Vor 200 Jahren erschien bei Otto Wiegand in Leipzig das Buch des Sohnes eines deutschen Fabrikanten, den der Vater nach England geschickt hatte, damit er in einer der dortigen väterlichen Fabriken Einblick in die Leitung der Geschäfte nehme. In den 21 Monaten, die Friedrich Engels in Salford verbrachte, aber auch andere Industriestädte wie Manchester, Birmingham, Glasgow, Leeds und Liverpool kennenlernte, entstanden eine Reihe von Artikeln und ein Buch, das zu einem frühen soziologischen Standardwerk empirischer Feldforschung wurde: „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“.
Engels schrieb: „Ich habe lange genug unter euch gelebt, um einiges von euren Lebensumständen zu wissen; ich habe ihrer Kenntnis meine ernsteste Aufmerksamkeit gewidmet; ich habe die verschiedenen offiziellen und nichtoffiziellen Dokumente studiert, soweit ich die Möglichkeit hatte, sie mir zu beschaffen – ich habe mich damit nicht begnügt, mir war es um mehr zu tun als um die nur abstrakte Kenntnis meines Gegenstandes, ich wollte euch in euren Behausungen sehen, euch in eurem täglichen Leben beobachten, mit euch plaudern über eure Lebensbedingungen und Schmerzen …“
Im Jahr 2016 erschien – diesmal bei Harper in New York – das Buch des 32-jährigen J.D. Vance, der neun Jahre später der jüngste Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden sollte. An der Wiege war ihm diese steile Karriere nicht gesungen worden, die wie eine Filmversion des American Dream wirkt. Das Buch des Yale-Absolventen erhielt sofort große Aufmerksamkeit, eroberte die US-Bestsellerliste und wurde so zum Klassiker der Erkundung des Lebens der weißen Arbeiterklasse in den USA, der Donald Trump bereits seinen ersten Wahlsieg zu verdanken hatte.
Der Grund für den Erfolg des Buches findet sich in der stupenden Authentizität des Reports. Anders als Friedrich Engels musste Vance sich nicht in die „Behausungen“ der Arbeiter begeben, um „ihre Lebensbedingungen und Schmerzen“ zu erfahren, denn J.D. Vance wurde in diese Schicht geboren, erfuhr am eigenen Leib die „Lebensbedingungen und Schmerzen“. In Middletown, Ohio, geboren, erlebte J.D. Vance den wirtschaftlichen Niedergang der weißen Arbeiterklasse im Rust Belt von Kindesbeinen mit.
Aufstieg aus lähmendem Milieu
Vance schaffte es, sich aus diesem Milieu herauszuarbeiten. Er schreibt: „Heute sehen mich die Leute an, sie sehen meine Arbeit und das Diplom einer Eliteuniversität, und sie gehen davon aus, dass ich eine Art Genie bin“, doch „ich halte diese Theorie für großen Blödsinn. Welche Talente ich auch haben mag, ich hätte sie beinah verschwendet, wenn mich nicht einige liebevolle Menschen gerettet hätten.“
Vance schildert, welche Folgen die Sozialpolitik bei bestem Willen und löblichsten Vorsätzen anrichtet; darüber, wie sie Armut produziert, zumindest perpetuiert: „Die Leute sollen wissen, wie es sich anfühlt, wenn man sich fast schon selbst aufgegeben hat, und warum es tatsächlich so weit kommen kann. Die Leute sollen verstehen, was im Leben der Armen vor sich geht, welche psychologische Wirkung diese geistige und materielle Armut auf ihre Kinder hat. Die Leute sollen den amerikanischen Traum so kennenlernen, wie meine Familie und ich ihn kennengelernt haben. Die Leute sollen wissen, wie sich sozialer Aufstieg anfühlt“, schreibt Vance über das Motiv, das ihm die Feder führte.
Nicht ein mitfühlender Liberaler, nicht ein Professor oder ein Journalist, der vor Progressivität kaum laufen kann, schrieb über die Armen, um Bewunderung und Einladungen in Talk Shows und eine Rezension in der „New York Times“ oder der „Washington Post“ zu bekommen, sondern einer, dem es gelungen war, aufzusteigen und über das Leben der weißen Arbeiterklasse im Rust Belt zu berichten, schnörkellos und ohne Sozialromantik. „Ich war eines dieser Kinder mit einer trostlosen Zukunft. Ich hätte die Highschool beinahe nicht geschafft. Ich hätte mich fast der tiefsitzenden Wut und Erbitterung ergeben, die alle in meinem Umfeld erfasst hatte.“
Sezierender Blick auf den Sozialstaat
Die einzigartige Mischung aus einer intimen Kenntnis, die schmerzt, und der Fähigkeit zur Abstraktion machen dieses Buch zu einem Report, der nicht nur das Leben der weißen Arbeiterklasse in den USA, nicht nur ihre Soziologie und Psychologie analysiert, sondern einen Blick auf tiefere Schichten des American Way of Life ermöglicht, die Wahlsiege von Donald Trump erklärt und uns Deutschen einen kritischen Blick auf das inzwischen verfestigte Hartz-IV-Milieu erlaubt. Insofern darf und muss man den Report einen modernen Klassiker nennen.
