Unbestreitbar haben moralische Dilemmata in unserer Welt zugenommen. Was „gut“ respektive „richtig“ ist, muss heute immer wieder neu ausgehandelt werden – in Beziehungen genauso wie in Bildungseinrichtungen, Firmen und in der nationalen wie internationalen Politik. Dabei treffen völlig unterschiedliche Moralvorstellungen aufeinander. Um nicht beim Moralisieren stehen zu bleiben, muss man sich deshalb auf die Ethik einlassen, also das Nachdenken über Wertvorstellungen.
Leider mögen die meisten Menschen nicht nachdenken, und so bleiben wir beim in der Regel empörten Sichbeschweren darüber stecken, dass die Welt nicht so ist, wie sie nach unserer eigenen Vorstellung sein sollte. Dabei zeichnet sich das Moralisieren meistens dadurch aus, dass die Fehler bei anderen verortet werden. Hier die Guten, dort die Bösen. Und dieses Moralisieren scheint sich epidemisch auszubreiten.
Die Symptome einer unbehandelten Moralitis sind an jeder beliebigen Kontroverse der gegenwärtigen deutschen Politik erkennbar. Betrachten wir ein Beispiel, um dann Ursachen und mögliche Therapien zu bedenken: Im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland erklärte mir der Moderator kürzlich, es gehe in der Ukraine-Debatte um die moralische Frage der „Solidarität mit den Angegriffenen“. Die These, es gehe bei Kriegen nicht um gescheiterten internationalen Interessenausgleich, sondern darum, für die moralisch richtige Seite Partei zu ergreifen, ist allerdings so alt wie der Krieg selbst.
Sascha Lobo hatte im „Spiegel“ schon im Frühjahr 2020 diesen Ansatzpunkt gewählt. Dabei schrieb er sich in einen wahren demagogischen Furor. Mit Blick auf Redner einer kirchlichen Veranstaltung sprach er von „Lumpenpazifisten“, die eine „zutiefst egozentrische Ideologie“ verträten. In ihrer Egozentrik „feierten“ die Kriegsgegner „die eigene Ungerührtheit angesichts totgebombter Kinder“ in „maliziöser“ Weise. Friedensbewegte als gewissenlose Unmenschen. Diese Perfidie macht der „Spiegel“ sich bis heute zu eigen, frei zugänglich auf seiner Internetseite.
Zur Wirkung solcher Ausfälle später mehr; zunächst halten wir fest: Bei jeder politischen Frage gibt es einen moralischen Aspekt, der sich rhetorisch mobilisieren lässt. Ob eine bestimmte Politik gerecht oder ungerecht ist, lässt sich nicht mit einem Blick auf die Kalküle eines realpolitischen Interessenausgleichs klären.
In Artikel 1 Grundgesetz wird die gleiche Würde jedes Menschen postuliert. Die Grundrechtsartikel buchstabieren aus, was diese Würde erfordert. Das Würdepostulat ist eine moralische Wertsetzung; die Grundrechte leiten ihre unmittelbare Rechtsgeltung in jeder denkbaren Situation aus dieser moralischen Setzung ab.
Durch Moralisierung wird im Privaten das Endspiel um die Beziehung eingeläutet. Wird öffentlich moralisiert, so ist das Demagogie (Volksverhetzung): Jemand gibt Anweisungen an seine Anhänger, auf welche Weise sie diejenigen abwerten sollen, die nicht mit ihnen übereinstimmen. Das kann der Keim eines erst rhetorischen und dann realen Bürgerkriegs sein.
Weg von der Sache, hin zur Person
Wo wie in Lobos Text die Erwägung einer Sachlage moralisiert wird, da geschieht logisch immer dasselbe: Die Sachebene wird verlassen, denn der Fokus der Diskussion wandert vom Kriegsproblem zu den beteiligten Personen. Der Modus der Diskussion wird von Anfrage – „Wie ist das zu verstehen? Was wäre die richtige Politik?“ – auf Anklage verlagert: „Was bist du nur für ein Mensch, dass du X denkst oder sagst?“
Damit wird eine Dynamik in Gang gesetzt, die sich als Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung veranschaulichen lässt: Der als sittlich minderwertig Geschmähte ist beleidigt oder muss, wenn die Schmähung öffentlich geschah, nun um seinen Ruf fürchten und wird direkt erwidern wollen – um nachzuweisen, dass er kein Unmensch ist. „Nein, ich bin nicht egozentrisch, und sterbende Kinder lassen mich nicht kalt!“, möchte der von Lobo diffamierte Kirchenobere sicher ausrufen.
