Das Buch »Future War – Bedrohung und Verteidigung Europas« ist ein Alarmsignal für das durch zwei Jahrzehnte verdrängter äußerer Gefahr, durch COVID-19 und durch den Brexit geschwächte Europa, das sich in allen Fragen der Verteidigung auf die USA verlassen hat. Es wurde handlungsunfähig und von den USA abhängig. Zudem hat Europa seit Obamas Zeiten übersehen, dass der Schwerpunkt der USA, auch im Interesse Europas, die Suche nach Lösungen ist, wie Amerika im Wettstreit mit der aufstrebenden, neuen globalen Macht China Freiheit schützen und Konfrontation verhindern kann.
Für das notorisch nach innen blickende Deutschland, dessen Politiker nicht erst seit dem Ende des Kalten Krieges das Volk durch großzügigen, aber von künftigen Generationen kaum noch zu bezahlenden Sozialtransfer einlullten und Wettbewerbsfähigkeit oft durch Unruhe vermeidende Subventionen bewahrten, ist das Buch ein Weckruf kurz vor zwölf.
Das Afghanistandebakel, Symbol bislang einzigartigen Regierungsversagens in Deutschland, ist nicht nur eine Niederlage der USA, sondern auch der Nato, die vor allem auf deutsches Drängen die Verantwortung für die Afghanistanoperationen nach der Niederlage der Taliban 2002 übernehmen musste. Afghanistan steht nun für das Versagen des Westens insgesamt und den Verlust seiner Glaubwürdigkeit, keineswegs nur der amerikanischen. Diese jüngste Entwicklung verleiht dem in glücklicheren Zeiten geschriebenen Buch zusätzliche Dringlichkeit. Es ist nun auch ein Weckruf, rasch die Handlungsfähigkeit des Westens und seine Glaubwürdigkeit wiederherzustellen.
Das muss in Europa und da vor allem in Deutschland beginnen und darf trotz aller Notwendigkeit, Auslandseinsätze grundsätzlich zu überprüfen, nicht dazu führen, von Interventionen jeglicher Art künftig abzusehen. Sie werden weiterhin nötig sein, sowohl um Risiken fernzuhalten, aber auch um der Responsibility to Protect gerecht zu werden. (…)
Die Verfasser haben einen spannenden Ansatz gewählt: Sie beginnen mit einem Worst-Case-Szenario im Jahre 2029: Europa hat die außenpolitischen Zeichen seit der COVID-19-Pandemie nicht verstanden und hat seine Verteidigung weiterhin vernachlässigt. Die USA haben sich auf die chinesische Herausforderung konzentriert, wissen aber, dass sie einem gleichzeitigen Konflikt in Europa und Asien nicht gewachsen sein werden. Diesen schlimmsten aller denkbaren Fälle schildern die Verfasser und sie beschreiben, was dann wohl unausweichlich ist: Die Niederlage der USA in Europa und in Asien, das Scheitern der Nato und damit das Ende des Westens. Natürlich kann man darüber streiten, ob man einen Aufruf zum Handeln mit der Aussicht des Scheiterns beginnen soll. Es ist jedoch eine bewährte Erfahrung militärischer Planung, sich auf den schlimmsten denkbaren Fall vorzubereiten. Dabei gilt stets, dass man nur die Fähigkeiten eines Gegners einigermaßen verlässlich beurteilen kann, seine Absichten dagegen kaum und diese können sich über Nacht ändern, wenn die Fähigkeiten dies zulassen.
Das Buch endet nach einer Bewertung der Lage und den daraus abgeleiteten Vorschlägen für die Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit Europas mit einem anderen fiktiven Szenario des Jahres 2029: In ihm haben die Europäer wie Amerika die richtigen Konsequenzen aus der Lage nach COVID-19 gezogen und meistern nun die Krise. Anzumerken ist allerdings, dass die Verfasser im zweiten Szenario nicht den schlimmsten aller denkbaren Fälle skizzieren, weil sie, gut begründet, ein koordiniertes Zusammenwirken Russlands mit China ausschließen.
