Tichys Einblick
KLASSIKER NEU GELESEN

Joseph Conrad – Der Existenzkapitän

In Polen geboren, in Frankreich Seemann geworden, als britischer Schriftsteller, der erst mit Anfang 20 Englisch gelernt hatte, zu Weltruhm gelangt, vor hundert Jahren gestorben: Joseph Conrad hat mindestens drei Leben geführt und ein umfassendes Werk hinterlassen. Conrad lesen heißt ins Grundsätzliche reisen.
Von Uwe Tellkamp

Das Logbuch verzeichnet: Planken aus British Understatement, rätselhafte Teilhaber am Steuerrad der großen Fragen, der Anker abgerissen, auf der Schiffsschraube das Wort Pflicht, die Mannschaft voller Narren – Feindfahrt mit Humor. Conrad lesen heißt ins Grundsätzliche reisen. So recht heimisch in der deutschen Literatur ist er nicht geworden.

Liegt es an seinen Stoffen? Sie erzählen Abenteuer, wie sie nur je ein Jungenherz begehrt. Die Orte: Fernost, Belgisch Kongo, Südamerika, die See, Inseln in den Tropen: Exotik, aus der die Bestseller wachsen. Doch weckt sie bei ihm keine Sehnsucht; Conrads Paradiese sind keine. Hinderlich mag auch sein, daß seine Bücher recht dezidierte Männerliteratur sind, Frauen kommen nur am Rande vor. Schiff, See, (männliche) Besatzung: diese Welt ist nicht gefühlsselig, und sie duldet keine Ablenkung vom Kernbereich der menschlichen Existenz.

Joseph Conrad, eigentlich Korzeniowski, wurde 1857 in Berdytschew geboren, im damals polnischen Teil der Ukraine. Er sprach neben Polnisch auch Russisch und Französisch, die Sprache aber, in der er schrieb, war Englisch. Sein Vater, Apollo Korzeniowski, war Schriftsteller, Übersetzer, polnischer Patriot, Organisator eines Aufstands, wurde verbannt, die Familie mußte folgen. Conrad wuchs in Krakau bei einem Onkel auf.

Mit knapp siebzehn ging Conrad zur französischen Marine nach Marseille, berührte dort zum ersten Mal ein englisches Schiff, ging bald darauf nach England, wurde Kapitän unter der »Red Ensign«, der englischen Seeflagge. Auf einer Reise nach Australien gab er sein erstes Manuskript, »Almayers Wahn« einem englischen Studenten zu lesen. Ob es sich lohne, daran weiterzuarbeiten. »Unbedingt.« Ob es ihn interessiert habe. »Aber sehr.« Ob ihm die Erzählung verständlich gewesen sei. »Vollkommen.«

In den folgenden dreißig Jahren schuf Conrad ein Werk so einzigartig wie das von Kafka, mit dem er auch das Sterbejahr teilt. Hier soll es nicht ausdrücklich um die Roman-Meisterwerke gehen, »Lord Jim«, »Nostromo« und »Der Geheimagent«, sondern um den verborgeneren Conrad der »Long short stories« »Die Schattenlinie«, »Taifun« und Jugend«. Die deutsche Bezeichnung Novelle trifft nicht ganz ihre Eigenart. Conrad war ein Meister dieser Kunstform, der Strecke zwischen etwa fünfzig bis hundertfünfzig Seiten, in der es Klassiker nicht häufig gibt.

Gnade und Gesetz
Kafkas Schloß: eine Grundschrift des Lebens. Seine Sprache: ein kristalliner Magnet
Die berühmteste, vielleicht Conrads berühmtestes Werk überhaupt, ist »Herz der Finsternis«, Motive davon hat Francis Ford Coppola unter dem Titel »Apocalypse Now« kongenial verfilmt. Der Beginn der Erzählung (in der Übersetzung von Fritz Lorch) ist neben dem des »Prozeß« und des »Schloß« von Kafka der beste, den ich kenne.

