Tichys Einblick
Wann ist ein Rassist ein Rassist?

Identitätslinke Läuterungsagenda manipuliert Politik und Gesellschaft

Seit der Flüchtlingskrise 2015 scheint die Gesellschaft in Linke und Rechte gespalten - ein Riss der selbst Freundschaften und Familien trennt. Wie konnte es so weit kommen? Giovanni Deriu interviewt die Migrationsforscherin Dr. Sandra Kostner zum Kampf um die Deutungshoheit.

© Getty Images

Tichys Einblick: Frau Dr. Kostner, soeben erschien Ihr Buch zur Migrationsgesellschaft unter dem von Ihnen geprägten – übrigens genialen – Begriff Identitätslinke Läuterungsagenda. Warum hat Sie das Konzept der Identitätslinken nicht überzeugt?

Sandra Kostner: Das hat weniger mit den Zielen der Identitätslinken als mit ihrer Motivation und Vorgehensweise zu tun. Ihre Kernziele, also die Überwindung von Diskriminierungen und Ausgrenzungen, teile ich. Ihre Motivation hingegen konnte mich nie überzeugen, da sie zu sehr von Eigeninteressen geleitet ist.

Eine ganze Reihe ihrer Vorgehensweisen sind aus meiner Sicht hochproblematisch. Am problematischsten finde ich, dass sie zu ihrer Zielverwirklichung Menschen in Opfer- und Schuldgruppen zwangskollektivieren und für diese Zwangskollektivierung Abstammungsmerkmale heranziehen, wie Geschlecht und ethnische Herkunft, die Menschen nicht beeinflussen können. So erhalten die Identitätslinken letztendlich was sie abschaffen möchten, nämlich eine durch Abstammung determinierte Gesellschaft. Das ist die folgenreichste nicht-intendierte Konsequenz ihrer Politik. Dass Identitätslinke sie hinnehmen, liegt daran, dass es ihnen um die Demonstration bzw. Einforderung moralischer Läuterung geht, wofür sie klar abgegrenzte Opfer- und Schuldkollektive als Bezugspunkte benötigen.

Eine andere höchst negative Folge ist der ewige, die Gesellschaft spaltende Diskriminierungskreislauf, den die Identitätslinken in Gang setzen, indem sie die Diskriminierungsrichtung umdrehen, anstatt Diskriminierung unabhängig davon zu bekämpfen, wen sie betrifft.

Eine Politik, die so selbstbezogen, einseitig, unfair und kontraproduktiv ist, kann mich nicht überzeugen.

TE: Die vor einigen Wochen hitzig geführte Debatte um Boris Palmer, der übrigens auch einen Beitrag zu Ihrem Buch verfasst hat, wäre dafür ein klassisches Beispiel, auf das die Identitätslinke sofort angesprungen ist und sogar eine nicht gestellte Frage hineininterpretiert hat. Reicht die an sich harmlose Frage Palmers, „welche Gesellschaft die Bahn denn abbilden wolle?“ schon aus, eine Rassismusabsicht zu unterstellen? So wie es die DB im ersten Tweet quasi getan hat, was ihm aber nun auch von seiner Partei und vielen anderen vorgeworfen wird?

SK: Unsere Reaktion auf etwas sagt immer mehr über uns selbst aus, als über die Person, die sie ausgelöst hat. Wenn also eine deutungsoffen gestellte und zur Debatte einladende Frage reflexartig mit Rassismus in Verbindung gebracht wird, gewährt dies vielsagende Einblicke in die Motivation all derjenigen, die zu diesem persönlichen Diskreditierungsmittel greifen.

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In identitätslinken Kreisen sind Rassismusvorwürfe schon deshalb so verlockend, weil sie keiner Begründung mehr bedürfen und man in der eigenen Community damit punkten kann – und genau darum geht es vielen. Neben der Möglichkeit, ohne viel Aufwand soziale Anerkennung zu erfahren, bieten diese Vorwürfe auch die perfekte Gelegenheit, um sich selbst als Antirassisten zu inszenieren. Die Logik dahinter lautet: Wer Rassismus bei anderen erkennt und brandmarkt, kann selbst kein Rassist sein.

