Noch leben wir nicht in einer »Post-Voting Society«, noch gibt es demokratische Wahlen. In diesen soll der Wille des Volkes, welches ja in einer Demokratie der Souverän ist, zum Ausdruck gebracht werden. Dies kann unmittelbar durch Volksabstimmung geschehen, wie das in direkten Demokratien (etwa der Schweiz) der Fall ist. In einer indirekten Demokratie, wie sie die deutsche ist, spielen Volksabstimmungen dagegen nur eine untergeordnete Rolle.
Stattdessen wählt das Volk Repräsentanten, die dann die eigentlichen Entscheidungen treffen. Die Kandidaten bzw. die Parteien, denen sie angehören, vertreten unterschiedliche politische Programme, und die Wähler entscheiden sich für das politische Angebot, das ihren Wünschen und Vorstellungen am ehesten entspricht – idealerweise, nachdem sie sich ausführlich über die verschiedenen Programme informiert haben.
Nach der Wahl versuchen dann die gewählten Repräsentanten, das umzusetzen, was sie vor der Wahl versprochen haben – entweder, wenn sie die Mehrheit bilden, in Form der Regierungspolitik oder, wenn sie zur Minderheit gehören, in Form der Oppositionspolitik. Dies führt dazu, dass die jeweilige Regierungspolitik in aller Regel von einer Mehrheit der Wähler befürwortet wird und, was langfristig für die Stabilität der repräsentativen Demokratie noch wichtiger ist, dass das politische System als solches von (fast) allen Wählern akzeptiert wird – in dem Wissen, dass ihre Wünsche und Vorstellungen in der einen oder anderen Form Berücksichtigung finden, weil die politischen Parteien und ihre Kandidaten auf diese Wünsche und Vorstellungen und deren mögliche Änderung im Zeitablauf reagieren werden.
Wie aber ist es dann zu erklären, dass in Deutschland seit Jahren Politik gegen die Interessen und Wünsche des eigenen Volkes gemacht wird? Wie konnte eine Politik mit dem Ziel der Aufgabe der deutschen Souveränität zugunsten eines europäischen Zentralstaats durchgesetzt werden, obwohl die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung an der deutschen Staatlichkeit festhalten will und einen Machtzuwachs Brüssels zunehmend kritisch sieht? Die Divergenz zwischen Regierungszielen und Volkswillen betrifft nicht nur das eigentliche Ziel der Krisenpolitik, sondern auch die Maßnahmen der Krisenpolitik selbst. Am deutlichsten wird dies in der Flüchtlingspolitik: Die Grenzöffnung, die großzügigen Sozialleistungen für Flüchtlinge, die Duldung Nichtasylberechtigter, das Ideal einer multikulturellen Gesellschaft – all das wird von breiten Mehrheiten in der Bevölkerung abgelehnt.
Was die Klimapolitik angeht, so sieht zwar die Mehrheit der Bevölkerung den Klimawandel als ein ernstes Problem an und befürwortet Maßnahmen zum Klimaschutz, doch gilt dies nur allgemein und abstrakt. Die konkrete Politik, wie etwa das teure und ineffiziente Erneuerbare-Energien-Gesetz, die CO₂-Abgabe oder das geplante Verbot des Verbrennungsmotors stoßen auf weit geringere Akzeptanz. Mit der Coronapolitik sind zwar gemäß einer Meinungsumfrage vom Februar 2022 44 Prozent der Bevölkerung einverstanden, doch halten immerhin 31 Prozent die Maßnahmen für übertrieben.
Der Wiederaufbaufonds der EU mit seinem Einstieg in die Schulden- und Transferunion wird von einem großen Teil der Bevölkerung sehr kritisch gesehen und die Skepsis gegenüber der EU im Allgemeinen ist im Lauf der Coronakrise deutlich gewachsen. Und auch die expansive Geldpolitik der EU wird überwiegend abgelehnt. Dennoch erhielten die hinter dieser Politik stehenden Parteien (also alle im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der AfD) immer mehr als 80 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen; dennoch gelang es der diese Politik verkörpernden Kanzlerin, an der Spitze verschiedener Koalitionsregierungen 16 Jahre lang im Amt zu bleiben; und dennoch wird diese Politik auch nach der Bundestagswahl 2021 unter neuer Führung unverändert fortgesetzt.
