Tichys Einblick
KLIMASCHUTZURTEIL

Im Reich der Erfindungen oder Vom Erreichen der Null-Emission von CO2

Die Hintergründe des Verfassungsgerichtsbeschlusses zum Klimaschutzgesetz alarmieren. War die Berichterstatterin befangen? Warum wurden Unternehmen und Gewerkschaften nicht gehört? Wieso wurden wichtige Fakten völlig unterdrückt und Fantasierechnungen angestellt?

Bastian Bergerhoff ist ein wichtiger Mann bei den Grünen. Laut „Frankfurter Allgemeine“ ist er die zentrale Figur bei den Frankfurter Grünen, seit zehn Jahren Vorstandssprecher und demnächst wohl Kämmerer der Frankfurter Stadtregierung. Denn die Grünen wurden in Frankfurt mit ihm als Spitzenkandidaten zur stärksten Fraktion, die – so die Zeitung – nun mit 24,6 Prozent der Stimmen 90 Prozent der Stadtpolitik bestimme.

Zur Kandidatur als Spitzenkandidat der Frankfurter Grünen forderte Bergerhoff im Dezember 2020 auf seiner persönlichen Website: „Dabei ist es wichtig, dass wir uns der Tatsache stellen, dass wir zur Erreichung der Pariser Klimaziele nur noch eine beschränkte Menge an CO2 ausstoßen dürfen. Das verbleibende sogenannte ‚CO2 -Budget‘ für Deutschland ab 2020 (das Jahr, das gerade vergangen ist) wird vom Sachverständigenrat für Umweltfragen auf rund 6,7 Milliarden Tonnen geschätzt. Das klingt viel. Allerdings betrug der Jahresausstoß in Deutschland in 2019 über 800 Millionen Tonnen. Im Klartext: In diesem Tempo ist unser gesamtes verbleibendes Budget in acht Jahren und vier Monaten aufgebraucht. […] Es ist also allerhöchste Zeit, die Dinge grundlegend zu verändern.“

Irgendwo haben wir die Forderungen schon einmal gehört. Tatsächlich finden sie sich fast wortgleich im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerG) zum Klimaschutzgesetz, der fünf Monte später erfolgte.

Klimaurteil
Rot-grüne Tischgespräche: Ein Ehepaar zwischen Verfassungsgericht und Klimapolitik
Das Bundesverfassungsgericht urteilte fünf Monate nach der Erklärung von Bergerhoff mit den Worten: „Der Sachverständigenrat hat ein ab 2020 verbleibendes konkretes nationales Restbudget von 6,7 Gigatonnen ermittelt.“ Und weiter: „… dieses Restbudget [ist] bis 2030 bereits weitgehend aufgezehrt. […] Der Gesetzgeber … [muss] möglichst frühzeitig Entwicklungsdruck erzeugen …, um Produkte, Dienstleistungen, Infrastruktur, … Konsumgewohnheiten … schon bald erheblich umzugestalten.“ Bergerhoff sprach von „Dinge grundlegend umzugestalten“.

Ist er so einflussreich, dieser Bastian Bergerhoff, dass er sogar ein folgenschweres BVerfG-Urteil mitformuliert? Die Antwort ist ganz einfach: Bergerhoff ist der Ehemann der Berichterstatterin des Gerichts, Gabriele Britz, Professorin für Öffentliches Recht und Europarecht an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und seit dem 2. Februar 2011 Richterin am BVerG.

Überraschend schnelles Urteil

Die Klage war im Februar 2020 eingereicht worden. Unterstützt wurden die Einzelkläger unter anderem von den Aktivistengruppierungen Germanwatch, Deutsche Umwelthilfe (DUH) sowie Greenpeace. Zu den parallel klagenden Organisationen gehörte der Solarenergie-Förderverein Deutschland (SFV) und der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND).

Es ist schon sehr ungewöhnlich, dass über eine so hochkomplexe Klage mit weitreichenden Auswirkungen auf die durch die Verfassung garantierten Grundrechte, aber auch mit dramatischen Auswirkungen auf Wohlstand, Arbeitsplätze, Wirtschaftskraft und soziale Sicherungssysteme innerhalb eines Jahres entschieden wird. Dass der Beschluss im Vorwahlkampf des Wahljahres 2021 verkündet wurde, passt zu den Aussagen des Gerichts in Randnummer (RN) 254, wonach der Beschluss dazu dienen soll, dass „Reduktionsmaßgaben so differenziert festgelegt“ werden, dass der „erforderliche Planungsdruck“ erzeugt werde, „weil nur so erkennbar wird, dass und welche Produkte und Verhaltensweisen im weitesten Sinne schon bald erheblich umzugestalten sind“.