Man darf über die Paradoxie nicht erstaunt sein, denn das Paradoxon ist lediglich die Realitätsform des Niedergangs, aber gerade indem der Sozialstaat ausgebaut wird, halten die Sozialdemagogen die Menschen in Unmündigkeit, in Abhängigkeit und – das Schlimmste von allem – in der Unfähigkeit, Kontrolle über ihr Leben zu haben.
Mit dem Bürgergeld hat die Ampel die psychischen Barrieren für einen sozialen Aufstieg erhöht. Das Bürgergeld wirkt bei Lichte besehen wie ein Antibürgergeld, weil es Bürgerlichkeit, die nun mal auf Eigenverantwortung gründet, nicht zulässt. Man könnte in der Sprache der „Hillbilly-Elegie“ sagen, die Apologeten des Sozialstaats verstehen die Armen nicht, sie missbrauchen sie. Oder wie J.D. Vance an Beispielen erläutert: „Die Mächtigen tun manchmal Dinge, um Leuten wie mir zu helfen, ohne Leute wie mich wirklich zur verstehen.“
Vance beschreibt messerscharf die Kluft zwischen denen, die arbeiten und von ihrer Arbeit kaum leben können, und den „Welfare-Queens“, die, ohne zu arbeiten, ohne sich anzustrengen die Schecks vom Staat bekommen. „Ich kapier nicht, warum die Leute, die ihr Leben lang gearbeitet haben, gerade mal so über die Runden kommen, während diese Versager hier mit deinen Steuergeldern Schnaps und Handys kaufen können“, schimpfte die Großmutter des Autors im Supermarkt, voller Zorn darüber, dass die fleißigen Leute, die jeden Tag zur Arbeit gehen, von denen, die es nicht tun, ausgelacht werden.
J.D. Vance berichtet, dass 42 Prozent der weißen Arbeiter denken, „ihr eigenes Leben sei wirtschaftlich weniger erfolgreich als das ihrer Eltern“.
Für Deutschland modifiziert und verschärft sich diese Sicht noch dadurch, dass immer mehr Menschen erkennen müssen, dass das Resultat der Politik der Traditionsparteien objektiv dazu führen wird, dass es den deutschen Kindern einmal schlechter gehen wird als ihren Eltern. Seit einiger Zeit wächst die berechtigte Sorge in der Bevölkerung, dass sie ihre beste Zeit hinter sich hat und ihre Altersvorsorge von politischen Eliten ohne Verantwortungsgefühl verspielt wird.
Mit Lebenslügen aufräumen
Vance zeigt sehr genau auf, wie Armut und ein dysfunktionaler Sozialstaat, der nicht fordert, der nicht Hilfe zur Selbsthilfe praktiziert, der in dem „Armen“ nicht den Bürger sieht, Menschen deklassiert. Eine Mitschülerin, die Lehrerin wurde, berichtete mir vor Jahren schon über ihr Erschrecken, als sie auf die Frage, was sie einmal werden wollten, von einigen ihren Schülern zur Antwort bekam: „Hartz-IVer“. Für diese Schüler ist das Sozialsystem zur geschlossenen Welt geworden, in dem sie ihr Leben zu verbringen gedenken.
J.D. Vance resümiert in vergleichbarem Zusammenhang: „Ich konnte unmöglich erkennen, wie destruktiv diese Mentalität war, bevor ich mich schließlich von ihr freimachte.“ Ihm half das Marine Corps, in das er eintrat, die Kontrolle über sein Leben zu gewinnen. „Die Welt der geringen Erwartungen in Middletown, das ständige Chaos zu Hause, all das hatte mich gelehrt, dass ich über mein eigenes Leben keine Kontrolle hatte. Zu Hause hatte ich Hilflosigkeit gelernt, die Marines lehrten mich, meinen Willen zu erkennen.“
Der unermessliche Wert des Reports besteht darin, dass er dem Leser Authentisches über die USA erzählt, das er in deutschen Medien vergeblich sucht, aber auch darin, dass das Buch uns lehrt, die deutschen Verhältnisse, die deutschen Probleme, das deutsche Verhängnis zu erkennen.
Wenn Deutschland wirtschaftlich und kulturell wieder prosperieren, wieder ein gutes Land für seine Bürger werden will, muss es mit seinen Lebenslügen schonungslos aufräumen – das Buch von J.D. Vance mag als Spiegel in der Ferne dabei helfen.
James David „J.D.“ Vance (geboren 1984) ist seit dem 20. Januar 2025 der 50. Vizepräsident der Vereinigten Staaten. Vance wurde durch sein 2016 erschienenes Buch „Hillbilly-Elegy“ bekannt, das sich aus autobiografischer Perspektive mit den Problemen der ländlichen amerikanischen Bevölkerung auseinandersetzt. Auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz mahnte er den Gastgeber, es gebe in einer Demokratie keinen Platz für Brandmauern.
J. D. Vance, Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise. YES Publishing, 304 Seiten, 18,00 €.