Aus links-grüner Sicht ist konservativ kein schmückendes Etikett: Wer angeblich längst vergangenen Zeiten nachtrauert, aus Mangel an Phantasie an Traditionen festhält, nicht an eine Multikulti-Idylle glaubt, die Jungen nicht versteht und Schwierigkeiten mit emanzipierten Frauen, gleichgeschlechtlicher Liebe oder Minderheiten hat, der gilt gemeinhin als konservativ. Wobei die Parteien links der Mitte konservativ gern im Sinne von national-konservativ auslegen. Vom National-Konservativen bis zum Nazi ist es dann nicht mehr weit. Die Achtundsechziger und ihre in den Medien stark vertretenen Nachkommen haben da ganze Arbeit geleistet.
Freilich gibt es kein verbindliches „Konservatives Manifest“. Denn der Konservative kennt keine ewigen Wahrheiten, keine in Stein gemeißelten ideologischen Glaubenssätze. Der Konservative ist ein Pragmatiker. Er will an dem festhalten, was er für gut und richtig hält. Aber er weiß, dass die Welt sich laufend ändert. Wenn er Veränderungen für notwendig erachtet, dann kämpft er dafür. Doch bekämpft er die vermeintlich fortschrittliche Einstellung, wonach Veränderungen ein Wert an sich wären. Da halten sich Konservative lieber an die Maxime: If it ain’t broken, don’t fix it.
Der Konservative schätzt Verlässlichkeit und Klarheit. Deshalb ist er ein Anhänger des Rechtspositivismus. Gesetze kann man, ja muss man aus seiner Sicht bisweilen novellieren. Aber solange sie gelten, sind sie zu respektieren. Der seit den 1968-er Jahren im linken Spektrum weit verbreiteten Devise, „legal – illegal – scheißegal“, setzt der Konservative das „Kartoffeltheorem“ seiner Mutter entgegen: Jetzt sind die Kartoffeln auf dem Tisch; jetzt werden sie auch gegessen.
Der Staat als Schiedsrichter
Deshalb hat der Staat einen besonderen Stellenwert. Die staatlichen Instanzen – Legislative, Exekutive, Judikative – setzen Regeln und haben bei der Befolgung von Gesetzen Vorbild zu sein. Der Konservative ist alarmiert, wenn der Staat – wie beim Thema illegaler Zuwanderung – rechtsstaatliche Prinzipien nicht beachtet. Ein Staat, der sich selbst nicht an Recht und Gesetz hält, macht sich zum Gespött; er dankt faktisch ab.
Konservative hoffen nicht auf den neuen Menschen, wollen niemanden umerziehen. Sie glauben nicht wie Sozialisten, dass der Mensch stets nach dem Wahren, Guten und Schönen strebe, wenn man ihn nur lasse und ihn finanziell entsprechend ausstatte. Der Konservative kennt seinen „alten Adam“, weiß, dass der Mensch fehlbar ist. Auch deshalb ist ein starker Staat eine Voraussetzung für ein geordnetes Miteinander.
Der pragmatische Konservative vertraut – anders als ein Ideologe – empirischen Erfahrungen. Beispiele aus aller Welt zeigen, dass die Verbindung von Freiheit und Wohlstand am ehesten gelingt, wenn wirtschaftliche Entscheidungen weitgehend dem Marktmechanismus unterliegen und nicht staatlichen Planvorgaben. Folglich tritt der Konservative ganz nüchtern für mehr Markt und weniger Staat ein. Da ungezügelter Wettbewerb sehr unerfreuliche Folgen haben kann, muss der Staat Leitplanken einziehen, die den Beteiligten Grenzen setzen. Je freier der Wettbewerb, umso wichtiger ist der Staat in seiner Rolle als strenger Schiedsrichter. Doch versteht sich von selbst, dass der Schiedsrichter nicht mitspielen darf.
Selbständige statt betreute Bürger
Kein Konservativer leugnet, dass wirtschaftlicher Wettbewerb zu sozialen Verwerfungen führen kann. Ebenso wenig, dass manche Menschen aus unterschiedlichen Gründen nicht wettbewerbsfähig sind. Hier kommt Vater Staat ins Spiel. Er muss für sozialen Ausgleich sorgen, muss denen helfen, die zum Beispiel zu alt oder zu krank sind, um für sich selbst zu sorgen. Doch ist der Staat nur „helper of last resort“, er entlässt den Einzelnen nicht aus seiner Verantwortung. Die staatliche Rund-um-sorglos-Vollkasko-Absicherung, wie sie vielen Linken vorschwebt, ist aus konservativer Sicht nicht nur nicht finanzierbar. Viel schlimmer: Sie unterminiert die Eigeninitiative der Menschen, degradiert die Bürger zu Sozialstaatsuntertanen.
