Wer heutzutage Debatten führt, der stößt schnell auf Kampfbegriffe, die eben diese Debatte abwürgen sollen. „Ok, Boomer“ ist einer davon. Doch viel gängiger ist der Begriff: „Der alte weiße Mann“. Mit diesem Begriff soll eine politische Gruppe abgewürgt werden, die größer ist als der eigentliche Begriff vermuten lässt. Hinter der in Wirklichkeit die Mehrheit in diesem Land steht, wie Norbert Bolz vermutet. Darin sieht der Autor die eigentliche Motivation dafür, zu diesem Kampfbegriff zu greifen. Welche Akteure dahinterstecken und welche Ziele sie verfolgen, erklärt Norbert Bolz in seinem Buch „Der alte, weiße Mann“.
Früh fällt dem Leser auf, welch hohe Dichte an Zitaten Bolz präsentiert: Voltaire gehört zu seinen Stichwortgebern, ebenso Luhmann, Nietzsche oder Hobbes. Aber auch weniger bekannte Wissenschaftler lässt der Autor zu Wort kommen wie Thomas Sowell oder René Girard. Eigene Abschnitte widmet er Cass Sunstein, Antonio Gramsci und dem Ideenkonflikt Rousseau versus Marx. Warum er das tut, erklärt Bolz später selbst: Es werde deutlich, dass sich ohne Maßstäbe, Standards und einem Kanon großer Bücher nicht argumentieren ließe – und dass die Argumentation eine wichtige Gegenstrategie sei.
Eine Gegenstrategie in einem Kulturkampf, der laut Bolz längst ausgebrochen ist und zu dem ein Krieg gegen die Vergangenheit gehört. Erklärt hätten diesen Krieg die sogenannten 68er. Politisch seien sie gescheitert. Sie wollten die Massen befreien, doch die Massen interessierten sich nicht für sie. Das habe zum einen zum Frust bei den linken Führern dieser Generation geführt. Zum anderen habe es sie zu neuen Strategien ermutigt. Die bekannteste ist gleichzeitig die erfolgreichste: „Der Marsch durch die Institutionen“, den seinerzeit der italienische Kommunist Antonio Gramsci ausgerufen hat.
Heute scheinen die Protestierer der 68er-Epoche und ihre Nachkommen am Ziel angekommen zu sein. Sie stellen die Führungskräfte im Journalismus und in der Politik, aber auch in der Pädagogik und im vorpolitischen Raum. Damit haben sie die Meinungshoheit übernommen. Und das, obwohl sich die Grundkonstante gut 50 Jahre nach Beginn ihres Marsches immer noch nicht verändert hat: Die Massen stehen weiter nicht hinter ihnen. Nur ist die linke Elite schlauer geworden: Wenn sich die Mehrheit nicht bekehren lässt, baut sie ihre Gesellschaftsordnung eben auf den Minderheiten auf.
Dabei stößt dieser Text nun auf ein Problem, das Norbert Bolz auch in „Der alte, weiße Mann“ erörtert. Es ist schwer, den Bestimmern einen Namen zu geben. Nicht weil es an Ansätzen fehle oder an sprachlicher Kreativität. Sondern weil es ein von den Bestimmern aufgestelltes Tabu ist, sie bei einem Namen zu nennen. Damit ist auch gleich die Strategie beschrieben, mit der sie als Minderheit der Mehrheit ihr Gedankengut aufzwingen: Sie moralisieren, sie setzen den öffentlichen Dialog verbaler Gewalt aus, sie vermitteln der Mehrheit das Gefühl, die eigentliche Minderheit zu sein und schaffen so das, was Noelle-Neumann die Schweigespirale genannt hat.
Am ehesten lasse sich diese aggressive Minderheit anhand ihrer Ideologie benennen: die Woken. Dieses „Woke“ beschreibt die einst gut gemeinte Absicht, Minderheiten vor verbal gewalttätiger, öffentlicher Diskussion zu schützen, indem gewisse Begriffe aus Sensibilität heraus nicht mehr verwendet werden. Zum Beispiel das N-Wort für Menschen, deren Vorfahren als Sklaven in die heutigen USA gekommen sind und dort heute eine Minderheit stellen. Diese Sensibilität sollte die Betroffenen aufwerten und ermutigen aus ihrer oft prekären sozialen Lage aufzubrechen und rassistische Benachteiligung zu bekämpfen, die es etwa im Süden der USA noch immer massiv gibt.
