Tichys Einblick
Leibwächter drohen zu Geiselnehmern zu werden

Ist der Verfassungsschutz eine Verschwörungstheoriefabrik, die stillgelegt werden muss?

Ja, sagt Autor Mathias Brodkorb. Der Ex-Minister der SPD legt in seinem Buch „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat“ einen erzliberalen Maßstab an. Von Jürgen Schmid

„Eine unzeitgemäße Behörde“, ja gar „eine für die Demokratie unwürdige Institution“ stellt die deutsche Besonderheit des Verfassungsschutzes aus Sicht von Mathias Brodkorb dar. Sie neige im wachsenden Maß dazu, legitime Grundrechtsausübung in „gefährlichen politischen Extremismus“ umzudeuten. Diese Behörde wird von ihm in bislang einzigartig radikaler Weise auf Herz und Nieren geprüft – einzigartig, was den Blickwinkel des politischen Spektrums anlangt, dem er angehört. Die Juristen Josef Schüßlburner („’Verfassungsschutz’. Der Extremismus der politischen Mitte“, 2016) und Thor von Waldstein haben dazu aus neu-rechter Perspektive schon ihre Ansichten dargelegt.

Brodkorb bezieht sich zustimmend auf das Buch „Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik“ (2012), in dem der linksintellektuelle Jurist Horst Meier und sein Co-Autor Claus Leggewie zum Schluss kommen, der Verfassungsschutz verdiene es nicht einmal mehr, reformiert zu werden. Der Autor von „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ sieht die Behörde wie Meier und Leggewie als „’Kampfinstrument’ des demokratischen Verfassungsstaates“, als Institution, in die Regierungspolitiker nur allzu gerne den eigentlich von ihnen zu führenden Diskurs mit der Opposition auslagern würden, und zwar mit dem klaren Auftrag, ein echte Auseinandersetzung zu unterbinden.

Brodkorb führt einen Geheimdienst vor, der zu diesen Zwecken teils auf „manipulative Methoden“ zurückgreife, sich einer vielfach höchst unlogischen „Logik des Verdachts“ bediene, immer abwegigere Konstruktionen von „Kontaktschuld“ anfertige und mitunter zu „wahnhafte[n] Schlussfolgerungen“ neige, was den Kritiker zum Fazit führt, die vielbemühte „wehrhafte Demokratie“ verströme in diesem Lichte einen durchaus unangenehmen Hautgout.

„Begriffe aus Gummi“ würden vom Verfassungsschutz verwendet, diese Feststellung durchzieht Brodkorbs Studie wie ein roter Faden. Besonders folgenschwer tritt dieses Muster beim Extremismusbegriff zu Tage, für den die Haldenwang-Behörde keine sachlich sinnvolle und juristisch haltbare Definition anzubieten habe, wiewohl sie inflationär damit hantiert. Gleiches gilt auch für den unscharf und widersprüchlich gehandhabten Volksbegriff, mit dem der Verfassungsschutz Positionen im rechten Milieu zum Extremismusbeweis erhebt, die wort- und inhaltsgleich von der Bundesregierung vertreten werden, insbesondere den „ethnischen Volksbegriff“. Bei seiner Einordnung, was als „extremistisch“ und damit gefährlich zu gelten habe, verfährt der Verfassungsschutz, bevorzugt wenn es gegen das rechte Spektrum geht, nach der Devise: Je schwammiger, desto besser.

Gefangen in der Logik des Verdachts
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Der Verfassungsschutz ist inzwischen eine auf allen Seiten des politischen Spektrums, auch in dessen vermeintlicher bürgerlicher Mitte, längst nicht mehr unumstrittene Institution. Sogar Patrick Bahners bezeichnete sie in der FAZ als „Behörde für Wettbewerbsverzerrung“, weil sie der Regierung darin zuarbeite, die Opposition zu beobachten und gegebenenfalls „zum Verfassungsfeind zu stempeln“. So weit wie Brodkorb geht aber in dem Spektrum, das sich selbst zur Mitte rechnet und/oder so gerne davon redet, linksliberal zu sein, niemand. Sebastian Ostritsch beschreibt in seiner Rezension in Die Tagespost, wiederveröffentlicht auf Tichys Einblick, sehr treffend, worin die besondere Sprengkraft in Brodkorbs Kritikansatz liegt: Er stelle sich „quer zum Gros der Meinungsmacher“, indem er die wirkliche Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat im Verfassungsschutz sehe – und nicht in seinen Beobachtungsobjekten wie der Oppositionspartei AfD.

