Tichys Einblick
Was wert wäre, verteidigt zu werden

Kann der Westen seine Zerrissenheit überwinden?

Bis zum Einmarsch Russlands in die Ukraine war die Standardvermutung der Konkurrenten und Gegner der westlichen Gesellschaften, dass unsere Länder kaum den Mut aufbringen würden, für sich selbst einzustehen, geschweige denn für ihre Verbündeten.

Es gibt viele Wege, eine Gesellschaft zu spalten. Einer der besten ist es, alle verbliebenen Bande zu zerstören, die sie verbinden. Sie davon zu überzeugen, dass das, was sie an Eigenem haben, nichts Besonderes ist und letztlich kaum wert, bewahrt zu werden. Dieser Prozess vollzieht sich in der westlichen Welt seit über einer Generation: als ein unbarmherziger, täglicher Angriff auf alles, wofür die meisten von uns in ihrer Erziehung Respekt vermittelt bekamen und annahmen, dass es gut sei.

Nehmen wir unsere Nationalhelden – die Menschen, die einst den Mittelpunkt unseres Nationalstolzes bildeten. Vor zwanzig Jahren stand Winston Churchill unangefochten an der Spitze einer Liste der größten Briten, die als Umfrage von der BBC in Auftrag gegeben wurde. Wenn die BBC heute einen Beitrag über Churchill bringt, werden eine Reihe tendenziöser und falscher Argumente gegen ihn vorgebracht und es geschieht im Stil einer gerichtlichen Anklage. Das hat Folgen. Als im Sommer 2020 nach der Ermordung von George Floyd der neue Bildersturm ausbrach, war Churchills Denkmal eines der ersten, das vandalisiert wurde. Seine Statue auf dem Parliament Square wurde sogar so oft beschmiert, dass sie schließlich unter einer grauen Box verschwand, die nur für einen Tag entfernt wurde, als der französische Präsident London besuchte.

Nicht nur Churchill geht es so. Fast jeder in unserer Geschichte wird so behandelt. Immer wieder wird uns gesagt, womit man einer der schlimmsten Moden der aktuellen amerikanischen Alltagskultur folgt, wir müssten aus unserer Vergangenheit alles ausmerzen, was den aktuellen Standards nicht genügt.

Vor zwei Jahren setzte der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan eine Robespierre’sche „Kommission für Vielfalt im öffentlichen Raum“ ein: eine Kommission, die sich aus Leuten zusammensetzt, die alle eine durchweg negative Sicht auf die Britischen Inseln zu haben scheinen und von denen einer dafür bekannt ist, dass er einmal Ihre Majestät die Königin angeschrien hat. Und doch soll diese Kommission entscheiden, was wir von unserer Geschichte behalten dürfen. Und überdies nicht nur, was abgeräumt, sondern auch, was an seiner Stelle aufgestellt werden soll.

Was nottut: Historische Bildung
Egon Flaig: „Wir erleben eine Kulturrevolution“
Zu den Vorschlägen für angemessenere moderne Erinnerungskultur gehören ein Denkmal für den ermordeten Teenager Stephen Lawrence, eine Hommage an die „Windrush“-Generation und ein neues Nationalmuseum für Sklaverei. Erst letzte Woche wurde bekannt, dass eine Londoner Stadtteilverwaltung plant, den William Gladstone Park umzubenennen, weil die Familie des großen Premierministers beschuldigt wird, vom Sklavenhandel profitiert zu haben. Zu den Vorreitern für alternative Namen für den Park gehört Diane Abbott Park.

Wo unsere nationale Geschichte einst von Stolz und Heldentum geprägt war, wird sie heute nur noch durch die reduzierende, vereinfachende Brille von Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus betrachtet. Unsere Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst müssen ihr Engagement für „Vielfalt, Integration und Gerechtigkeit“ unter Beweis stellen, um überhaupt arbeiten zu dürfen. Jede politische Institution, einschließlich des Oberhauses, ist von demselben neuen Dogma durchdrungen.

Ebenso hat jede Kultureinrichtung, vom National Trust und Kew Gardens bis zur British Library, der Tate und dem Globe-Theater, beschlossen, sich zu „entkolonialisieren“ – was bedeutet, uns unserer Geschichte zu berauben oder sie in ein unerbittlich negatives Licht zu rücken.

