Es ist ein starkes Plädoyer für dieses Land und für die Freiheit. Ein Plädoyer für einen ideologiefreien Umgang mit der Geschichte und die Verteidigung der westlichen Werte. Dennoch spart er nicht mit Kritik. Abdel-Samad behandelt Themen, an denen sich viele gebürtige deutsche Autoren die Finger verbrennen würden, wie „Was macht das Deutsch-Sein aus?“, „Schuld und Scham“, „Erinnerungskultur“, „Willkommenskultur“ und „Leitkultur“. Aber er macht das weder populistisch noch provokativ. Er regt zum Nachdenken an und ermutigt zum Handeln, nicht nur auf politischer, sondern auch auf persönlicher Ebene.
Sein Buch betrifft mich auch persönlich. Die Art wie er auf Deutschland blickt und wie er den Prozess seines eigenen „Deutsch-Werdens“ beschreibt, berührt mich sehr, wühlt aber auch alte Erinnerungen auf, zu deren Aufarbeitung ich lange nicht bereit war. Es tat weh, ihm beim Lesen zu widersprechen, es tat noch mehr weh, ihm zuzustimmen. Es ist nicht das erste Mal, dass dieser Mann seine Liebe zu Deutschland und seinen Werten unter Beweis stellt. Und es ist nicht das erste Mal, dass er zu spüren bekommt, dass seine Liebe nicht von allen gewünscht wird.
Mich verbindet eine persönliche Geschichte mit diesem Autor, die auch eine Befreiungsgeschichte ist. In einer Zeit, in der ich sprachlos war, war er mein Sprachrohr. Es war im Frühjahr 2018. Hamed Abdel-Samad wurde von einer Studentengruppe an meine Universität eingeladen, um aus seinem Buch »Integration – Ein Protokoll des Scheiterns« vorzulesen. Der Autor galt bereits als umstritten und ich konnte schon damals die Hysterie um seine Thesen nicht nachvollziehen, denn für mich sprach er nur offensichtliche Probleme an und Themen, deren Brisanz meiner Meinung nach längst jedem bewusst sein mussten.
Natürlich war und ist in diesem Land vieles schiefgelaufen, nicht nur was die Integration betrifft. Für mich waren die Thesen des Autors keine theoretischen Analysen, sondern eine Beschreibung meiner eigenen Geschichte und ihrer Verwerfungen. Doch darüber konnte ich mit niemandem sprechen, nicht einmal mit meinen Studienkollegen. Ich dachte zuvor, die Uni sei ein Ort des freien Diskurses, doch bei bestimmten Themen ist eine offene Debatte unerwünscht. Und es sind genau diese Themen, die Abdel-Samad behandelt.
Aber es gibt uns. Säkulare Männer und Frauen aus islamisch geprägten Kulturen und Familien, die für die Freiheit, Demokratie, für Humanismus und Aufklärung stehen. Frauen und Männer, die unglaublich viel riskiert und viel verloren haben, weil sie dafür kämpften, hier ein freies Leben zu leben und trotz aller Entbehrungen nicht davon abgewichen sind. Darunter einsame, verlassene, entwurzelte und oft misshandelte Menschen, die immer noch aufrecht gehen und ihren Weg nicht bereuen. Menschen, die wie Abdel-Samad, Deutschland lieben, die es aber schmerzt, erfahren zu müssen, wie diese Liebe verkannt wird.
Manchmal scheint es, als sei es unerheblich, ob man sich angepasst und die westlichen Werte verinnerlicht hat oder nicht – weil sie im heutigen Deutschland oft in der Praxis keine große Rolle spielen. Menschen mit Migrationshintergrund scheinen für die Politik und die Medien erst interessant zu sein, wenn sie sich als Vertreter einer Religion präsentieren oder wenn sie sich über Rassismus beklagen. Selbstbewusste Migranten, die sich weder als religiös noch als Opfer inszenieren, will man nicht hören.