Die sozialen Medien eignen sich für soziale Bestätigungserlebnisse und Läuterungsinszenierungen obendrein in besonderem Maße. Die meisten schrecken im direkten Kontakt davor zurück, jemanden des Rassismus zu bezichtigen oder gar als Rassisten zu bezeichnen, in den sozialen Medien ist es hingegen leicht, da man nicht mit seinem Gegenüber als Mitmenschen konfrontiert ist.

Bei Boris Palmer spielt zudem seine Parteizugehörigkeit für das Empörungspotenzial eine zentrale Rolle. Eine Partei, die Antirassismus zum Bestandteil ihrer politischen DNA erklärt hat, reagiert wenig überraschend gereizt auf Personen aus dem eigenen Lager, die sich der Verschließung von Themen verweigern, die nur annäherungsweise mit Rassismus zusammengedacht werden könnten. Angesichts der kompletten Überdehnung des Rassismusbegriffs in den letzten Jahren sind das inzwischen sehr viele Themen. Und das ist ein ernstzunehmendes Problem. Erstens, da ein gesellschaftliches Klima der Unfreiheit um sich greift, das nicht zu einem liberal-demokratisch verfassten Staat passt (das belegt auch die aktuelle Allensbach-Studie zur Meinungsfreiheit). Und zweitens, weil der Rassismusbegriff durch die enorme Überdehnung substanzlos wird und irgendwann in Fällen von echtem Rassismus nicht mehr zur Ziehung von roten Linien greift.

TE: Gehen wir zurück zum Beginn, sie schreiben in Ihrer Einleitung, der Anstoß für Ihr Debattenbuch „Identitätslinke Läuterungsagenda“ liege bereits etliche Jahre zurück, damals waren Sie auf einer Party bei australischen Lehrern eingeladen und ein Gespräch ließ Sie aufhorchen; erzählen Sie bitte…

SK: Eine Lehrerin erzählte auf der Party, dass sie seit Jahren viele indigene Kinder unterrichte und irgendwann zu der Erkenntnis gekommen sei, dass diese Kinder sich mit dem, was sie „westliche“ Lerninhalte nannte, so schwer täten, weil ihnen diese Inhalte aufgrund ihrer Kultur fremd seien.

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Sie habe sich daher entschlossen, vor allem die Mathestunden für Kunstunterricht zu nutzen, denn für Kunst hätten Aborigines ein ganz besonderes Talent entwickelt. Dieses Talent wollte sie fördern, um das kulturelle Selbstwertgefühl der Kinder zu stärken. Insbesondere Mathematik war für sie ein „kulturfremdes“ Fach, das man indigenen Kindern nicht aufzwingen dürfe. Dass es aufgezwungen sei, machte sie allein daran fest, dass die Lerninhalte den Kindern Probleme bereiteten. Besonders stark betonte sie, mit welch großer moralischer Entlastung diese Unterrichtsumstellung für sie persönlich einhergegangen sei, da sie den Kindern nun keine Inhalte mehr aufzwänge, die sie noch weiter von „ihrer“ Kultur entfernten und das wollte sie vor dem Hintergrund des erfolgten kulturellen Genozids, für den sie als Weiße allein aufgrund ihres Weißseins mitverantwortlich sei, unbedingt verhindern.

Ich war entsetzt von dieser Vorgehensweise und der Selbstbezogenheit, die mir im Handeln der Lehrerin entgegentrat. Deshalb fragte ich sie, ob sie sich mal Gedanken über die Konsequenzen für das spätere Leben der Kinder gemacht hätte und warf ihr vor, dass sie verantwortungslos handeln würde. Daraufhin entbrannte ein längeres Streitgespräch, in dessen Verlauf die meisten anderen schweigend zuhörten, einige der Lehrerin beipflichteten und ich isoliert meine Position vertrat.