Weder Industrieverbände noch Arbeitnehmerorganisationen oder andere gesellschaftliche Gruppen, für die das Ergebnis des Beschlusses von existenzieller Bedeutung ist, wurden von der Berichterstatterin Gabriele Britz angehört. Das Gericht hat nur drei Stellungnahmen erhalten, jeweils eine des deutschen Bundestages, der Bundesregierung und der Bundestagsfraktion der Grünen. Die Beklagten Deutscher Bundestag und Bundesregierung widersprechen den Klägern in der Sache nicht: Das Gericht zitiert etwa die Stellungnahme des Bundestages, es „sei von einer gegenwärtigen Grundrechtsbeeinträchtigung durch den Klimawandel auszugehen“ (RN 48).

Prof. Fritz Vahrenholt im Interview
Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts: War eine Verfassungsrichterin befangen?
Wenn Kläger und Beklagter ähnliche Positionen vertreten, ist ein einseitiges Ergebnis vorhersehbar. Es wundert dann kaum, dass die Stellungnahme der Grünen, in der die „Festlegung konkreter Reduktionsziele für den gesamten Zeitraum bis zur Erreichung von Klimaneutralität im Jahr 2050“ gefordert wird, im Beschluss des Gerichts widergespiegelt wird.

Beim wissenschaftlichen Fundament des Urteils bezieht sich das Gericht im Wesentlichen auf vier Quellen: erstens auf den Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), zweitens auf das Buch „Der Klimawandel“ gemeinsam verfasst von Stefan Rahmstorf, dem Leiter der Abteilung Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam, und Hans Joachim Schellnhuber, dem langjährigen Direktor des 1992 von ihm mit gegründeten PIK, drittens auf den Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) und schließlich viertens auf das Umweltbundesamt (UBA).

Einseitige Anhörung und Erfindung

Offensichtlich hielt es Richterin Britz, also die Frau des Grünen Bastian Bergerhoff, nicht für nötig, Kritiker dieser extrem unwahrscheinlichen und unrealistischen Szenarien von UBA, PIK oder dem Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) anzuhören. Wenn aber so einseitig Quellen ausgewählt werden, darf man durchaus die Frage stellen, ob eine Befangenheit der Richterin vorlag. Und woher kannte Bastian Bergerhoff fünf Monate vor der Veröffentlichung die zentralen Kernsätze des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts? Oder ist es etwa umgekehrt: dass Bastian Bergerhoff der Ideengeber der zentralen Leitsätze war?

Das in der politischen Forderung Bergerhoffs proklamierte Restbudget von 6,7 Milliarden Tonnen CO2 ist auch der wesentliche Kern der Überlegungen des Verfassungsgerichts. Der Wunsch des Kandidaten Bergerhoff, „die Dinge grundlegend zu ändern“, wurde konsequent umgesetzt. Um dahin zu kommen, musste das Gericht naturwissenschaftliche Fakten ignorieren und manches sogar neu erfinden. Hier die entsprechende Passage des Urteils:

„Der große Rest anthropogener CO2– Emissionen verbleibt aber langfristig in der Atmosphäre, summiert sich, trägt dort zur Erhöhung der CO2-Konzentration bei und entfaltet so Wirkung auf die Temperatur der Erde. Im Gegensatz zu anderen Treibhausgasen verlässt CO2 die Erdatmosphäre in einem für die Menschheit relevanten Zeitraum nicht mehr auf natürliche Weise. Jede weitere in die Erdatmosphäre gelangende und dieser nicht künstlich wieder entnommene (unten RN 33) CO2-Menge erhöht also bleibend die CO2-Konzentration und führt entsprechend zu einem weiteren Temperaturanstieg. Dieser Temperaturanstieg bleibt bestehen, auch wenn sich die Treibhausgaskonzentration nicht weiter erhöht“ (RN 32).