Gesetze werden verändert und die Neutralität des Staates wird infrage gestellt, damit eine muslimische Richterin ihr Kopftuch im Gerichtsaal tragen darf. Aber Menschen, die den Islamismus, das islamische Rechtssystem und die Ideologie hinter dem Kopftuch kritisieren und dafür ihr Leben riskieren, gelten als Störenfriede. Es schmerzt uns zuzusehen, wie Deutschland nicht nur uns ignoriert, sondern auch unseren Feinden den Rücken stärkt. Diese Schieflage ist zermürbend und ermüdend. Als hätte man sein Leben lang für etwas gekämpft, was es gar nicht gibt. Wir sind keine Opfer des Staates oder von Nazis, sondern Teil eines Kampfes gegen eine religiöse Ideologie, die sich gegen die Freiheit richtet.
Wir wollen uns nicht als Opfer betrachten, weil wir etwas gewonnen haben, was über jeden Verlust hinwegtrösten kann: unsere Würde als Menschen und – vor allem – Freiheit. Und diese Freiheit ist in Gefahr, wie Abdel-Samad immer wieder betont. Deswegen wollte ich ihn damals hören und sehen. Denn dieser Autor sprach aus, was mich zwar bedrückte, was ich damals aber noch nicht zu denken, geschweige denn zu artikulieren wagte.
„All das nur, weil er sagt, was auch ich denke? An einer Universität?!“ Zum ersten Mal wurde mir bewusst, was es im heutigen Deutschland bedeuten kann, Wahrheiten anzusprechen, die keiner hören will. Die Buchvorstellung wurde durch viele Störungen unterbrochen. Die Stimmung im Saal war äußerst aggressiv. Es gab viele Studenten, die offensichtlich nur gekommen waren, um demonstrativ wieder zu gehen, oder um die Veranstaltung zu stören. Die Türen wurden unter aggressiven Rufen wie „Rassist“ und „Faschist“ beim Rausgehen zugeschlagen. Dass es sich um eine geplante Aktion handelte, war offensichtlich, denn der Autor wurde auf diese Weise immer wieder unterbrochen.
„Freiheit für alle!“ rief eine junge Dame mit Kopftuch aus der letzten Reihe. Sie merkte gar nicht, dass sie durch ihren Zwischenruf das Recht des Autors auf freie Meinungsäußerung gerade mit Füßen trat. Auch mir und den anderen 400 Studenten, die gekommen waren, um Hamed Abdel-Samad zu hören, wurde unser Recht auf eine offene Debatte geraubt. Sie sabotierte mein Recht auf Selbstentfaltung, meine Befreiung. Wie so oft zuvor. Die lautstarke Frau, die „Freiheit für alle“ schrie, gehörte zu jener Sorte von Frauen, die mich oft als Hure bezeichnet hatten aufgrund meiner Freizügigkeit.
Meinen wir eigentlich dasselbe, wenn wir von Freiheit sprechen? Ich denke nicht. Denn es waren auch die Rufe derer, die eine „Kultur“ vertreten, die es für richtig befand und guthieß, meinen Großvater zu ermorden, um „die Ehre zu waschen“. Seine Kinder fanden ihn blutüberströmt und mit durchgeschnittener Kehle auf. Die Vertreter dieser „Kultur“ hielten es für richtig, meine Tante, die damals 14 Jahre alt war, gegenüber den deutschen Behörden als Volljährige auszugeben, um sie hier in Deutschland mit einem zwanzig Jahre älteren Mann zu verheiraten; damit sie hier nicht zu einer „gottlosen Hure“ verkommt. Wäre es nach ihnen gegangen, würden weder ich noch meine Geschwister existieren, weil meine Mutter ebenfalls von ihrem Bruder ermordet werden sollte, wegen „unehrenhafter Verhaltensweisen“. Sie entkam. Ihre Narben der vom Messer zugefügten Verletzungen sind nur noch dunkle Flecken und stumme Zeugen der Vergangenheit.