All dies ist wie eine Flut über unsere Kultur hereingebrochen – vor allem, weil es aus Amerika importiert wird, wo eine Kulturrevolution im Gange ist, die in einem Angriff auf alle Grundlagen des Landes besteht. Dazu gehört ein Projekt der New York Times, das darauf abzielt, das Gründungsdatum der amerikanischen Republik von 1776 auf 1619 zu verlegen. Das fragliche Jahr ist das Jahr, in dem die ersten Sklaven ins Land gebracht wurden. Die Nicht-Historikerin, die diese schlampige Arbeit geleitet hat, wurde für ihre Bemühungen mit einem Pulitzer-Preis und Lehrstühlen an amerikanischen Universitäten ausgezeichnet. Ähnlich wie in Großbritannien wird versucht, so zu tun, als seien unsere Nationen in Sünde geboren und alle anderen in paradiesischer Unschuld.

Jeder, der sich des Lebens in der amerikanischen Geschichte schuldig gemacht hat, wird auf ähnlich erbarmungslose Weise niedergemacht, von Christoph Kolumbus bis Theodore Roosevelt. Absolut niemand ist sicher. Die Gründerväter sind umgeschrieben worden. Vor ein paar Generationen wussten vielleicht nur wenige Amerikaner, dass Thomas Jefferson Sklaven besaß. Heute ist dies fast das Einzige, was man über ihn weiß. Auch das hat Folgen. Letzten Herbst wurde die Jefferson-Statue, die seit 1833 im New Yorker Rathaus gestanden hatte, entfernt, in Kisten verpackt und durch die Hintertür hinausgefahren. Einem Ratsmitglied zufolge repräsentiere Jefferson die „Werte“ der USA nicht mehr.

Es ist schwer, sich jemanden von vor zwei Jahrhunderten vorzustellen, der das tut. Aber in dem unerbittlichen Krieg gegen alles, was mit der westlichen Geschichte zu tun hat, ist jetzt zumindest die Taktik klar. Aristoteles und Platon wurden angeprangert, weil sie nicht die Ansichten des Jahres 2022 zur Rasse hatten. Gleiches gilt für alle Philosophen der Aufklärung, so dass der Name David Hume in Schottland von den Gebäuden verschwinden musste. Die Anschuldigungen sind immer dieselben: Ansichten, die nicht genau mit denen des 21. Jahrhunderts übereinstimmen, Mitschuld am Sklavenhandel, Mitschuld an der Kolonialisierung. Oder: einfach nur gelebt zu haben, während diese Dinge geschahen. Wenn es keine Beweise gibt, sind die antiwestlichen „Gelehrten“ unserer Tage durchaus bereit, sie einfach zu erfinden.

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Der Selbstmord der bürgerlichen Gesellschaft
Welche Auswirkungen hat das? Unter anderem ist nicht im Entferntesten klar, warum Gesellschaften, die eine so schreckliche Vergangenheit haben, sich dazu aufraffen sollten, in der Gegenwart etwas zu leisten. Letztes Jahr nahm die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen den Internationalen Tag zur Beseitigung der Rassendiskriminierung zum Anlass, Amerika wegen seiner „Erbsünde“ anzuprangern. Sie sprach über die Ermordung von George Floyd und stellte eine kürzliche Schießerei in einem Spa (die nichts mit Rasse zu tun hatte) als Beispiel für den anhaltenden Rassismus in Amerika dar. Gegen Ende ihrer Rede erinnerte sie sich beiläufig daran, die Internierung von etwa einer Million uigurischer Muslime durch die Kommunistische Partei Chinas zu erwähnen. Lustigerweise war der Vertreter Chinas nach ihr dran. „Nun habe ausnahmsweise einmal“, so der Vertreter der chinesischen Kommunisten wütend, „die Amerikanerin tatsächlich die schändliche Menschenrechtsbilanz ihres Landes eingestanden“, doch das gebe ihr kein Recht, „auf ein hohes Ross zu steigen und anderen Ländern zu sagen, was sie zu tun hätten.“

Bis zum Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar war es die Standardvermutung der Konkurrenten und Gegner der westlichen Mächte, dass unsere Länder sich so sehr selbst entwürdigen, sich so sehr für historische Sünden geißeln und so unredlich mit der eigenen Geschichte umgehen, dass sie kaum den Mut aufbringen würden, für sich selbst einzustehen, geschweige denn für ihre Verbündeten.

Tatsächlich hat Wladimir Putins Krieg etwas dazu beigetragen, im Westen wieder ein Gespür für Sinnhaftigkeit und Solidarität zu wecken. Mit einem Schlag ist die 30 Jahre alte Frage nach dem Sinn der Nato beantwortet worden. Mit dem Beitritt Schwedens und anderer Länder im Laufe dieses Jahres wird das Bündnis weiter gefestigt. Selbst Länder wie Deutschland haben sich bereit gezeigt, höchst ungewöhnliche Dinge zu tun, wie z. B. Geld für die Verteidigung auszugeben, nachdem in ihrer Nachbarschaft wieder eine echte Bedrohung aufgetaucht ist.