Aber dieser Effekt wird sich mit der Zeit abnutzen, auch wenn er wie in den letzten Jahren durch immer wieder neue Krisen »aufgefrischt« wird. Zur Erklärung der andauernd »undemokratischen« Regierungspolitik reicht er allein jedenfalls nicht aus. Wichtiger ist ein anderer Erklärungsansatz, der sich auf den intensiven Einsatz von Propaganda bezieht. Von Propaganda spricht man, wenn Politiker nicht auf Überzeugung durch rationale Argumente, sondern auf Überredung setzen. Die Mittel, derer sich die Politiker zu diesem Zweck bedienen, beschreibt der Philosoph und Politikwissenschaftler Lothar Fritze so:
»Um bestimmte Bewusstseinszustände zu erzeugen, können sie irreführende Darstellungen verbreiten, falsche Tatsachenbehauptungen aufstellen, Probleme verschweigen, unrealistische Versprechungen machen oder irrationale Begeisterungen auslösen.«
Propaganda existiert in allen Gesellschaften und in allen politischen Systemen, weil die politischen Akteure sich einen Verzicht auf dieses Werkzeug nicht leisten können. Denn Menschen sind einerseits als Individuen nicht nur rationalen Argumenten, sondern auch Appellen an Gefühle, Leidenschaften und Überzeugungen zugänglich. Andererseits unterliegen sie als soziale Wesen einem gewissen Konformitätsdruck. Beides macht sich die Propaganda zunutze. Zum einen werden individuelle Wähler unmittelbar beeinflusst. Zum anderen – und das dürfte der wichtigere Aspekt sein – werden sie mittelbar durch die Manipulation der öffentlichen Meinung beeinflusst.
Denn die Stimmabgabe ist nicht nur Ausdruck der individuellen Wählerpräferenzen, sondern auch ein sozialer Vorgang. Wähler orientieren sich nicht nur an den eigenen Wünschen und Vorstellungen, sondern auch an der herrschenden öffentlichen Meinung. Die meisten Menschen wollen auf der Seite der Mehrheit stehen und scheuen sich davor, den Bereich des als akzeptabel Geltenden zu verlassen. Es fällt ihnen schwer, eine Minderheitsmeinung zu vertreten und sich zu Positionen zu bekennen, die als inakzeptabel oder gar als unanständig gelten. Dies trifft auch auf die Wahlentscheidung zu, die zumindest vor dem eigenen Gewissen, meist auch im Familien- und Freundeskreis gerechtfertigt werden muss. Von daher wird die Wahlentscheidung eben nicht nur von den persönlichen Präferenzen, sondern auch von sozialen Faktoren, insbesondere von der öffentlichen Meinung beeinflusst. Deshalb ist die politische Auseinandersetzung, deshalb ist der Kampf um Wählerstimmen nicht nur ein Kampf um die einzelnen Wähler, sondern immer auch ein Kampf um die öffentliche Meinung und das Bewusstsein der Bevölkerung.
Genau dies können wir seit über einem Jahrzehnt in Deutschland beobachten. Eine politisch-medial-zivilgesellschaftliche Elite versucht, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die ideologische Hegemonie zu erringen, um ihre Ziele durchzusetzen – und hat damit auch Erfolg. Wir sehen deshalb eine immer stärkere Einschränkung der Meinungsfreiheit und eine immer größere Beeinträchtigung des Ideenwettbewerbs. Eines der auf diese Weise verfolgten Ziele – und zwar das im Zusammenhang mit der Krisenpolitik wichtigste Ziel – haben wir im vorhergehenden Kapitel kennengelernt: das Ziel der Etablierung eines europäischen Zentralstaats.
Es gibt noch andere Ziele, die teilweise den Charakter von Zwischenzielen haben, also Mittel zum Zweck der Erreichung des eben genannten Ziels sind, teilweise aber auch um ihrer selbst willen verfolgt werden. Welche Ideologie motiviert diese Ziele? Die Elite vertritt eine gesinnungsethische und egalitäre Ideologie, mit der vor allem die Ablehnung von Nationalstaaten als veraltete und zu überwindende Form politischer Organisation und die Gleichsetzung von Gleichheit und Gerechtigkeit einhergehen.
Beschäftigt man sich näher mit dieser Ideologie, den verschiedenen mit ihr verbundenen Zielen und der Struktur der politisch-medial-zivilgesellschaftlichen Elite sowie den Mitteln, mit denen diese Elite den Kampf um die ideologische Hegemonie führt, wird man feststellen, dass es verblüffende Parallelen zwischen der von der Elite verfolgten Strategie und George Orwells Dystopie »1984« gibt. Es sieht fast so aus, als ob dieses Werk ihr als Leitfaden und politische Handlungsanweisung gedient hat.
Leicht bearbeiteter und um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter Auszug aus: Fritz Söllner, Krise als Mittel zur Macht. Mit einem Vorwort von Thilo Sarrazin. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 24,00 €.