Der ehemalige stellvertretende Gouverneur der Bank of England, Sir Paul Tucker, hat den sprunghaft wachsenden Einfluss der Zentralbanken auf die Wirtschaftspolitik nach der Krise 2007/2008 zum Anlass genommen, um darüber nachzudenken, ob und unter welchen Bedingungen das bisherige Konzept von Centralbankism zukunftsträchtig ist. Dabei verweist er auf die nach westlichem Verständnis einzigartige Unabhängigkeit der Zentralbanken, die in diesem Ausmaß nur noch mit Streitkräften und rechtsprechender Gewalt vergleichbar ist. Bereits bei diesem Vergleich unterliegt Tucker, der offensichtlich eine intellektuelle Neigung für institutionelle Fragen hat, obwohl er auf diesem Gebiet keine akademische Ausbildung vorweisen kann, einem Denkfehler:
- Gerichte wenden Recht an. Dass sie an das Recht gebunden sind, versteht sich in Rechtsstaaten von selbst. Ihre Funktion ist die Streitschlichtung durch Anwendung des Rechtes. Zentralbanken dagegen sind nicht Rechtsanwender, sondern haben ein mehr oder weniger weites Mandat und orientieren ihre Tätigkeit an Zielvorgaben – sei es Preisstabilität, sei es Vollbeschäftigung. Der hierzu dienende Instrumentenkasten ist höchst kompliziert und im Unterschied zur Rechtsanwendung durch Amtsgerichte oder Verfassungsgerichte von der breiten Öffentlichkeit nicht oder nur schwer durchschaubar.
- Streitkräfte sind die exekutivste Form von Regierungsmacht. Ihr Tätigwerden setzt immer einen entsprechenden Befehl der Regierung – gegebenenfalls verbunden mit einer Legitimierung durch einen Parlamentsbeschluss – voraus. In welchem Maße parlamentarischer Einfluss für ihr Tätigwerden notwendig ist, ist in den westlichen Demokratien unterschiedlich geregelt. Auch im Einsatz – und gerade aufgrund der Sensibilität westlicher Gesellschaften gegenüber Blutopfern – unterliegen sie einer starken faktischen wie politisch-institutionellen Rechenschaftspflicht. Demgegenüber ist die Rechenschaftspflicht von Zentralbanken dadurch erleichtert, dass sie auf einem Gebiet tätig werden, für das im Verhältnis zum großen Publikum vollständige Informationsasymmetrie herrscht. Die Entwicklung der Politik der EZB seit 2007/2008 veranschaulicht die Selbstermächtigung von Zentralbankereliten, die der Meinung sind, nicht einmal gegenüber deutschen Verfassungsgericht rechenschaftspflichtig zu sein. Bei den bisherigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wegen OMT und PSPP- also beiden Anleihenkaufprogrammen – hat sich Mario Draghi geweigert, vor dem Zweiten Senat seine Poltik zu erläutern. In diesem Punkt setzt er die Tradition von Jean-Claude Trichet fort, der indessen – in der Form höflicher – dem Gericht brieflich erwidert hatte.
Tucker – obschon ein fest verankertes Mitglied des Internationalen Estabishment – sorgt sich um die Legitimität der Entscheidungsmacht von Zentralbanken und legt hierzu ein voluminöses Werk vor. Damit streift er Themen, die aktueller nicht sein können, denn ausweislich von sieben Verfahren vor dem Bundesverfassungsbericht – von denen zwei vor dem Europäischen Gerichtshof landeten – wird nicht nur die Legalität des Handelns der Europäischen Zentralbank bestritten, sondern ihrer Legitimität als faktischer Gestalter der Wirtschaftspolitik zunehmend in Frage gestellt.
So hat die Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Anlageberatung (DVFA) eine „Kommission Geldpolitik“ ins Leben gerufen, die am 31.10.2019 ein Forum unter dem Titel „Die zukünftige Geldpolitik im Euroraum: Neubeginn oder weiter wie gehabt?“ durchführen wird. Wichtige fachliche Impulse dürften hiervon angesichts der Ökonomie-Defizite von Madame Lagarde zu erwarten sein.
Die zunehmende Legitimitätskritik an Zentralbanken geht einher mit zum Teil wenig professionellen Diskussionen über die Einführung von Kryptowährungen, die durch den Vorschlag der Datrenkrake Facebook, die Kryptowährung Libra zu schaffen, noch einmal an Dynamik gewonnen hat.
Dies alles macht die Lektüre von Tuckers Einsichten – über fast 600 Seiten zusammengestellt – zu einem gewinnbringenden Unternehmen. Indessen vermisst der kundige Leser in den Schlussfolgerungen von Tucker klare Stellungnahmen zu der Selbstermächtigungspolitik der EZB sowie zu der Aufgabenerweiterung der EZB um die Bankenaufsicht. Hier bleibt Tucker sehr allgemein und begnügt sich in den Danksagungen für das Zustandekommen seines imposanten Werkes mit der Aufzählung von mehr als 200 Mitgliedern des politischen und akademischen Establishments, denen er ausdrücklich für ihre Hilfe beim Entstehen des Buches dankt. Ob dieser Hinweis auf seine Verankerung in den globalen Eliten notwendig gewesen wäre, um den Gehalt seines Buches zu belegen, mag dahingestellt sein. Jedenfalls scheint es Tucker für die Legitimität seines Anliegens wichtig gewesen zu sein, darauf zu verweisen, dass er mit so inkompetenten Mitgliedern der Französischen Zentralbank wie Sylvie Goulard ) gesprochen hat.
Tucker macht sich dadurch verdient, dass er sein Buch auf vielen Konferenzen vorstellt. Dazu gehört auch die ECB Watchers Conference 2019. Bei dieser Gelegenheit verwies er auf Carl Schmitt. Dieser deutsche Jurist sei „brillant“ und „evil“ gewesen. Er habe aber das Souveränitätsproblem zutreffend gestellt. In der Bibliographie seines Buches – die ebenso beeindruckend ist wie der Umfang des Buches selbst – findet sich indessen von Carl Schmitts Werken keine Spur.
Ob Tuckers Problematisierung nicht gewählter Macht von Zentralbanken als ein intellektuell legitimer Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion angesehen wird, entscheiden – Gott sei Dank – nur die Leser. Er kommt jedenfalls zur rechten Zeit, um die überfällige Diskussion über die Allmacht der EZB und anderer Zentralbanken in rationale Bahnen zu lenken.