Dieses Streitgespräch sowie ein später am Abend stattgefundenes Vieraugengespräch mit einem Freund, in dem er sein Schweigen damit begründete, dass er einfach genug davon habe, durch Widerspruch die immer gleichen Rassismusvorwürfe auf sich zu ziehen, gaben mir ebenso zu denken, wie dass er mir nahelegte, zukünftig in solchen Fällen zu schweigen, weil ich ansonsten schnell sozial ausgegrenzt würde.

TE: Wo gibt es ähnlich gelagerte Fälle in unserer Gesellschaft – Sie scheinen ja einen wunden Punkt getroffen zu haben?

SK: Auch im hiesigen identitätslinken Milieu ist Kultur- wahlweise Religionssensibilität als Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von Menschen, die einer Opfergruppe zugeordnet werden, weit verbreitet. In Deutschland greift diese Rechtfertigung vor allem bei nichtwestlichen Migranten bzw. Muslimen, da sie zu den Hauptobjekten von Läuterungsdemonstrationen auserkoren wurden.

Identitätslinke halten Menschen, die sie einem Schuldkollektiv zuordnen als moralisch nicht ausreichend legitimiert, um die gleichen Maßstäbe an Menschen aus einem Opferkollektiv anzulegen wie an die Eigengruppe. Gerechtfertigt werden die Folgen solcher Ungleichbehandlungen für die betroffenen Individuen damit, dass Kritik an kulturellen oder religiösen Praktiken „problematisch“ sei, weil sie von den „Opfern“ als rassistisch oder eurozentrisch motiviert gedeutet werden könnte.

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Eine solche Deutung stellt in den Augen der Identitätslinken den Läuterungsgrad aller in einer Schuldgruppe zwangskollektivierten Personen infrage. Dort wo Läuterung das Hauptziel ist, ist die Vermeidung solcher Deutungen wichtiger als das Schicksal von Menschen. Das geht im Extremfall bis hin zur Rechtfertigung von schweren Menschenrechtsverletzungen, wie der Genitalverstümmelung von Mädchen. Die meisten Identitätslinken scheuen hier allerdings vor einer Rechtfertigung zurück und verlegen sich lieber auf Ausweichstrategien. Besonders beliebt sind Verweise auf die noch nicht vollständig hergestellte Geschlechtergerechtigkeit in der Mehrheitsgesellschaft – ein Verweis, der auch bei allen anderen Mädchen und Frauen betreffenden kulturell-religiös legitimierten Praktiken (z.B. Kopftuch, Polygamie, häusliche Gewalt) zum Einsatz kommt.

TE: Einerseits war ich erschrocken, andererseits aber wenig erstaunt, dass andere Wissenschaftler Ihnen von der Bearbeitung dieses Themas abraten wollten, weil es für die weitere Karriere hinderlich sein könnte.

SK: Die Bedenken bestätigten leider, was ich schon seit Jahren beobachte nämlich, dass sich im Hochschulsektor eine Kultur der Ängstlichkeit vor dem frei geäußerten Gedanken ausbreitet. Die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sind von dieser Kultur der Ängstlichkeit besonders betroffen, da dort der Anteil von Akademikern, die eine identitätslinke Haltung vertreten oder ihr zumindest zuneigen, vergleichsweise hoch ist. Dass die Bedenken nicht grundlos sind, zeigt sich daran, dass Wissenschaftler, die Kritik an identitätslinken Positionen üben, sich nicht selten in einer marginalisierten Position wiederfinden, was nicht ohne Folgen für berufliche Optionen, aber auch Zugänge zu Drittmitteln, Publikationsmöglichkeiten etc. bleibt.