Generell hat das Leistungsprinzip Vorrang vor staatlicher Betreuung. Es muss deshalb auch an Schulen und Hochschulen gelten. Wer mehr leistet, wer mehr kann und tut, dem soll, nein, dem muss es besser gehen als anderen. Dem Leistungsprinzip beim Erzielen von Einkommen entspricht der Grundsatz des „Sich-Leisten-Könnens“ beim Ausgeben. Deshalb treten Konservative für solide Staatsfinanzen ein. Dass sie sich, wenn sie regieren, nicht immer an dieses Prinzip halten, steht auf einem anderen Blatt.
Wer Leistung bejaht, akzeptiert Unterschiede und neigt folglich nicht zum Neid, der bei vielen Linken Teil ihrer DNA ist. Konservative plädieren bei sozialen Leistungen für eine Bedürfnisprüfung, damit der Fleißige nicht zum Dummen wird. Die Formel „Fördern und Fordern“ stammt zwar von Gerhard Schröder, bringt aber das konservative Sozialstaatsverständnis auf den Punkt.
Konservatismus und Toleranz sind keine Gegensätze. Doch haben Konservative ein pragmatisches Verständnis von Toleranz. Ethnische, religiöse, sexuelle oder andere Minderheiten verdienen Respekt. Doch kennt die Rücksicht auf sie Grenzen. Das Prinzip „Leben und leben lassen“ kann nicht dazu führen, dass die Mehrheit mit Rücksicht auf Minderheiten ihren Lebensstil grundlegend ändern oder Handlungen tolerieren muss, die in anderen Kulturen wurzeln, unseren Wertvorstellungen jedoch zuwiderlaufen.
Gegen Sprech- und Denkverbote
Konservative bekennen sich zu ihrer Nation und ihrer Geschichte, stehen zu den Leistungen früherer Generationen und leugnen nicht von Deutschen begangene Verbrechen. Sie lehnen einen Hurra-Patriotismus, der sich über andere Völker erhebt, ab; sie sind Verfassungspatrioten. Konservative sind überzeugte Europäer, weil sie wissen, dass nur ein geeintes Europa sich gegenüber den Weltmächten behaupten kann. Das Ja zu Europa ist ein Ja zu einem Europa der Vaterländer, nicht zu einem europäischen Einheitsstaat.
Aus konservativer Sicht ist das Grundgesetz die beste deutsche Verfassung aller Zeiten. Die vom ihm verbriefte freiheitlich-demokratische Grundordnung, von den Achtundsechzigern als „FDGO“ verspottet, ist die Basis unserer freien Gesellschaft. Die parlamentarische Demokratie ziehen Konservative einer plebiszitären „Volksherrschaft“ auf Bundesebene vor. Das Wissen gewählter Volksvertreter schätzen sie höher als „Schwarmintelligenz“.
Freiheit kann sich nur entfalten, wenn der Staat die Menschen nicht gängelt. Eine freie Gesellschaft muss zugleich gegen Übermachtansprüche von Parteien und Interessengruppen verteidigt werden. Freiheit und Wahlfreiheit sind für den Konservativen zwei Seiten derselben Medaille. Der Staat hat sich in die Lebensgestaltung der Menschen und die Art ihres Zusammenlebens nicht einzumischen. Aber er hat darauf zu achten, dass Verfassungsgebote wie beispielsweise der besondere Schutz von Ehe und Familie nicht ausgehöhlt werden.
Wer keine ewigen Wahrheiten verteidigt, bejaht offene Debatten, lehnt Sprach- und Denkverbote ab. Erlaubt ist, was sich im verfassungsgemäßen Rahmen bewegt, nicht was von selbst ernannten Gesinnungs- und Sprachpolizisten als politisch-korrekt oder gendergerecht zugelassen wird.
Freund-Feind-Denken ist aus konservativer Sicht unvereinbar mit einer pluralistischen Gesellschaft; der politische Wettbewerb kennt Härte, aber keinen Hass. Konflikte müssen sein. Aber am Ende stehen Kompromisse und Koalitionen – wenn möglich, sogar ein Konsens.
PS. Der Konservative hält am generischen Maskulinum fest und verzichtet auf gendergerechte Wortspielereien.
Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus „konservativ?! – Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft“, herausgegeben von Michael Kühnlein. Mit Beiträgen u.a. von Norbert Bolz, Gregor Gysi, Peter Hoeres, Paul Kirchhof, Cem Özdemir, Bodo Ramelow, Wolfgang Schäuble, Gesine Schwan, Rainer Maria Kardinal Woelki.
Duncker & Humblot, ISBN 978-3-428-15750-1. Erscheint am 9.Oktober.