Tichys Einblick
TICHYS LIEBLINGSBUCH DER WOCHE

»Links bin ich schon lange nicht mehr«

Monika Maron war 20 als die Mauer gebaut wurde, 40 als ihr Debütroman »Flugasche« im Westen erschien. 60 Jahre nach dem Bau der Mauer, die dem Freiheitsbedürfnis der Menschen nur 28 Jahre standhielt, hat sie mit 80 ihre literarische Heimat gewechselt. Die Freiheit, zu sagen was sie denkt und für richtig hält, hat sie sich nie nehmen lassen.

»Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich eines Tages rechts ein könnte. In meiner Jungend war ich links. So hatte man mich erzogen, und außerdem waren fast alle, die ich kannte, irgendwie links, schon wegen der deutschen Geschichte, wegen Sartre, Böll, Brecht, Heiner Müller. Sogar Wolf Biermann war links. Links bin ich schon lange nicht mehr. Ich dachte immer, ich sei liberal, aber im Fernsehen und in der Zeitung sagen sie, ich sei rechts. Und nun zermartere ich mir den Kopf, wie das passieren konnte. Ich bilde mir ein, ähnlich vernünftig zu sein, wie früher, als ich nicht mehr links, aber noch nicht rechts war. Welche Achse hat sich gedreht, dass ich mich auf einer anderen Seite wiederfinde, ohne die Seite gewechselt zu haben? Doch die in meinem Kopf? Oder hat jemand am Meinungskompass gedreht, sodass Osten, Westen, Norden und Süden, also rechts, links, liberal und ahnungslos, völlig durcheinandergeraten sind?«

Dieser Auszug aus einem Essay, der im hier empfohlenen Band enthalten ist, bringt nicht nur das fassungslose Erstaunen von Monika Maron zum Ausdruck, sondern auch das lebensgeschichtliche Dilemma aller, die Freiheit und Bürgerrechte ersehnt, für sie gelitten, sie schließlich erstritten haben und sie nun höchster Gefahr ausgesetzt sehen.

Fast spielerisch beschreibt sie den größten Umbruch der Nachkriegszeit, die Wiedervereinigung. Nicht aus Ostsicht, auch nicht aus Westsicht.  Erstaunt beobachtet sie »die Zwillinge, die einander erkennen«. Es geht dabei nicht nur liebevoll zu.

In einem Interview für die Tagesspiegel-Beilage der Humboldt-Universität erinnert sich Maron, am Anfang nicht unbedingt gegen die Mauer gewesen zu sein, da sie damit das Problem gelöst sah, die Arbeitskräfte im Land halten und einen »gerechten und richtigen Sozialismus« aufbauen zu können – doch sie habe relativ schnell erkannt, dass die Mauer eine ganz andere Funktion habe. Es ist die Entwicklungsgeschichte einer Enttäuschung. Die hohen Worte der Politik enttarnen sich als hohl. Die Grenze ist nicht nur eine Demütigung des ganzen Volkes, sie verlagert sich nach innen. Marons präzise Beobachtung legt mehr offen als dröhnende Leitartikel und Politikerreden.

Poetisch, elegant, humorvoll, unerschrocken
Wer sich fragt, ob er verrückt wird, ist es meist nicht
So schreibt sie über einen Restaurantbesuch in der »Hauptstadt der DDR«: »Das ›Rôti d‘Or‹- was so viel heißt wie ›Goldener Braten‹ – im Palasthotel ist ein Valutarestaurant, von den Bewohnern der Hauptstadt ›Restaurant für Weiße‹ genannt, wobei sie selbst die Schwarzen sind, denn in der Währung, die sie verdienen, darf hier nicht gezahlt werden.«

Im Gespräch mit TE sagte Monika Maron, dass sie die »kleinen Worte« liebe. Ja, das stimmt: Sie dröhnt nicht und haut nicht drauf, gebraucht keine stilistischen Taschenspielertricks, sondern schildert schlicht, was sie erfährt und beobachtet – und bewirkt gerade so einen tiefen, echten Eindruck beim Leser.

»Wer Geschichte im Sinne des Durchlebthabens von dramatischen Umbrüchen wesentlich nur aus dem Schulunterricht, dem Studium und den Medien kennt, der hat in bestimmter Weise Glück gehabt«, schreibt Jürgen Kaube in seinem Vorwort zu »Was ist eigentlich los?« und fährt fort: »Viele Umbrüche sind keine guten und niemandem zu wünschen. In anderer Hinsicht verschiebt sich dadurch aber die Gelegenheit zur Willensbildung und zum Selbstbewusstsein davon, was es heißt, unter extremen Umständen nicht den Verstand zu verlieren. Gar keine Umbrüche verführt zum Verdämmern des Freiheitsgefühls.«

Dieser Band versammelt wunderbare Essays entlang der jüngsten Bruchlinien deutscher Geschichte. Und auch den neuen Umstürzlern der großen Transformation tritt Maron mit leisen Tönen entgegen:

»Natürlich musste ich wie fast alle Menschen über fünfzig, sofern sie in ihrer Jugend überhaupt Ideale und Überzeugungen hatten, erfahren, dass man zwar aus guten Gründen falsche Überzeugungen haben kann, dass aber alle Veränderungen Nebenwirkungen haben, die man vorher nicht bedacht hat…«

Monika Maron, Was ist eigentlich los? Ausgewählte Essays aus vier Jahrzehnten. Hoffmann und Campe, Hardcover mit Schutzumschlag, 192 Seiten, 22,00 €


Empfohlen von Tichys Einblick. Erhältlich im Tichys Einblick Shop >>>
Die mobile Version verlassen