Conrad, der Kapitän auf dem Nachtmeer der Existenz, wo Schiff und ausgesetzter Mensch unerbittlichen Prüfungen unterworfen sind. Liebe und Tod, Jugend und Alter, Versagen und Bewährung, Leichtsinn und Reife: dazwischen »Die Schattenlinie«, wie Conrad die 1917 veröffentlichte, in den Jahren des ersten Weltkriegs geschriebene Novelle über einen namenlosen Ich-Erzähler nennt, der deutlich autobiographische Züge trägt.

In Bangkok bekommt er sein erstes Kommando, das Schiff soll nach Singapur, keine lange Strecke, man denkt, sie in zehn Tagen bewältigen zu können. Die Mannschaft erkrankt an Cholera und Malaria, der junge Kapitän hält frischen Seewind für heilsam, das Schiff aber gerät im Golf von Thailand in eine Flaute. Zwei Wochen lang dreht es sich unter vollen Segeln im Kreis, während die Besatzung in den Kojen liegt und nicht kuriert werden kann, da der Vorgänger des Ich-Erzählers die Chininvorräte verkauft und durch ein wirkungsloses weißes Pulver ersetzt hat.

Nur der Ich-Erzähler und der Schiffskoch bleiben von der Krankheit verschont, sie versuchen, Singapur zu erreichen, um Hilfe für die Besatzung zu bekommen. Das Schiff gerät in ein Unwetter, der Erste Offizier ist überzeugt, das Schiff werde niemals die  8° 20′ nördlicher Breite überqueren: dort sei der alte Kapitän bestattet und hindere durch einen Fluch das Schiff daran, diese Linie zu überqueren. Im Sturm, in stockfinsterer Nacht, bei Tropengewitter gelingt es der geschwächten Mannschaft, wenigstens das Großsegel zu reffen. Dabei verausgabt sich der herzkranke Schiffskoch so sehr, daß auch er ausfällt. In den folgenden vierzig Stunden steuert der Ich-Erzähler beinahe im Alleingang nach Singapur, wird erwachsen.

»Taifun«: Die »Nan-Shan« unter Kapitän MacWhirr gerät in einen nie zuvor erlebten Sturm. Der Kapitän, ein nüchterner Mann, Jukes, der erste Steuermann, und der Maschinist Rout kämpfen ums Überleben des Schiffs, das hilflos im aufgewühlten Universum treibt. Im Zwischendeck eingeschlossen sind chinesische Arbeiter, auf dem Heimweg mit all ihren Ersparnissen. Als die Silberdollars aus den von Sturzseen zerschlagenen Kisten wie Geschosse durch den Raum sausen, bricht Panik aus, jeder, ob gierig oder nur verzweifelt, fällt über jeden her. In seiner Kajüte wundert sich Kapitän MacWhirr unterdessen über die gelehrten Theorien in einem Buch über Stürme. Während das Geschrei der Arbeiter im Sturmgeheul untergeht, der zweite Steuermann verrückt wird, die Heizer im Maschinenraum auf Volldampf heizen, der Bootsmann und der erste Steuermann draußen umhertorkeln und sich wie Kinder aneinanderklammern, spricht MacWhirr zu sich selbst den Satz: »Ich möchte sie nicht gern verlieren.«

Sternstunden des Lesens
Zwischen Realismus und surrealer Parabel: ein Meisterstück
Die Erzählung hat Schwächen, besonders in den Sturzseen der Adjektive, aber es ist ein Lesen, wie man es erfährt, wenn man jung ist, in ein Geschehen aus bloßen Buchstaben gerissen wird, gepackt wie ein Wanderfalter von einer Orkanfaust.