Nach dem aufrüttelnden Eingangsszenario beschreiben und beurteilen die Verfasser die Fähigkeiten Europas und des Westens, insgesamt mit den Gefahren der Zukunft fertig zu werden. Sie stellen dabei zwei zentrale Fragen: Erstens, wie kann Abschreckung in einer Lage erhalten oder wiederhergestellt werden, in der der Gegner eine Art der Kriegsführung anwendet, die man als »5D-D-Kriegführung« bezeichnen könnte: Die gleichzeitige, koordinierte und durchgeplante Nutzung von Desinformation, Deception (Täuschung), Disruption, Destabilisierung, verstärkt durch Zwang, also durch Destruction, die partielle Zerstörung, und schließlich, und das wäre das sechste D, durch Disease, also absichtlich herbeigeführte Krankheiten.
Die zweite Frage ist, wie kann ein solcher Krieg in einem Europa verhindert werden, in dem viele Europäer, allen voran die Deutschen, daran glauben, dass Krieg nicht mehr möglich ist, trotz aller Lehren aus der Geschichte und entgegen der seit dem Krieg in Georgien 2008 nicht zu übersehenden Realität, dass Putin aus Furcht vor der Demokratie bereit ist, um jeden Preis eine Pufferzone vor Russland zu schaffen.
Dem folgt die Bewertung der Fähigkeiten Europas und der gesamten Nato sich verteidigen zu können, bevor die Autoren unter der Überschrift Hyperwar versuchen zu zeigen, wie sich die anhaltende, rasante technische Entwicklung in einem Krieg der Zukunft auswirken könnte. Schon heute müssen Streitkräfte nicht nur zu Lande, in der Luft und auf See koordiniert operieren können, sondern auch im Cyberspace und im Weltraum. Durch künstliche Intelligenz (AI), Bionik, Automation, Robotik und Nanotechnologien könnten Gegner neue, bislang kaum geahnte Möglichkeiten der Lähmung und Zerstörung in die Hand bekommen. Betrachtet man zusätzlich die Option, Kampfhandlungen durch vorangehende oder begleitende hybride Operationen und koordiniertes terroristisches Handeln zu unterstützen, erkennt man die Dimension künftiger Kriegsführung und die unzulängliche Vorbereitung Europas sich zu schützen, also Verbündeter zu sein, der nicht nur Klotz am Bein der USA, sondern ein wirklich hilfreicher Partner ist.
Die Autoren fordern deshalb zu Recht ein neues Denken in Europa, in der Nato und auch in den USA. Sie gehen weit über den durch den Bericht Nato 2030 für die Entwicklung einer neuen Nato-Strategie gesetzten Rahmen hinaus und geben Anregungen für die Gestaltung der künftigen Struktur eines nicht nur im Nato-Vertragsgebiet handlungsfähigen Bündnisses.
Nicht zuletzt für deutsche Leser besonders zu begrüßen ist die realistische Betonung der unverändert notwendigen, nuklearen Abschreckung. Die Autoren sehen in ihr eine der Voraussetzungen für einen erneuten Versuch, den gegenüber Russland bewährten Doppelansatz von Dialog und gesicherter Verteidigungsfähigkeit erneut zu beleben. Gerade das für seinen nuklearen Schutz nahezu singulär abhängige Deutschland sollte aus diesem Buch erkennen, dass das unter Putin erneut nuklearer Überrüstung verfallene Russland nur zu Beschränkungen bereit sein wird, wenn aufseiten der Nato nukleare Fähigkeiten bestehen, die Russland fürchtet.