Selbst der IPCC würde dem widersprechen, denn es werden zurzeit etwa 4,7 ppm (parts per million/Millionstel) jährlich durch anthropogene CO2-Emissionen der Atmosphäre hinzugefügt, aber etwas mehr als die Hälfte wird aus der Atmosphäre durch Ozeane und Pflanzen aufgenommen. Das Gericht nimmt fälschlicherweise an, es wären „nur kleine Teile“, die aufgenommen würden. Da die Aufnahme von Pflanzen und Ozeanen proportional zur CO2-Konzentration (heute 410ppm) in der Atmosphäre (und nicht proportional zur jährlichen Emission) erfolgt, hätte eine deutliche Emissionsreduktion, wie etwa eine Halbierung, in der Zukunft sehr wohl eine Konzentrationsminderung in der Atmosphäre zur Folge, denn die durch Pflanzen und Ozeane aufgenommenen etwa 2,6 ppm bleiben vorerst unverändert, auch wenn die CO2-Emission auf 2,35 ppm sinkt.

Staatsrechtler Dietrich Murswiek:
"Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts überschreitet richterliche Kompetenzen"
Mit anderen Worten: Bei einer Halbierung der globalen Emissionen in 20 Jahren würde eine Konzentration von etwa 450 ppm wahrscheinlich niemals überschritten und die Klimakatastrophe wäre abgesagt. Indem es aber die CO2-Senken ignoriert, hat das Gericht die Voraussetzung für den CO2-Budgetansatz geschaffen:

„Daher lässt sich in Annäherung bestimmen, welche weitere Menge an CO2 noch höchstens dauerhaft in die Erdatmosphäre gelangen darf, damit diese angestrebte Erdtemperatur nicht überschritten wird. […] Diese Menge wird in der klimapolitischen und klimawissenschaftlichen Diskussion als, CO2-Budget‘ bezeichnet“ (RN 36).

Und nun fängt das Gericht an zu rechnen und folgt dem Gutachten des von Bergerhoff zitierten sechsköpfigen Sachverständigenrats SRU (stellv. Vorsitzende Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sowie Professorin an der Leuphana Universität Lüneburg). Der SRU hatte in seinem Gutachten von 2020 das Budget des IPCC von 2018 zur Einhaltung des Ziels einer maximalen Steigerung um 1,75 Grad Celsius mit 800 Gigatonnen CO2 übernommen. Diese Größe teilt der SRU durch die anteilige Bevölkerung und kommt zu 6,7 Gigatonnen CO2, die Deutschland noch ausstoßen darf. Dabei ist die Anknüpfung an die Bevölkerung willkürlich. Eher müsste man an das Sozialprodukt oder den Anteil an der Weltindustrieproduktion zugrunde legen.

Dass die genannten 800 Gigatonnen selbst nach Ansicht des IPCC mit großer Unsicherheit versehen sind, erwähnt das Gericht, rechnet aber weiter mit den 6,7 Gigatonnen des SRU. Der Hamburger Klimaforscher Jochem Marotzke ging 2018 sogar von einer Erhöhung der zulässigen Emission an CO2 für das 1,5-Grad-Ziel auf 1000 Gigatonnen aus.

Ursache hierfür war die Erkenntnis, dass die Pflanzen der grüner werdenden Erde unvorhergesehenerweise mehr CO2 aufnehmen können als bislang vermutet. Aber das Gericht folgt lieber den Rechnereien des Sachverständigenrats für Umweltfragen und begeht damit einen weiteren schweren Abwägungsfehler.

Schwerer Abwägungsfehler

Selbst wenn man den höchst fragwürdigen Restbudgetansatz von 800 Gigatonnen für die Welt zur Grundlage macht (zum Vergleich: 6,7 Gigatonnen entsprechen der CO2-Emission eines halben Jahres der Volksrepublik China), darf doch nicht vergessen werden, das Deutschland wichtige Güter für die Welt produziert, seien es Maschinen, Chemikalien, Arzneimittel, Flug- oder Kraftfahrzeuge.

Produktionen, die mit CO2-Emissionen verbunden, aber hochnotwendig sind für alle Länder der Welt, insbesondere die Entwicklungsländer. Daher kann man doch redlicherweise nicht den gleichen Maßstab der Bevölkerungszahl für Deutschland wie für Entwicklungsländer nehmen.

Würde man nicht den Bevölkerungsanteil mit 0,84 Prozent, sondern den Anteil an der CO2-emittierenden Güterproduktion heranziehen, wäre das Budget mit zwei Prozent CO2-Anteil etwa 2,5-mal so groß und würde damit 16,75 Gigatonnen betragen (immerhin noch eineinhalb Jahre China-Emissionen).