Doch diese gute Absicht ist längst als Machtinstrument der woken Minderheit missbraucht. In diesem Text hat TE darauf verzichtet, das „N-Wort“ auszuschreiben. Das ist nicht nur der Sensibilität geschuldet – sondern auch dem Selbstschutz. Würden wir es nutzen, müssten wir spürbare Sanktionen erdulden: Suchmaschinen und soziale Netzwerke würden das Wort erkennen und daraufhin unsere Reichweite drosseln. Das würde wiederum den Verlust von Lesern bedeuten, der Absprung von Werbekunden würde drohen und das Fortbestehen dieser Seite wäre gefährdet. Also schreiben wir N-Wort. Kaum einer traut sich heute noch, es auszuschreiben – nicht mal im Zusammenhang mit dem Mainzer Fastnachts-Sänger, der es als Nachnamen trägt.
Nun wurde das N-Wort tatsächlich grob eingesetzt, in der eindeutigen Absicht, die damit bezeichnenden Menschen herabzuwürdigen. Es lässt sich also durchaus einsehen, diesen Begriff nicht mehr zu verwenden. Doch dabei ist es längst nicht stehen geblieben. Das N-Wort wurde durch den Begriff „Schwarzer“ ersetzt. Doch das war ebenfalls rassistisch und wurde durch das nicht rassistische „Farbiger“ ersetzt, dann durch „People of Color“ und so weiter. Letztlich geht es nicht um den korrekten Begriff, wie Bolz ausführt. Sondern um die Macht über die Begriffe und somit die Macht über die öffentliche Debatte. Wer seinem Gegenüber jederzeit den Vorwurf machen kann, einen unzulässigen Begriff verwendet zu haben, der kann ihn vor sich hertreiben, zwingt ihn zu übergroßer Vorsicht und zur Ungenauigkeit. Die woke Minderheit will nicht, dass ihr Gegenüber korrekt formuliert. Sie will darüber bestimmen dürfen, ob ihr Gegenüber korrekt formuliert.
Bolz bleibt in „Der alte, weiße Mann“ in dieser Beschreibung der Vorgänge nicht stehen. Er analysiert die Herkunft der woken Minderheit, die den Kampf der Kulturen führt. Und ihre Ziele. Sie stammen aus dem wohlhabenden Bürgertum, das es sich leisten kann, ihnen eine überlange Ausbildung an Gymnasien und Universitäten zu finanzieren, ohne dabei zielgerichtet eine Funktion anzustreben, die der Gesellschaft tatsächlich nützlich werden könnte. Sie stammen aber auch aus dem Heer an Geisteswissenschaftlern, die der Staat am Markt vorbei ausgebildet hat und die sich eine nutzlose Existenz qua Herkunft materiell eigentlich nicht leisten können. Sie sind existenziell darauf angewiesen, Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft nachzuweisen. Denn könnten sie das nicht, würde das staatliche Projekt zu Rechtsextremismus in der gesellschaftlichen Mitte gestrichen, von dessen Geld sie ein angenehmes Leben führen können.
Anders als die Urväter ihrer Begegnung ist ihnen am kritischen Diskurs nicht gelegen. Der kritische Diskurs ist nahezu ihr Feind. Ihre Theorien würden in der Analyse zerfallen wie Vampire im hellen Licht. Sie sind auf das Machtinstrument der Schweigespirale angewiesen, um ihre verbal errungene gesellschaftliche Hoheit nicht zu verlieren. Deswegen ist es notwendig, wie Bolz es fordert, Maßstäbe, Standards und einen gewaltigen Kanon an guten Büchern in den Diskurs mitzunehmen. Nur wer gut gerüstet ist, hat eine Chance im Diskurs mit der woken Minderheit.
