exot im Kanzleramt

„Wohlstand für Alle“ erscheint in originalgetreuer Neuauflage. Es lohnt sich, das Buch aus der Perspektive von 2020 zu lesen. Dabei wird deutlich, warum sich die CDU heute kaum noch auf ihren Wirtschaftswunder-Minister beruft.

Die Entwicklung der Reallöhne zählt zu den traurigen Kapiteln der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Von 1970 bis 1991 stiegen sie noch stark an, deutlich flacher schon nach dem statistischen Bruch durch die deutsche Einheit. Seit etwa 2000 stagnieren die realen Einkommen der Beschäftigten nach Berechnungen des DIW.  Der heftige Absturz der Reallöhne durch die Corona-Folgen im zweiten Quartal 2020 – 4,7 Prozent, der stärkste Rückgang seit 2007 – fügt noch eine Fußnote an. Für viele Beschäftigte bedeutet das einen Wohlstandsverlust. Nicht für alle, aber für viele. Nicht nur der Rückgang in Prozenten illustriert die wachsende Ungleichheit im Land. Gut 14 Prozent der Arbeitnehmer in Westdeutschland und 27 Prozent im Osten verdienten schon vor dem Corona-Schock weniger als 2000 Euro brutto bei Vollzeitarbeit.

Ein Autor legt nun auf 400 Seiten ein Rezept vor, wie diese Entwicklung zu stoppen und umzukehren wäre. Seine Grundaussage steht, das gleich vorab, quer nicht nur zur Wirtschaftspolitik der gegenwärtigen Bundesregierung, sondern auch zu den Empfehlungen der meisten Politiker, die hauptsächlich Steuererhöhung und höhere Transfers fordern. „Das erfolgversprechendste Mittel zur Erreichung und Sicherung jedes Wohlstandes“, meint der Verfasser des 400-Seiten-Buchs, „ist der Wettbewerb.“ In wirtschaftlicher Konkurrenz und einer steuerlichen Zurückhaltung des Staates läge der Schlüssel zu einem „Wohlstand für alle“.

Der Autor, der Leser der Rezension merkt es wahrscheinlich, gehört nicht zu den Zeitgenossen. Er heißt Ludwig Erhard, Ökonom, Wirtschaftsminister und Bundeskanzler von 1963 bis 1966. Sein Buch „Wohlstand für alle“ stammt von 1957, also aus einer tief vergangenen Epoche. Der Econ-Verlag hat diesen legendären Klassiker der deutschen Wirtschaftsliteratur jetzt anlässlich seines 70. Verlagsjubiläums in originalgetreuer Neuauflage wieder herausgebracht.

Der Mann mit der Zigarre platzt mit seinen Thesen als Provokateur in die Diskussionen der Gegenwart. In den Fernseh-Talkshows hätte er mit seiner Formel von Wettbewerb und Staatsbeschränkung vermutlich alle anderen Diskutanten gegen sich. Gerade deshalb empfiehlt es sich, das mehr als 60 Jahre alte Werk so zu lesen, als käme es erst jetzt in den Handel.

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Erhard, seit Ende der zwanziger Jahre als Ökonom tätig, setzte mit seinen Überlegungen und seiner Politik nach 1945 an einem sozialen Problem an: der seiner Ansicht nach zu starken gesellschaftlichen Gliederung in eine schmale Oberschicht und eine große einkommensschwache Klasse. Die Ausweitung des Wohlstands sollte nach seinen Vorstellungen zu einer Abnahme der sozialen Spannungen führen. Als Erhard 1949 sein Amt als Wirtschaftsminister antrat, hatten nahezu alle Sparer ihr Geldvermögen durch den Währungsschnitt verloren, die sozialen Unterschiede waren gewaltig, die Löhne niedrig.

Dafür stand die Weltkonjunktur günstig; unter diesen Bedingungen wurde sein Experiment der Preisfreigabe von Kanzler Adenauer und einer Bevölkerungsmehrheit überhaupt erst geduldet, aber nicht bejubelt. Denn erst einmal schnellten die Preise nach oben, die Löhne folgten langsam. Erhards Marktwirtschaft begann mit einem Anpassungsschock. Der Staat setzt als Schiedsrichter möglichst gleiche und faire Bedingungen durch, innerhalb des gesetzten Rahmens konkurrieren Unternehmen, die selbst vom Massenwohlstand profitieren – so lautete die nach 1945 die Theorie von Walter Eucken, Franz Böhm und Alfred Müller-Armack, die Erhard mit Fortune in der praktischen Politik verwirklichte. Eine Weltwirtschaftskrise in den Fünfzigern hätte sein Experiment zunichte gemacht und Deutschland wieder in eine dirigistische Politik getrieben, die schon damals den meisten CDU-Politikern sympathischer war, der SPD vor ihrem Godesberger Programm sowieso.

Politisch war Erhard ein Exot, der sich gegen alle Widerstände durchsetzte. Auch darin – das war vermutlich seine kleine Rache gegen das Misstrauen aus Parteikreisen – dass er zwar formell sehr spät der CDU angehörte, erst ab 1966, sich wohl aber nie darum kümmerte, Parteibeiträge zu zahlen. Erhards letzter Mitarbeiter Horst Friedrich Wünsche bestand sogar darauf, der zweite Kanzler der Bundesrepublik sei nie ordentliches Mitglied gewesen.