Im Vorwort legt der Autor und Minister a. D. offen, dass er mit allen Protagonisten von links bis rechts, deren Geschichte er als Fallbeispiele für die von ihm kritisierte Beobachtungspraxis rekonstruiert, gesprochen habe. Auch dankt er „ehemaligen wie aktiven Mitarbeitern deutscher Verfassungsschutzbehörden“ für informative Hintergrundgespräche. Die Kontakte zu diesen Informanten seien „unter teils filmreifen konspirativen Bedingungen“ zustande gekommen. Sie alle, so Brodkorb, seien sich einig, „dass die Erfindung des Beobachtungsobjektes ‚Delegitimierung’ einen verfassungsrechtlichen Skandal darstelle“. Im Kapitel „Der Fall Volkserziehung“ wird diese Praxis gar als „ rechtsstaatliche Sauerei“ apostrophiert. Einer der „Gesprächspartner mit VS-Hintergrund“ brachte seinen Unmut so zum Ausdruck: „Die Leibwächter drohen zu Geiselnehmern zu werden.“ „Besser“, so Verfassungsschutzkritiker Brodkorb, könne man das Thema seines Buches „kaum auf den Punkt bringen“.

In der Tat klingt ein Beispiel aus Brodkorbs vernichtender Kritik am 2021 etablierten „Sammelbeobachtungsobjekt“ „Delegitimierung des Staates“ (ab S. 170) eher wie eine Parodie aus einem dystopischen Romanszenario als eine ernstzunehmende Äußerung eines Staatsorgans in einem demokratisch verfassten Land. Etwa, wenn eine private Spendensammelinitiative zugunsten von Opfern der Flutkatastrophe im Ahrtal im Verfassungsschutzbericht auftaucht, weil – so die Begründung – durch ihre schiere Existenz der Eindruck entstünde, dass „staatliche Stellen bewusst nur unzureichend an der Verbesserung der Versorgungslage arbeiten würden beziehungsweise mit der Bewältigung der Lage komplett überfordert gewesen seien“. Wer angesichts solcher Exzesse zusammen mit Brodkorb vermutet, der Verfassungsschutz sei auf dem schlechtesten Weg, zum Regierungsschutz zu mutieren, dürfte zwar analytisch richtig liegen, wandert aber in der Logik eben jenes Verfassungsschutzes damit unweigerlich in die Nähe eines Beobachtungsfalles: wegen „verfassungsschutzrelevanter Delegitimierung des Staates“.

„Grenzüberschreitungen“, sogar „rechtsstaatswidrige“, die Verfassungsschutz-Chef Haldenwang stets nur bei missliebigen Meinungsäußerern eines bestimmten Spektrums wie Corona-Maßnahmenkritikern vermutet, werden seiner Behörde von Brodkorb selbst zur Last gelegt – und die beträfen sowohl das Vorgehen gegen „die politische Linke“ als auch die „Rechte“. Das ist ein exorbitant fairer und so wenig einseitiger Umgang mit der gesamten Breite des politischen Spektrums, dass man die Vertreter einer reinen Lehre im „Kampf gegen rechts“ förmlich aufheulen hört ob der angeblich „falschen Balance“ dieses Maßstabs. Es handelt sich schlicht um den Maßstab eines Demokraten.

Brodkorbs Nicht-Blindheit auf dem linken Auge zeigte sich bezeichnenderweise bereits in seinem Projekt „Endstation Rechts“, das sich namens der SPD gegen die NPD wandte. Diese klare Stoßrichtung hinderte den Initiator aber nicht daran, in der Endstation-Dokumentation „Extremistenjäger!?“ (2011) die offen ausgesprochenen „Terror“- und „Erziehungsdiktatur“-Phantasien Herbert Marcuses, einer „Kristallisationsfigur“ der Studentenbewegung, als Bestandteil eines „Totalitarismus der 68er-Bewegung“ zu kritisieren.

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Weitreichende Sprengkraft insbesondere mit Blick auf die anstehenden Wahlen des Jahres 2024 – für das EU-Parlament am 9. Juni sowie die weitaus wichtigeren Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September und in Brandenburg drei Wochen später – haben die Kapitel über die beiden auseinanderstrebenden Pole der Denk- und Parteienlandschaft. Der Autor führt als Beispiele den Beobachtungsfall Bodo Ramelow auf, der als „Frühstücksdirektor der Komsomolzen“ verspottet wurde, außerdem den „Fall AfD: Und ewig grüßt der Volksbegriff“. Und er behandelt auch das Beobachtungsobjekt „Schnellroda“, jene neu-rechte Denkfabrik um Götz Kubitschek und das Institut für Staatspolitik, dessen Zeitschrift Sezession und den Verlag Antaios.