Besteht in Institutionen ein Konformitätsdruck, ist es nie einfach, sich ihm zu entziehen oder ihm standzuhalten, ohne einen entsprechenden Preis dafür zu bezahlen. Bei den Hochschulen kommt erschwerend hinzu, dass das Gros der Wissenschaftler befristet beschäftigt ist, wobei sich vor allem Doktoranden und Habilitanden in einem schwierigen Abhängigkeitsverhältnis befinden. Wo Abhängigkeitsverhältnisse und Konformitätsdruck zusammenwirken, schreitet die präventive Selbstzensur voran.

Warum sich gerade Identitätslinke mit von ihren Positionen abweichenden Argumenten so schwertun, ist nicht allein mit akademischer Eitelkeit und dem üblichen Konkurrenzkampf um Einfluss und Ressourcen erklärbar. Es hat wohl vor allem damit zu tun, dass identitätslinke Positionen im Kern ideologische Positionen sind. Als solche stehen sie auf wackligen Beinen und sind mit einem Wahrheits- und Durchsetzungsanspruch ausgestattet, der sich mit Wissenschaft nicht gut verträgt. Ferner wirken Ideologien auch identitätsstiftend. Wo das der Fall ist, fällt es Personen schwer, Kritik an spezifischen Positionen, die sie vertreten, von Kritik, die auf sie als Person zielt, zu unterscheiden. Die Ironie dabei ist, dass Identitätslinke, um sich selbst vor Kritik zu immunisieren, zu genau dem Mittel greifen, das sie auf der ideologischen Ebene am meisten bekämpfen: Machtasymmetrien.

TE: Wen möchte eine breite Identitätslinke, von der Sie behaupten, sie habe sich bereits in Teilen der Gesellschaft, auf den Behörden, in der Politik, aber auch in den Medien etabliert, eigentlich erziehen oder läutern? Und mit welchem Ziel?

SK: Läutern müssen sich aus identitätslinker Sicht all diejenigen, die aufgrund ihres jeweiligen Abstammungsmerkmals für die Unterdrückung, Abwertung oder Diskriminierung von spezifischen Gruppen verantwortlich gemacht werden.

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So müssen sich Männer als geläutert gegenüber Frauen zeigen, Heterosexuelle gegenüber Homosexuellen, „Weiße“ gegenüber „Nichtweißen“, Nichtmigranten gegenüber Migranten, Christen gegenüber anderen Religionsgemeinschaften, Nachfahren ehemaliger Kolonialmächte gegenüber den Nachkommen ehemaliger Kolonien usw. Dabei gibt es eine Läuterungspyramide: Ganz oben stehen Gruppen, die Unterdrückungs- und Abwertungserfahrungen geltend machen können, die mit der „westlichen Erbsünde“ verbunden sind, also mit Rassismus und Kolonialismus.

Allerdings begnügen sich Identitätslinke nicht damit, Unterdrückung und Abwertungen zu beenden. Sie möchten vor allem durch Läuterungsdemonstrationen ihre moralische Integrität wiedergewinnen, die sie aufgrund des Schuldstatus ihrer Gruppe als verlorengegangen ansehen. Dafür sind sie auf die Mitarbeit aller Gruppenmitglieder angewiesen. Da die Wiederherstellung ihrer moralischen Integrität für sie nur erreichbar ist, wenn alle Individuen, die sie in der Schuldgruppe zwangskollektiviert haben mitziehen, versuchen sie Druck auf diejenigen auszuüben, die sich nicht für ihre Agenda zwangsverpflichten lassen möchten.

TE: Ergebnisoffene Diskussionen oder Kritik sind ab einem gewissen Punkt nicht mehr möglich, weil sie einen ganz anderen Drive bekommen, haben Sie das auch festgestellt?

SK: Identitätslinke berufen sich zur Unterstützung ihrer Agenda gerne auf die Menschen- und Grundrechte. Insofern bekennen sie sich explizit zur Meinungsfreiheit und betrachten diese als hohes Gut.