Ich saß im Hörsaal, war wütend und konnte nicht verstehen, wieso dieser Mann so viel Hass auf sich zog. Auch das ist Deutschland. Ein Land wo Salafisten frei herumlaufen und predigen können, während ein Islamkritiker nur mit Personenschutz und einer schusssicheren Weste auftreten kann. An welcher Kruste kratzt Abdel-Samad, dass diese völlig überzogenen Aktionen auf seinen Vorlesungen eher zur Regel wurden, als die Ausnahme zu bleiben – und sein Leben nach wie vor in Gefahr sein muss?
Hamed Abdel-Samad blieb gelassen. Er hatte offensichtlich schon Schlimmeres erlebt. Sie kamen, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber er wehrte sich zivilisiert und mit überzeugenden Argumenten.
Und nun hat er ein neues Buch geschrieben. Wieder kritisiert er brennende Probleme und wirbt für eine offene Debattenkultur – auch bei Tabuthemen. Erneut riskiert er sein Leben – die Fatwa gegen ihn hat nach wie vor Bestand. Doch diesmal kritisiert er nicht nur den Islam, sondern alle Ideologen – Rechte wie Linke – nie moralisierend, sondern klug und zielorientiert. Man fragt sich, warum tut dieser Mann sich das an? Die Antwort lautet, wie der Titel nahelegt: „Aus Liebe zu Deutschland“.
Laut Abdel-Samad fehlt in unserer Gesellschaft ein gemeinsamer Wertekanon, der ausgerichtet ist auf die Aufklärung, die Freiheit und die Demokratie. Dieser Wertekanon ist Grundvoraussetzung für eine identitätsstiftende Wirkung, um daraus ein „Wir“ entwickeln zu können. Ein „Wir“, das diese Werte wiederum gemeinsam schützen könnte. Diese Gedankengänge liest man nicht zum ersten Mal, aber sie werden vom Autor tiefgründig analysiert und seine Aussagen bleiben keine leeren Phrasen. Sein Manifest am Ende des Buches klingt wie eine zweite Verfassung für die Zukunft Deutschlands.
Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an ein gespaltenes Land. Und dass es sich bei dieser Liebe um eine aufrichtige und ehrliche handelt, frei von Kitsch, aber nicht ganz frei von deutscher Romantik, die ihn offenbar mehr prägt, als man einem Migranten zutrauen würde, macht er auf 224 Seiten und in neun Kapiteln in präziser und konkreter Sprache deutlich, indem er kritisch betrachtet, was er liebt, und indem er vor fatalen sozialen und politischen Entwicklungen warnt. Er warnt vor der Gefahr, das verloren gehen könnte, was er in Deutschland kennen und lieben lernte: die Freiheit. Und er offenbart, dass es sich auch um eine tragische Liebe handelt. Denn er liebt, was nicht geliebt werden will, weil es sich der Liebe nicht wert fühlt und deshalb nicht zurücklieben kann.
Beim Lesen dieses Buches fühlte ich mich wieder bei Themen und Problemen verstanden, für die ich eigentlich noch nicht bereit war. Ich kann Deutschland jetzt ein Stück besser verstehen. Und ich kann mich selbst besser verstehen. Es ist an der Zeit, damit aufzuhören, uns durch die Schmerzen der Vergangenheit zu definieren. Denn Geschichte soll uns mahnen, nicht vereinnahmen. Abdel-Samad hat etwas geschafft, was ich nie konnte: Er kann damit leben, dass seine Liebe zu Deutschland unerwidert blieb. Ich erwische mich immer wieder dabei, die Frage zu wiederholen: War alles umsonst?
Dem Autor zufolge nicht. Ich hoffe er behält Recht.
Hamed Abdel-Samad, Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf. dtv, Hardcover mit Schutzumschlag, 224 Seiten, 20,- €.