Doch Bolz versprüht in „Der alte, weiße Mann“ wenig Optimismus: Selbst wenn der Diskurs gewonnen wird, ist der Kampf der Kulturen noch längst nicht gewonnen. Der Diskurs ist nur eine Waffe der woken Minderheit, sich in der Demokratie die Macht zu sichern. Bisher hat diese gereicht. Wer sich bisher mit ihnen angelegt und ihre Schweigespiralen ignoriert hat, ließ sich materiell oder gesellschaftlich vernichten – oder beides. Doch umso weiter die woken Minderheiten ihr Spiel treiben, desto eher regt sich Widerstand. Eine Mehrheit kann gut damit leben, wenn sich andere ihr Geschlecht selbst aussuchen wollen. Doch es regt sich schon mehr Widerstand, wenn die woke Minderheit in Kindergärten drängt, weil sie dort mit Fünfjährigen über ihre Geschlechtsteile reden will.
Dass sie die Minderheit sind, wissen die Woken laut Bolz. Wenn sie sich damit in der Demokratie nicht mehr durchsetzen können, dann stellen sie die Demokratie in Frage. In Gänze. Oder in Teilen. Die Extremisten der letzten Generation dürfen in den Talkshows des über Gebühren finanzierten Fernsehens behaupten, dass sich die „Klimakrise“ mit der Demokratie nicht lösen lasse. Die „Klimakrise“, die jetzt „Klimakatastrophe“ heißen muss, weil sonst auch die Widerstandskraft dieser Schweigespirale nachlässt.
Diese gesellschaftliche Mechanik funktioniert, wie Bolz beschreibt. Immer weniger aus der Mehrheit sind bereit, aufzustehen und ihre Meinung kundzutun. Aus Angst, den gleichen Weg wie Maaßen, Herman und all die anderen gesellschaftlich Geächteten zu nehmen. Der Mehrheit fehlt es auch an dem Gefühl der Solidarität, um die ihren zu schützen. Doch diese Mechanik ist eben mehr als nur ein Sprachkampf. Er ist nur ein Schlachtfeld, auf dem der größere Kampf entschieden wird, den um die gesellschaftliche Vorherrschaft.
„Der alte, weiße Mann“ ist dabei ein Sündenbock, der die Gesellschaft hinter der Führung der woken Minderheit zusammenhalten soll. Er ermöglicht es, den „Kampf aller gegen alle“ durch den „Kampf aller gegen einen“ zu ersetzen. Wobei „alt“ für das Etablierte steht, „weiß“ für den alten Westen und „Mann“ für die Exzellenz einzelner.
Damit sind sie das ideale Feindbild der woken Minderheit, die sich vor allem aus den Geisteswissenschaften speist. Wer sein Studium der Theaterwissenschaft nach sieben Jahren abschließt oder abbricht, der stört sich daran, wenn Menschen nach Fähigkeiten bewertet werden. Wer 30 Jahre alt ist, will dass die Alten die Stühle freimachen – weil er selbst darauf sitzen will. Wobei alt sein immer bedeutet, so alt zu sein wie man selbst – plus fünf Jahre.
Die Vorherrschaft des Westens brechen zu wollen, ist eine komplexere Angelegenheit. Dieses Ziel ist auch Teil der Machtstrategie der woken Minderheit. Es ist aber vor allem Ausdruck einer zivilisatorischen Ermüdung. Eines Überdrusses, den die wohlhabend Geborenen an ihrem eigenen Leben empfinden. Ein Gefühl. Um diesem Gefühl begegnen zu können, braucht es den von Bolz beschriebenen Werkzeugkasten aus Maßstäben, Standards und einem guten Bücherkanon. Ob das im Machtkampf aber reicht, daran zweifelt selbst der Autor. Denn letztlich ist der Kampf der Kulturen für ihn eine Abwehrschlacht, die Liberale und Konservative führen müssen – solange sie können.
Norbert Bolz, Der alte, weiße Mann. Sündenbock der Nation. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten, 24,00 €.