Aber die Vorstellung, dass der Einmarsch russischer Panzer in die Ukraine die Probleme des Westens lösen oder unsere Gemüter erhellen wird, scheint eine vergebliche Hoffnung zu sein. In einer im letzten Monat durchgeführten Umfrage gab fast die Hälfte der Amerikaner an, dass sie im Falle einer Invasion ihres Landes, wie sie der Ukraine widerfuhr, aus dem Land fliehen und nicht bleiben und kämpfen würden. Am schlimmsten daran war, dass von den 18- bis 34-Jährigen nur 45% sagten, sie würden bleiben und kämpfen, während 48% sagten, sie würden fliehen.

Aber warum auch nicht? Warum sollten sie bleiben und für ein Land kämpfen, über das gesagt wird, es sei von Anfang an verkommen, habe keine legitimen Helden und sei selbst heute noch von „weißer Vorherrschaft“ und „institutionellem Rassismus“ geprägt? Das ist in anderen Ländern nicht anders. Die Europäer mögen sich vielleicht daran erinnert haben, dass man Geld ausgeben muss, um sich verteidigen zu können. Aber viel wichtiger ist es, davon überzeugt zu sein, dass man etwas hat, das es wert ist, verteidigt zu werden.

Ein im positiven Sinn provokantes Buch
Der Westen braucht Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung
Putin, die Kommunistische Partei Chinas und andere haben in den letzten Jahren auf den Westen geschaut und gesehen, dass diese Gesellschaften zunehmend gespalten sind und sich selbst zerfleischen. Jeder von ihnen hat online und offline getan, was er konnte, um diese Tendenz zu verschärfen. Sie halten uns für furchtbar und unverbesserlich, und sie freuen sich, wenn große Teile unserer Bevölkerung sowie politische und kulturelle Persönlichkeiten ihrer Meinung sind. Erst letzte Woche verbreitete eine der Propagandazeitungen der KP Chinas auf Twitter ein Bild von Uncle Sam hinter dem Schreibtisch des Oval Office, umgeben von Leichen. Die Bildunterschrift beschuldigte Amerika des Rassismus und der Familientrennung an der Grenze. Vielleicht könnten die Menschen in der Provinz Xinjiang etwas zur Lauterkeit dieser Anschuldigung sagen.

Natürlich ist Einigkeit nicht das Einzige, was man in einer Nation braucht, wie Putin gezeigt hat. Aber sie ist auch nicht unwichtig, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj und das ukrainische Volk gezeigt haben. Die entscheidende Frage, die sich jedes Land und jede Kultur stellen muss, lautet, ob sie den eingeschlagenen Weg fortsetzen will. Die meisten westlichen Gesellschaften ließen sich in den letzten Jahren einreden, dass sie den Weg zu mehr Gendergerechtigkeit, Gleichheit, „Diversität“ – und einem ganzen Haufen anderen bedeutungslosen Blödsinns – gehen müssten, also die politische Willensbildung dem Kommando von Minderheiten zu überlassen hätten. Ein von Grund auf antiwestliches Konzept.

Der Krieg in der Ukraine könnte nur die erste Bewährungsprobe für das westliche Bündnis sein. Es ist klar, dass die Kommunistische Partei Chinas im 21. Jahrhundert eine viel größere Herausforderung darstellen wird, als es Putin je könnte. Wird der Westen in der Lage sein, sich dieser Herausforderung zu stellen? Nur wenn wir die Überzeugung zurückgewinnen, dass wir etwas haben, das es wert ist, bewahrt zu werden. Und das Wissen, das wir im Kalten Krieg hatten, dass freie westliche Gesellschaften es verdienen, sich durchzusetzen, nicht weil es in unserem Interesse ist, sondern weil wir besser sind als die Alternativen.

Manch einer wird bei der Vorstellung, dies überhaupt auszusprechen, erschaudern. Aber es ist wahr. Deshalb sind die Länder, die sich am meisten über ihre Vergangenheit aufregen, auch die Länder, in denen der Rest der Welt am liebsten leben würde. Wir müssen offensichtlich heute etwas richtig machen und das bedeutet, dass wir in der Vergangenheit etwas richtig gemacht haben müssen. Der Rest der Welt bestätigt diese Tatsache durch ihren Zustrom. Es ist an der Zeit, dass auch wir diese Tatsache anerkennen.

Dieser Beitrag von Douglas Murray erschien zuerst in The Spectator. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

Douglas Murray, Krieg dem Westen, FBV, Hardcover, 300 Seiten, 25,00 €.
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