Aber untergründig geschieht hier noch viel mehr; das Geschehen ist viral. Eine öffentliche Schmähung zwingt jedem, der nicht ein furchtloser Held oder spirituell gefestigt ist, eine ganz neue Verhaltenslogik im Umgang auf; denn sozialer Ausschluss wird von den meisten Menschen vor allem anderen gefürchtet. So wird Noelle-Neumanns Schweigespirale in Gang gesetzt: Man sagt nur noch das, von dem man vermutet, dass es keine Ausgrenzung mit sich bringt.
Demagogie erniedrigt viele Bürger zu verängstigten Stammlern von Absicherungsfloskeln: „Ich bin nicht rechts, aber …“ oder „Russland hat die Ukraine überfallen, ich sehe aber auch …“ Man sagt, was immer verspricht, sich in einer ausreichend großen Diskursfraktion in Mainstream-Sicherheit zu bringen.
Auf der Sachebene gibt es viel, was man über Rechtsradikalismus und den Kontinentalkrieg in Europa und seine Vorgeschichte wissen sollte, bevor ein Urteil sinnvoll gefällt werden kann. Aber die Äußerungsangst verunmöglicht der Mehrheit der Nichthelden sozial die Sachdebatte. Das Ergebnis ist ein Diskussionsniveau, das sich nur noch mit Fremdscham ertragen lässt. Wir werden dumm vor Angst.
Der Weg zurück zum Pluralismus
Allen Bürgern obliegt es, sich die Mechanismen spalterischen Handelns vor Augen zu führen und die eigene Kommunikation so zu gestalten, dass leichtfertiges Moralisieren vermieden wird. Dazu ist eine Sensibilisierung für die Muster moralisierender Diskursverzerrung nötig. Worte wie „umstritten“ haben in einer ernsthaften Diskussion, erst recht in der Berichterstattung nichts verloren. Es ist schäbig, Unliebsame kurzerhand mit dem Adjektiv „umstritten“, also tendenziell unseriös, zu belegen oder ihnen für ihre Nähe zu noch unliebsameren Personen eine „Kontaktschuld“ zuzuweisen und sie vom Bildschrim zu verbannen.
Wo wir solche Moralitis-Symptome erkennen, müssen wir sie aktiv zurückweisen. Nötig sind aber auch institutionelle Veränderungen. Wie auch in Unternehmen und Verwaltungen ändert sich substanziell in der Republik als ganzer erst dann etwas, wenn die Regeln verändert werden, nach denen Informationen zugänglich gemacht und Entscheidungen getroffen werden.
Am wichtigsten sind drei Punkte: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte künftig von aus der Bevölkerung ausgelosten Bürgerräten kontrolliert werden, die selbst den Intendanten wählen und bei Vertrauensverlust auch kurzfristig absetzen können.
Zweitens müssen die Staatsanwaltschaften von den Justizministern vollkommen unabhängig gemacht werden, damit die Anwendung von Recht und Gesetz unabhängig von Regierungsinteressen garantiert ist.
Und drittens schließlich müssen die oberen Bundesbehörden wie das Paul-Ehrlich-Institut und das Robert-Koch-Institut mit ihrer herausragenden fachlichen Expertise von der Politik unabhängig gemacht werden, indem ihre Leitungsebene nicht mehr von der Bundesregierung ernannt wird. Die Belegschaften sollten ermächtigt werden, solche Persönlichkeiten zu rekrutieren, die ihre Institute zu unabhängigen Beratern und auch widerständigen Regierungskorrektivinstanzen machen.
Jeder kann mithelfen, die Infektion der Kommunikationswege mit dem Kulturvirus Moralin einzudämmen; aber nicht jeder hat die politische Macht, um institutionelle Reformen durchzusetzen. Um der politischen Klasse Beine zu machen, muss zuerst ein Konsens erzeugt werden, dass die Bundesrepublik einer Generalüberholung hin zu partizipativer, nicht mehr im Parteienfilz erstarrter Demokratie bedarf.
Auszug aus:
Michael Andrick, Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden. Westend Verlag, Paperback, 160 Seiten, 18,00 €.