Tichys Einblick
Nachdenkliche und ganz andere Analyse

Krieg in der Ukraine: Eskalation statt Entspannung

Gemeinsam mit seiner Partnerin Petra Erler skizziert Günter Verheugen in seinem Buch „Der lange Weg zum Krieg“ einen dramatischen Konflikt in Europa, an dem alle Seiten nicht nur beteiligt, sondern für den sie mitverantwortlich sind.

Gläubige Zuschauer von Radio und Fernsehen, ja auch die Leser der meisten Gazetten müssen jetzt ganz tapfer sein. Seit Mitte Mai gibt es von zwei versierten Autoren, die seit langem in der europäischen Außenpolitik verankert sind, eine nachdenkliche und ganz andere Analyse des Krieges zwischen der Ukraine und Russland – weitgehend unbeachtet von der Medienöffentlichkeit.

Schließlich stellen die zwei außenpolitischen Experten Günter Verheugen und Petra Erler fest: Es wird aufgerüstet statt abgerüstet, geschossen statt verhandelt. Sie klagen an: Ohne das Versagen der deutschen und der EU-Außenpolitik wäre es zu dieser verheerenden Eskalation nicht gekommen.

Solche Töne bekommen vor allem Zuschauer und Zuhörer des öffentlich-rechtlichen Rundfunks weder zu hören noch zu sehen. Kein Wunder, dass es im deutschen Blätterwald kaum Rezensionen und Hinweise auf dieses Sachbuch aus dem Heyne-Verlag gibt. Solche Thesen von Autoren handeln Politiker wie Medienvertreter verächtlich als „Putin-Versteher“ oder „Friedens-Schwurbler“ ab, da können sie noch so viel fachliche Expertise oder eine politische Herkunft (FDP/SPD) besitzen, die jenseits von „Rechts“ liegt.

Deswegen dürften wohl politische Eliten diesseits und jenseits des Atlantiks das Werk von Günter Verheugen und Petra Erler eher als störend beiseite wischen, getreu nach dem Motto: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

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Allerdings könnte deren Analyse so manchem Falken in der Außen- und Verteidigungspolitik zumindest eine Ahnung vermitteln, warum es zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine gekommen ist und welche Wege wieder herausführen könnten. Zumindest bemühen sich die Autoren wieder eine Roadmap zum Frieden in Europa aufzuschlagen.

Wer sind sie? Zunächst ein Paar aus West und Ost.

Günter Verheugen kennen wohl die meisten: Er ist ein politischer Wanderer zwischen den Welten, mit liberalem Geist ausgestattet. 1944 in Bad Kreuznach (Rheinland-Pfalz) geboren, durchlief der Politikwissenschaftler die Schule von Hans-Dietrich Genscher im Bundesinnenministerium und Auswärtigen Amt. Danach managte er bis 1982 als Generalsekretär die FDP. Nach der „Wende“ seiner Partei zur CDU/CSU/FDP-Koalition wechselte Verheugen zur SPD und vertrat sie bis 1999 direkt für den Wahlkreis Kulmbach im Bundestag. Danach stieg er zum Mitglied der EU-Kommission auf mit Zuständigkeit für die Erweiterung der Europäischen Union. Später amtierte er von 2004 bis 2010 als EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie.

In Brüssel lernte er seine heutige Ehefrau Petra Erler kennen. Die in Thüringen geborene Wirtschaftswissenschaftlerin gehörte nach der Volkskammerwahl dem Planungsstab des letzten DDR-Außenministers Markus Meckel (SPD) an. Ab 1999 beriet sie den EU-Kommissar Verheugen, der damals für die Erweiterung der Europäischen Union zuständig war. Ihre Berufung zu seiner Kabinettschefin geriet als „private Affäre“ in die Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass Verheugen und Erler eine Liebesbeziehung hatten.

Nun melden sich Verheugen und Erler mit einem bemerkenswerten Buch zu einem schlimmen Krieg im östlichen Europa zurück. In den vergangenen Jahren verfolgten beide „mit wachsender Sorge, wie sich das Verhältnis zwischen dem Westen und Russlands immer weiter verschlechterte“, schildern sie ihre Beweggründe für ihr 336 Seiten starkes Buch.

Sie verurteilen gleich zu Beginn Russlands „völkerrechtswidrigen Krieg“ auf europäischem Boden. Aber: „Wir haben uns nicht in Hass, Wut und Trauer verloren“, wie viele ihrer politischen Kollegen. Denn es wurde überhaupt nicht „kühl hinterfragt, wie es so weit hatte kommen können“. Warum alles Vertrauen aus ihrer Sicht in Scherben lag, und was zu tun wäre, „um diesen Krieg schnellstmöglich zu beenden“.