Exakt dort, im sachsen-anhaltischen Schnellroda, setzte die Mainstream-Kritik am Autor ein, bevor dessen Buch überhaupt das Licht des Buchhandels erblickt hat: 2022 besuchte ein recherchierender Journalist namens Mathias Brodkorb das Sommerfest des Instituts für Staatspolitik. Aufgespürt hatte den SPD-Politiker an diesem für Wohlmeinende versiegelten Ort laut NDR 1 Radio „ein antifaschistisches Rechercheportal“, welches „ein Foto des Ex-Ministers veröffentlichte, das ihn in Schnellroda zeigt“. Brodkorb selbst sagte gegenüber dem NDR, „er habe in Schnellroda mit vielen gesprochen und einiges Interessantes erfahren“. Mancher seiner Parteifreunde, vor allem in den Reihen der Jusos, schäumte über vor Wut: „Wer bei den Faschos in der ersten Reihe sitzt, der vertritt nicht unsere Werte“. Mit dieser Twitter-Meldung glaubte die SPD-Jugendorganisation sich von Brodkorb „distanzieren“ zu müssen.

Um seinem Haltungszwang nachzukommen, betonte NDR Radio, nicht näher spezifizierte „Kritiker“ hätten Brodkorb bereits früher vorgeworfen, in seinen politischen Analysen für den Cicero „zu wohlwollend mit rechtsextremen Haltungen umzugehen“. Der so Angegangene ließ sich von den Anwürfen nicht beirren: Er sei in Schnellroda gewesen, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen, teilte Brodkorb mit. Einen Seitenhieb an die Zunft konnte er sich nicht verkneifen: „Im Journalismus nennt man das Recherche, und die sollte ja kommen, bevor man etwas aufschreibt.“

Allerdings fällt beim Überblick zu den medialen Stimmen über Brodkorbs Buch eines ebenfalls sofort auf: Die etablierten Medien ignorieren diesen Einwurf weitgehend. Eine fachlich fundierte Besprechung findet sich in der Neuen Zürcher Zeitung aus der Feder der Juristin und NZZ-Redakteurin Fatina Keilani. Eckhard Jesse, emeritierter Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz und Doyen der seriösen akademischen Extremismusforschung, mahnt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Verweis auf Brodkorb, „der ausschließliche Blick nach rechts außen“ verdecke allzu oft „die Existenz anderer antidemokratischer Formen“. Zu denken ist dabei an „importierten Antisemitismus“, was zwar BKA-Präsident Holger Münch so benennen darf, vielleicht auch noch der Historiker Michael Wolffsohn, aber nicht die Ethnologin Susanne Schröter, die damit sofort in den Verdacht der „Islamophobie“ gerät.

Einer aus dem „Komplex Schnellroda“ ist der Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser, Autor von „Solidarischer Patriotismus. Die soziale Frage von rechts“ (2020). Er stellt in seiner Besprechung – auf Wikipedia anstandslos zusammengefasst – klar, Brodkorb würde keineswegs aus Sympathie zum neurechten Milieu, dem er, Kaiser, angehöre, eine Lanze brechen für dessen Recht auf Meinungsfreiheit, sondern aus Gründen seines radikal liberalen Standpunktes. Nicht Zuneigung zur AfD oder deren Vorfeld treibe den Verfassungsschutzkritiker an, sondern seine erzliberale Vorstellung einer Stärkung der freiheitlichen Demokratie.

Allen Lesern seines Buches gibt der Sozialdemokrat Brodkorb, der aus der SPD nicht austreten will, weil er der Meinung ist, dass nicht er deplatziert ist in seiner Partei, sondern vielmehr ihre derzeitigen Repräsentanten, einen Eingangshinweis mit in die Lektüre: „Wer als politischer Aktivist in diesem Buch Material sucht, um seine politischen Gegner noch besser bekämpfen zu können, wird und soll enttäuscht werden. Wer hingegen Rechtsstaat und liberale Demokratie verteidigen will, mag hilfreiche Informationen und Argumente in ihm finden.“

Jürgen Schmid, Jahrgang 1968, arbeitet in München als Historiker und nebenbei als freier Autor zu historischen und gesellschaftspolitischen Themen. Mit „Schmids Wörterbuch“ seziert er bei „Publico“ die Abgründe der politischen Sprache.

Mathias Brodkorb, Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. Sechs Fallstudien. Zu Klampen Verlag, Hardcover mit Überzug, 250 Seiten, 25,00 €.


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