Nur deshalb könnte es Bereitschaft zu Verhandlungen über beiderseitige und überprüfbare Beschränkungen zeigen, sofern es auf der Nato-Seite Gegenleistungen erwarten kann. Ohne modernisierte nukleare Teilhabe Deutschlands, also die rasche Beschaffung eines leistungsfähigen und interoperablen Tornado-Nachfolgers, ist das gewiss nicht zu erreichen. Diese Entscheidung ist zudem für den Zusammenhalt des Bündnisses von grundlegender Bedeutung und sie ist die Versicherung, auf die die Staaten Mittel- und Osteuropas warten, weil sie anders als Deutschland wissen, dass es in absehbarer Zukunft weder ein Verbot der Atomwaffen noch eine nuklearwaffenfreie Welt geben wird.
Deshalb wäre sicherlich der Gedanke zu prüfen, als Ausgangspunkt aller Gespräche mit Russland die Bekräftigung der drei Schlüsseldokumente zu suchen, denen Russland zugestimmt hat und die in den neunziger Jahren gemeinsame Sicherheit begründet haben: Die Charta von Paris von 1990, das Budapester Memorandum von 1994 mit seiner Garantie der Integrität der Ukraine und die Europäische Menschenrechtskonvention von 1998. Erst wenn Russland sich verpflichtet, sie zu bekräftigen und zu achten, dürften Verhandlungen eine Aussicht auf Erfolg haben. Das aber wird Russland nur tun, wenn es erkennt, dass Europa eine glaubhafte Verteidigungsfähigkeit schafft und bereit ist, sich zu schützen. Dann dürfte auch Putin merken, dass alle Versuche, einen Keil zwischen Europa und Nordamerika zu treiben, zum Scheitern verurteilt sind.
Dieser Doppelansatz gegenüber Russland ist der Kern des abschließenden neunten Kapitels des Buches. In ihm werden die Vorschläge der Autoren für die Verteidigung Europas zusammengefasst.
Diese Vorschläge sind zwar weitreichend, aber realistisch, zielführend und allesamt durchaus machbar, wenngleich sie einen politischen Sinneswandel, sehr schnelles Handeln, darunter eine umfassende Überprüfung und Ergänzung der bestehenden Streitkräfteplanungen, die Bereitschaft dafür auch Geld auszugeben und eine neue Entschlossenheit in Europa, in der EU und in der Nato voraussetzen. Sie tragen dem nicht erwähnten, aber unverändert gültigen, geostrategischen Grundsatz Rechnung, dass Europa ohne Beherrschung des Atlantiks nicht zu verteidigen ist.
Die Autoren schlagen umfassende europäische Anstrengungen zur Verteidigung Europas vor und sehen darin die wesentliche Klammer, die den strategisch unersetzlichen Verbund zwischen Europa und Nordamerika stärkt. Dazu wird eine wesentlich engere Zusammenarbeit zwischen der Nato und der Europäischen Union angeregt, es werden Vorschläge zu Verfahrensänderungen gemacht, die den technischen Entwicklungen, vor allem der unglaublichen Beschleunigung des Geschehens auf allen Führungs- und Handlungsebenen, Rechnung tragen und deshalb sowohl die Prä-Delegation von Entscheidungen auf militärische Führer wie auch ein gegebenenfalls notwendiges, präventives Handeln einschließen. Richtigerweise stellen die Autoren fest, dass all diese Vorschläge nur zu verwirklichen sein werden, wenn Frankreich, Großbritannien und Deutschland eng zusammenarbeiten und die Führung in Europa und damit auch der Europäer in der Nato übernehmen.
Kritisch anzumerken ist allerdings, dass die Autoren die Europäische Union durch eine angloamerikanische Brille sehen. Keineswegs überraschend kommen sie so zu Vorschlägen, die wohl ohne tiefere Kenntnis der tatsächlichen Zusammenarbeit von Nato und der Europäischen Union formuliert wurden und zudem der Vertragswirklichkeit der EU nicht immer entsprechen. Manches dürfte deshalb so nicht realisierbar sein. Das mindert zwar die Glaubwürdigkeit, sollte aber nicht dazu führen, die Vorschläge insgesamt infrage zu stellen. Sie begreifen die Autonomie Europas nicht als isoliertes Handeln, sondern als Eigenständigkeit, die aus dem Zusammenwirken mit Verbündeten und globalen Partnern die Durchschlagskraft gewinnt, die Europa schützt.