Verheugen und Erler erkennen „Züge eines Stellvertreterkrieges“

Stattdessen beherrschte den Westen der politische Drang, „Russland nunmehr zu ruinieren“, als hätte Russland ein Tabu gebrochen, das sonst niemand brach, schreiben die Autoren. Mehr noch: „Es war so, als hätte es alle sonstigen Kriege und Völkerrechtsbrüche nach 1990 nie gegeben.“

Beide seien bestürzt, „wie bereitwillig sich auch unser Land in diesen Krieg hineinwarf, der alle Züge eines Stellvertreterkrieges aufweist“.

Im Frühjahr 2022 veränderte der Krieg sich zur anhaltenden militärischen Eskalation, bei der sich die Nato die Strategie des „Siegfriedens“ auf ihre Fahnen geschrieben hätte. Dafür seien Waffen geliefert, Soldaten ausgebildet und das Überleben des ukrainischen Staates finanziert worden. Denn: „Die Schlacht um die künftige Rolle der USA wird auf dem Rücken des Landes ausgetragen, das die Armee des Westens stellt, der Ukraine.“

Welche Werte verteidigen?
Stell Dir vor, Putin kommt und keiner geht hin
„Mit den Wirtschaftssanktionen gegen Russland wurden weltweit negative Effekte hervorgerufen und unser Land sukzessive in die Rezession gestoßen“, kritisieren Verheugen und Erler. Ein falsches Kriegsnarrativ verbreitet durch eine Propagandawelle habe jeden, der diesen Krieg anhalten wollte, denunziert. „Eine beängstigende Einheitsfront von Meinungsführern und Meinungsmachern in Politik, Medien und Gesellschaft verweigert sich jedem Diskurs, sabotiert ihn geradezu.“

Jetzt sei Europa „in einem Stellvertreterkrieg verfangen“: Der Westen mit der Ukraine in einem Schützengraben, Russland, Donbass und Krim im anderen. Dafür werde gar „bedingungsloser Gehorsam“ gefordert. „Diesen Gehorsam verweigern wir, aus Sorge um die Zukunft Deutschlands, der Europäischen Union, der Ukraine und ja, aus Sorge um den europäischen Kontinent insgesamt“, betonen Verheugen und Erler.

Sie erinnern gleichzeitig daran: „Die militärische und politische Expansion verlief von West nach Ost und nicht von Ost nach West.“

Die Autoren appellieren, die Erfahrungen aus der bewährten Entspannungspolitik für eine internationale Friedensordnung zu nutzen. „Einvernehmen kann nur geschaffen werden, indem man sich über die legitimen Sicherheitsinteressen verständigt und an einer Struktur arbeitet, die allen Seiten genügt.“ Denn: „Nur Frieden rettet Leben. Friedensverweigerung aber begründet Schuld.“

Sie warnen nachdrücklich: Selbst, wenn man wie heute Russland als „ewigen Feind“ sehe, es bleibt Teil des europäischen Kontinents, es gehe nirgendwo anders hin. Mehr noch: „Ein Zerstörungswille, der sich auf Russland richtet, zerstört auch uns. Er führt zwingend in die nukleare Katastrophe.“ Wenn die Existenz Russland auf dem Spiel stehe, sei nach dessen nuklearer Doktrin, der Atomwaffeneinsatz erlaubt. Der Westen wolle Putin stürzen, aber es ist Verheugen und Erler zu billig, „einen Krieg auf den Charakter eines einzigen Mannes“ zurückzuführen. Allerdings: „Wir wollen Putin in unserem Buch weder weißwaschen, noch unterstützen wir die Absicht eines westlichen regime change in Russland.“

Feindbilder seien jedoch die größte Hürde auf dem Weg zur Schaffung zuverlässiger Sicherheit. Frieden suchen in Europa gehe nur zusammen mit Russland, „ob uns das passt oder nicht.“

Deutschland und Europäische Union als Vasall der USA

Enttäuscht sind die Autoren vor allem auch über die bereitwillige Aufgabe der eigenen deutschen Sicherheitsinteressen zu Gunsten der USA. Frankreich und Deutschland hätten als führende Nationen Europas ihre eigenen „integrativen Erfahrungen“ dem Kriegstreiben entgegensetzen müssen. Doch das Gegenteil sei der Fall: „Heute scheint es Deutschland, im weiteren Sinn die EU, vorzuziehen, als Vasall der USA deren Führungsrolle zu verteidigen.“ Dort gehe man davon aus, dass in der Welt Chaos herrschen würde, wenn Amerika nicht führe. „Das wird als westliche Demokratie- und Werteverteidigung betrachtet“, kritisieren die Autoren.