Oder würde man etwa das Bruttosozialprodukt als Bezugspunkt wählen, dann betrüge das Restbudget circa 32 Gigatonnen und würde in diesem Jahrhundert kaum aufgebraucht. Das Gericht interessiert das aber nicht, und es kommt ohne weitere Begründung zum Ergebnis, dass nach 2030 nur noch ein „CO2-Restbudget von weniger als einer Gigatonne übrigbleibt“ (RN 233).

Sendung 01.07.2021
Tichys Ausblick: „Wieviel Klima können wir uns noch leisten?“
Wie die Politik, die nach Ansicht des Gerichts 2030 noch vorhandene eine Gigatonne CO2 auf alle Sektoren und den Zeitraum 2030 bis 2050 verteilt, ist eine unlösbare Aufgabe. Es sei denn, man macht ab 2035 alles dicht. Damit nähert sich das Gericht der Auffassung Bergerhoffs, aber auch des Klägers, Volker Quaschning, der eine Null-CO2-Emission für 2035 gefordert hatte. Das Gericht sieht also für Deutschland für 2030 bis 2050 ein Restbudget von durchschnittlich 0,05 Gigatonnen pro Jahr vor, so viel, wie allein die Baustoffindustrie emittiert, die durch die Zementherstellung CO2 (Calciumcarbonat-Verarbeitung zu Calciumoxid) ausstoßen muss.

Die Bundesregierung reagierte prompt. Sechs Wochen nach dem Urteil legte sie ein verschärftes Klimaschutzgesetz vor, das am 24. Juni im Bundestag beschlossen wurde. Durch das Gesetz wird die CO2-Minderung bis 2030 um 65 Prozent gegenüber 1990 gesenkt, bis 2040 um 88 Prozent. 2045, fünf Jahre früher, als das Gericht es verlangt, soll Treibhausgasneutralität erreicht werden. War schon das bisherige Klimaschutzgesetz dazu angetan, erhebliche Wohlstands- und Arbeitsplatzverluste bis 2030 zu bewirken, werden die jetzt zu erwartenden Verschärfungen zu tiefsten Verwerfungen führen.

Zu spät wird man erkennen, dass die Elektrifizierung der Sektoren Wärme, Verkehr und Industrie ohne Erdgas, ohne die in Deutschland verbotene CO2-Abscheidung in tiefen Gesteinsschichten und ohne Kernenergie nicht zu bewerkstelligen ist. Wind und Solar werden die nötige Energie jedenfalls nicht liefern. Denn es geht um die Stilllegung der Gas- und Ölheizungen, das Verbot von Benzinern, die weitgehende Aufgabe des dieselbetriebenen Lkw-Verkehrs, des Flugverkehrs und der Grundstoffindustrie. Und das durch Nordstream 1 und 2 ankommende Erdgas wird dann nur noch an unsere Nachbarn durchgeleitet, die es dann verbrennen. Für 2040 sieht die Bundesregierung nur noch 0,1 Gigatonnen CO2 an Emission vor. Da bleibt dann neben der Landwirtschaft (heute knapp 0,1 Gigatonnen) nicht mehr viel übrig.

Das BVerG hat einen mit hohen Unsicherheiten behafteten vorläufigen Diskussionsstand zum Anlass genommen, den CO2-Knopf in Deutschland für 2030 bis 2050 auf null zu drehen. Bundesregierung und Bundestag überholen das Gericht mit der Verschärfung auf 2045. Man glaubt offenbar fest daran, dass mit Windkraft- und Solaranlagen 2.400 Terawattstunden Energie (zwölfmal so viel wie heute) erzeugt werden können und gleichzeitig Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit erhalten bleiben. Und dies in einem Land, das mittlerweile die weltweit höchsten Stromkosten hat.

Am Ende wird das Festhalten an diesen Zielen zu einem Klima-Lockdown des Landes führen sowie zu Strommangelwirtschaft, Fahrverboten und Zusammenbruch der Grundstoffindustrie wie der Chemieindustrie. Der Bundesrechnungshof warnt völlig zu Recht, „dass die Energiewende in dieser Form den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet, die finanzielle Tragkraft der letztverbrauchenden Unternehmen und Privathaushalte überfordert und damit letztlich die gesellschaftliche Akzeptanz aufs Spiel setzt“.

Vahrenholt/Lüning, Unanfechtbar? Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz im Faktencheck. LMV, 128 Seiten, 10,00 €.


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