So habe ich auch »Jugend« zum ersten Mal gelesen, während einer Bahnfahrt bei der Armee. Wir rumpelten unter dem Sommerhimmel an der polnischen Grenze entlang auf Strecken, wo Disteln mannshoch an den Schwellen wucherten. Marlow tritt zum ersten Mal auf, Conrads Berichterstatter, dessen Spur sich bei Faulkner und noch Brigitte Kronauer findet. Ich war an einem Tiefpunkt meiner Existenz, glaubte mich ohne Aussicht, ein hoffnungsloser Fall. Ich werde nie den Frischluftstoß vergessen, der mir aus dem Inselbüchlein mit dem azurblauen Einband entgegenkam.

Marlow hat seine erste Reise nach dem Osten. Die »Judea«, ein alter Klapperkasten, soll mit einer Ladung Kohle nach Bangkok, gerät aber, noch leer, in der Nordsee in einen Sturm. Der Ballast rutscht nach Lee – »da gab es nichts anderes, als hinunter, mit Schaufeln, und versuchen, die Bark aufzurichten. Da waren wir also in dem weiten Laderaum … kaum imstande, auf den Füßen zu bleiben, alle hart bei der Totengräberarbeit, feuchten Sand schaufelweise nach Luv hinüberzuwerfen«.

Der nächste Sturm, hoch im Atlantik, zwingt die Mannschaft an die Pumpen, ununterbrochen, eine volle Woche lang, die inzwischen übernommene Kohleladung ist voller Wasser, das Wasser muß raus, die See ist weiß von Schaum wie ein Kessel voll kochender Milch, die Segel sind weg, Marlow ist zwanzig, und mitten im Inferno liest er die Schrift am Heck der »Judea«: »Judea, London. Halt aus oder stirb!«

Deckshaus, Kombüse, die meisten Boote über Bord. Dann legt sich der Sturm. Die Mannschaft will aufgeben und zurück. Aber die Ladung Kohle muß nach Bangkok. Durch die Schiffsbewegung hat sich die Kohle zerrieben, neigt unter Druck zur Selbstentzündung, aus dem Laderaum beginnt es zu rauchen. Die Männer, die eben noch versuchten, das Wasser aus dem Schiff zu bekommen, müssen nun das Wasser wieder ins Schiff bekommen, um die brennende Kohle zu löschen. Bevor das Schiff in die Luft fliegt, löst sich der Anker aus dem Ankerkasten und rauscht glühend im Stockdunkel, die ganze Ankerkette glühend, in die Tiefe.

Alle Mann von Bord. Marlow hat nun sein erstes eigenes Kommando: über die Nußschale, in der er auf offener See treibt. Ein Wettrennen mit den anderen Überlebenden – wer als erstes das Ufer erreicht! »Ich brauche euch nicht zu sagen, was es heißt, sich in einem offenen Boot umherzutreiben. Ich erinnere mich an Tage und Nächte völliger Windstille, wo wir ruderten und ruderten und das Boot wie behext stillzuliegen schien … an die Hitze, an die Sintflut der Regenschauer, die uns zu verzweifeltem Schöpfen zwang – aber unser Wasserfaß füllte … erinnere mich noch an die müden, niedergeschlagenen Gesichter meiner beiden Leute«.

Dann »der erste Hauch des Ostens in mein Gesicht«, die vollen Gerüche einer Tropennacht.

»›Judea ahoi!‹ Ein schwacher Laut antwortete. Es war der Kapitän. Ich hatte das Flaggschiff um drei Stunden geschlagen … ›Sind Sie das, Marlow?‹ – ›Passen Sie auf das Ende des Kais da auf!‹ schrie ich.«

Jugend und die See – der ewige Traum. »… das Gefühl, das niemals wiederkehren wird, das Gefühl, daß ich endlich aushalten würde, alles überdauern, die See, die Erde und alle Menschen, das trügerische Gefühl, das uns zu Freuden, zu Gefahren, zur Liebe lockt, zu sinnloser Anstrengung – zum Tod; das frohlockende Bewußtsein der Kraft, des blühenden Lebens in dieser Handvoll Staub«.

Joseph Conrad, Nostromo. Roman. Neu übersetzt von Julian und Gisbert Haefs. Manesse Verlag, Ganzleinenband, 560 Seiten, 38,00 €.


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