Ein sicherheitspolitischer Weckruf
Kann die Nato Europa (noch) verteidigen?
Obendrein wählen die USA im November einen neuen Präsidenten. Im Augenblick hat Herausforderer Donald Trump nach dem Attentat das Momentum auf seiner Seite. Wie entwickelt sich der Konflikt dann, wenn man der Analyse der Autoren folgt? „Im günstigsten Falle werden sich die USA und Russland im Ukraine-Krieg arrangieren“, vermuten sie. Ein Scheitern führe nur zur Ausweitung des Krieges. Aber: „Was aus der Ukraine wird und wie das die deutsche und europäische Sicherheitslage beeinflusst, ist völlig offen. Was, wenn die Ukrainer merken, dass sie verheizt wurden?“, fragen Verheugen und Erler.

Für all das habe Deutschland keinen Plan. Ihr Fazit: „Eine derart abhängige und kurzsichtige Außenpolitik wie aktuell hat es noch nie in Deutschland gegeben. Nicht unter Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, auch nicht unter Merkel“.

Ihre schonungslose Analyse der Vorgeschichte des Ukraine-Krieges verdeutlicht, wie seit Anfang der 90er Jahre die bis dahin so erfolgreiche Entspannungspolitik entwurzelt wurde. Konfrontation und Machtstreben traten an die Stelle von Verständigung und Annäherung.

Nahmen die politischen Akteure einen neuen Kalten Krieg etwa bewusst in Kauf ebenso wie das Risiko eines Kriegsbrandes?

Die Lösung der Autoren ist nicht neu, sie kannten schon Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl: „Wir müssen dringend zurückkehren zu Dialogbereitschaft, vertrauensbildenden Maßnahmen, einer neuen Entspannungspolitik!“

Exklusive TE-Nachfrage bei den Autoren

Tichys Einblick fragte bei den Autoren nach, ob es über ihr wegweisendes Buch zur richtigen Zeit jenseits des politischen Mainstreams Reaktionen gab und wie sie sich die Funkstille über ihr Werk erklären.

Haben sich Politiker bei Ihnen gemeldet?

„Null“, antwortet Verheugen kurz.

Wurden Sie beide schon dafür kritisiert?

„Nein, aber wir wurden in den neuen Medien mit Lob überhäuft. Weder die öffentlichen-rechtlichen Anstalten noch andere große Leitmedien haben sich mit unserem Buch beschäftigt, obwohl es schon seit Mitte Mai auf dem Markt erhältlich ist“, sagen beide Autoren unisono.

Das zeigt, dass sie mit dem Buch wohl einen Treffer gelandet haben?

„Wir wollten mehr Realitätssinn für die aktuelle Lage erzeugen, auch um den schrecklichen Krieg zu beenden“, meint Petra Erler

Hat sich die SPD-Elite von Ihnen jetzt abgewendet?

„Da war ja schon vorher seit Jahren kein Kontakt mehr“, berichtet Verheugen.

Fazit: Expertise ist in der SPD neuen Typs offensichtlich nicht mehr gefragt.

Zumindest beim Publikum scheint das Werk anzukommen

Leser wie Annette Popp aus Hamburg kommentieren bei Heyne auf der Internetseite unter Rezensionen Verheugens und Erlers Buch etwa so:
„Eines der wichtigsten Bücher unserer Zeit. Eine präzise Analyse der vergangenen fünfzig Jahre. Und eine schonungslose Abrechnung mit der Hybris und dem Machtstreben des Westens, mit dessen Arroganz gegenüber dem Osten. Leider wird es vermutlich geflissentlich ignoriert werden von den sogenannten ‚Leitmedien‘, weil es nicht in deren Narrativ passt. Und auch nicht in den Mainstream innerhalb der deutschen Politik, die da sagt, das Land müsse wieder ‚kriegstüchtig‘ werden. Es ist vielmehr ein grandioses Plädoyer für den Frieden und für mehr Verständigung zwischen den Völkern und ebenso zwischen deren Regierungen. Ein notwendiges Buch. Ein unverzichtbares Buch.“

Selbst Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, ansonsten meist Schild und Schwert der grünen Partei, findet anders als seine regierenden und kriegstreibenden Grünen im Außenamt:
„Wer sich mit der wichtigen Frage befasst, wie das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland wieder freundschaftlich, jedenfalls friedlich und vernünftig geregelt werden kann, wer etwas vom friedlichen Zusammenleben der Völker von Wladiwostok bis Lissabon hält, tut gut daran, das Buch von Verheugen und Erler zu lesen. Auch wer sich in der Geschichte der Friedens- und Entspannungspolitik gut auskennt, wird in diesem Buch neue Fakten und Argumente finden. Ich war sehr positiv überrascht.“

Den politischen Mainstream und seine angeschlossenen Journalisten wird es jedenfalls wurmen: Verheugens und Erlers Analyse des Ukrainekrieges hat auf der Spiegel Bestsellerliste immerhin Platz 18 in dritter Auflage erreicht.

Günter Verheugen/Petra Erler, Der lange Weg zum Krieg. Russland, die Ukraine und der Westen: Eskalation statt Entspannung. Heyne Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 336 Seiten, 24,00 €.


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