Als er „Wohlstand für Alle“ 1957 vorlegt, konnte niemand mehr seinen Erfolg bestreiten. Es sind drei Grundideen, die er zusammenführt:

Erstens soll Wettbewerb sowohl die Innovation und die Wertschöpfung ankurbeln und gleichzeitig Verbrauchsgüter erschwinglich machen. Nur der Wettbewerb, so Erhard, „führt dazu, den wirtschaftlichen Fortschritt allen Menschen, im besonderen in ihrer Funktion als Verbraucher zugute kommen zu lassen, und alle Vorteile, die nicht unmittelbar aus höherer Leistung resultieren, zur Auflösung zu bringen.“ Unberechtigte Vorteile – das sind für ihn Kartelle, Monopole und protektionistisch abgeschirmte Bereiche einer Volkswirtschaft. Wettbewerb – dieser Gedanke wirkt heute ziemlich fremd, ist aber nicht falsch – dient für ihn als Mittel zum Zweck, um „dem Egoismus einen Riegel vorzuschieben“ Egoismus, das bezog sich in seinem Gesellschaftsbild auf Gruppen- beziehungsweise „egoistische Sonderinteressen“.

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Zweitens plädiert er für Steuerzurückhaltung, um zu verhindern, dass der Staat den Produktivitätszuwachs gleich wieder einkassiert. „Dieses Ziel kann auch nur erreicht werden“, argumentiert er, „wenn wir die Staatsaufgaben wenigstens auf der gegenwärtigen, ja keineswegs unbeträchtlichen Höhe zu halten vermögen.“  Sind die Ausgaben gedeckelt, während des Sozialprodukt steigt, so Erhard in dieser geradezu paradiesischen Verheißung, dann könnte die relative Steuerlast praktisch von selbst sinken, während die Einkommen quer über alle Beschäftigten nach oben klettern. In der Frühzeit der Bundesrepublik herrschte noch ein stark progressiver Steuertarif mit einem Spitzensatz von 95, ab 1958 von 53 Prozent. Allerdings griff der erst ab 110.000 Mark, einem wirklichen Spitzeneinkommen. Noch 1965 lag das Durchschnittsgehalt eines Beschäftigten bei 4.775 Mark im Jahr. Interessanterweise ließ der Staat gut 1.600 Mark steuerfrei. Er ließ also Berufseinsteiger und Geringverdiener unbehelligt. Heute liefert schon jemand, der zum Mindestlohn in Vollzeit arbeitet, einen Teil an das Finanzamt ab, sofern er Single ist.

Drittens gehörte eine liberale Außenhandelspolitik zu Erhards Formel. Zum einen, um den Export zu fördern, zum anderen, um durch den Abbau von Zollschranken das Angebot und damit die Güterpreise im Inland zu senken.

Den Wohlstand so breit wie möglich verteilen, gesellschaftliche Konflikte mindern – für den Wirtschaftsminister und späteren Kanzler war das der beste Weg, um einen neuen Absturz in einen Totalitarismus zu verhindern. Mit der sozialen Marktwirtschaft, lautet sein Fazit, habe Deutschland „das Vertrauen der Welt zurückgewonnen“.

„Wohlstand für Alle“ versammelt programmatische, volkswirtschaftliche und beschreibende Abschnitte. Vieles wirkt stark zeitgebunden. Anderes nicht. Bemerkenswerterweise setzt sich Erhard in den fünfziger Jahren auch schon mit dem Gedanken der damals geforderten europäischen Harmonisierung auseinander. Beim Abbau der Zollschranken: ja. Aber nicht in der Wirtschaftsverfassung: „Von Sizilien bis zum Ruhrgebiet kann es keine gleiche Produktivität und damit auch keine gleichen Arbeitskosten geben.“

Aus der Perspektive des Jahres 2020 wirkt vor allem die Differenz zwischen Erhards sozial-merkantilistischen Ansatz und der Gegenwart erhellend. Um ein Beispiel herauszugreifen: Die Stromerzeugung unterwarf gerade die Spätnachfolgerin Erhards egoistischen Sonderinteressen der Grünstromproduzenten – mit der Folge, das Deutschlands Strompreise die höchsten in Europa sind. Auch die Steuer- und Abgabenpolitik, ablesbar an den oben erwähnten Reallöhnen, vergrößert heute die sozialen Unterschiede, statt sie zu verringern.

Nur noch selten beruft sich die CDU heute auf ihn, aus gutem Grund. Aber wenn sie es aus Versehen doch tut, wäre es ein Mirakel, das man gern sehen würde, dass Ludwig Erhard die Einladung annimmt wie der Komtur in „Don Giovanni“, und als steinerner Gast durch die Wand des Talkshowstudios bricht.

Kürzlich behauptete ein CSU-Politiker, Erhard wäre heute für die Frauenquote in Unternehmensvorständen. Dafür findet sich in „Wohlstand für Alle“ kein Indiz. Erhard war zwar Mitglied der CDU, hat aber nie Beiträge geklebt. Er ahnte wohl, welchen Weg die CDU gehen würde, um bei Angela Merkel, Friedrich Merz und Blackrock zu enden: Am Ende hätte er beide bekämpft: Den Sozialismus der Kanzlerin und den Monopolkapitalismus ihres Herausforderers.

Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle. Originalgetreue Neuauflage, Hardcover mit Schutzumschlag, Econ, 400 Seiten, 20 €.


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