Würden die Ideen der drei Autoren umgesetzt, dann entstünde ein Europa, das handeln könnte und das, vorausgesetzt die Politiker wollten dies und gewännen dafür Mehrheiten, auch handeln will.
So ein Europa wäre für die Führungsmacht des Westens, die USA, ein unersetzlicher Partner und für die aufstrebende Weltmacht China ein Machtfaktor, den man auch in Peking nicht im Lager der Gegner wissen möchte. Das wäre die Voraussetzung, um im Wettstreit zwischen Autokratie und Demokratie das beste System obsiegen zu lassen, das Menschen je für ihr Zusammenleben entwickelt haben: die rechtsstaatliche freiheitliche Demokratie. So ein Europa könnte autonom entscheiden und auch handeln, wäre aber dennoch ein verlässlicher atlantischer Verbündeter.
Ich hoffe, dass das Buch in Deutschland eine breite Leserschaft findet und unsere satte und risikoscheue Gesellschaft wachrüttelt, die kaum wahrnimmt, dass sie in einer unruhigen Welt voller Gefahren lebt.
Ich habe das 2002 mit meinem Buch »Frieden – der noch nicht erfüllte Auftrag« auch versucht. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble schrieb damals in seinem Vorwort: »Bequem ist seine Analyse so wenig wie seine Vorschläge. (…) Aus der Debatte über Naumanns Analysen und Vorschläge kann Mut zum Handeln wachsen.« Das ist leider nicht gelungen, der Anstoß, im Land des Carl von Clausewitz wieder strategisch zu denken, schlug leider fehl, vielleicht kam er zu früh.
Umso dringlicher ist der Weckruf der drei Autoren heute, gerade jetzt nach dem Versagen des Westens in Afghanistan. Vielleicht wird er nun gehört, zwanzig Jahre später. Deutschland muss endlich aus seiner Passivität aufwachen, das bequeme Weiter so darf es einfach nicht mehr geben und das aus Angst vor Verantwortung geborene, gedankenlose, reflexartig in jeder Krise sofort genannte und Deutschland isolierende Mantra »Es gibt keine militärische Lösung« muss konstruktivem Engagement und dem Willen, initiativ Verantwortung zu übernehmen, weichen.
Wer in jeder Krise eine militärische Lösung ausschließt, der liefert die Schwachen aus und gibt den Skrupellosen freie Hand. Deutschland kann zurückhaltend bleiben und es muss weiterhin auf der Rechtmäßigkeit allen Handelns bestehen, aber es muss endlich zu Taten bereit sein, muss Verantwortung übernehmen, dazu sicher auch Lasten hinnehmen, muss Risiken mit seinen Partnern tragen und es muss aufhören von einer Welt zu träumen, in der alle nur guten Willens sind und alle Konflikte friedlich gelöst werden können. Diese Welt wird auch der jüngste Leser dieses Buches nicht erleben. Stellen sich die Deutschen den Realitäten nicht, dann werden sie die friedliche Zukunft und das Wohlergehen unserer Kinder verspielen und Europa, vielleicht sogar der Westen insgesamt, wird an Deutschland scheitern. (…)
Dieser leicht gekürzte Beitrag von General a.D. Dr. h.c. Klaus Naumann wurde von ihm im September 2021 als Vorwort für das hier besprochene Buch verfasst. Die Ereignisse der letzten Wochen belegen, wie zutreffend die Analyse und wie notwendig die Mahnungen zum Handeln waren – und trotz eingeleiteter „Zeitenwende“ nach wir vor sind.
Allen/Hodges/Lindley-French, Future War. Bedrohung und Verteidigung Europas. Mit einem Vorwort von General a.D. Klaus Naumann. LMV, Hardcover mit Leseband, 408 Seiten, 34,00 €.