Dass sie dennoch einiges zur Verschließung von Themen und zur sozialen Ausgrenzung von Andersdenkenden beigetragen und auf diese Weise ein repressives Meinungsklima erzeugt haben, ist ihnen teilweise nicht bewusst. Häufiger allerdings kommt für sie die Schaffung eines hohen sozialen Erwünschtheitsdrucks einer Notwendigkeit gleich, um eine zumutungsfreie Gesellschaft, soweit dies die Empfindungen von Opfergruppen betrifft, zu verwirklichen.

Sie schränken die Meinungsfreiheit also nicht direkt ein. Deshalb können sie auch immer für sich in Anspruch nehmen, die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Die indirekten Einschränkungen, für die sie verantwortlich sind, betrachten sie als unerlässlich, um Opfergruppen zu schützen und um Opfergruppen keinen Anlass zu geben, die Schuldseite als moralisch nicht geläutert hinzustellen. Meinungsfreiheit ist für Identitätslinke demnach kein politisch neutrales Grundrecht, sondern eines, das in richtige und falsche oder moralisch akzeptable und inakzeptable Meinungen zu unterteilen ist. Sie sprechen sich selbst die Deutungshoheit darüber zu, was akzeptabel ist.

De facto bedeutet das, dass für sie das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nur solange schützenswert ist, solange es nicht ihre Agenda durchkreuzt. Ist dies der Fall, versuchen sie Meinungsäußerungen durch Stigmatisierungen zu unterdrücken. Die moralische Diskreditierung Andersdenkender, zumeist in der Form der Etikettierung als rechts, rassistisch, islamophob oder sexistisch, dient ferner dazu, sich der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Kritik an den eigenen Positionen zu verweigern. Dazu haben Identitätslinke die Grenzen dessen, was als rechts usw. gilt, weit verschoben: rechts, rassistisch, islamophob und sexistisch ist nunmehr alles, was nicht stramm auf identitätslinkem Kurs liegt. Diese Grenzverschiebung ist der Grund, warum die Diskurskeulen „Nazi“, „Rassist“ usw. immer häufiger und heftiger geschwungen werden mit den entsprechenden polarisierenden und diskursvergiftenden Folgen für die Gesellschaft.

Dass sich auf diese Weise kein rechtes Gedankengut bekämpfen lässt, liegt auf der Hand.

Nur eine Geldfrage
Wikipedia: erfolgreichstes Machtinstrument linker Deutungshoheit
Ganz im Gegenteil: Die wirklich Rechten können sich in der Masse der aus läuterungsideologischen Gründen als rechts bezeichneten Personen verstecken. Wer Argumente und Meinungen aus dem Diskurs verdrängen will, weil sie den Rechten nützen könnten, opfert letztlich das Menschen- und Grundrecht auf Meinungsfreiheit dem Kampf gegen rechts und erweist der freiheitlich verfassten Gesellschaft einen Bärendienst.

TE: Ist es falsch zu behaupten, dass z. B. Opferentrepreneure oder Identitätslinke ständig eine Möglichkeit der Diskriminierung aufrechterhalten? Wird so anderen Positionen Bewegungs- und Diskussionsraum genommen, dient das den Identitätslinken zur Durchsetzung ihrer Deutungshoheit?

SK: Die politische Relevanz der identitätslinken Entrepreneure hängt in der Tat davon ab, dass sie Benachteiligungen von Opfergruppen ausmachen können. Mit jeder Benachteiligung, die die Gesellschaft abbaut, entzieht sie ihnen Stück für Stück die Geschäftsgrundlage. Um politisch relevant zu bleiben sowie um Jobs und Ressourcen zu sichern, sind sie immer auf der Suche nach neuen Benachteiligungsindikatoren. Je weniger Benachteiligungen bestehen, umso mehr verabsolutieren sie ihr Gleichheitsideal. Eine benachteiligungsfreie Gesellschaft ist in ihren Augen erst erreicht, wenn der Anteil der Opfergruppen in allen gesellschaftlichen Bereichen – allen voran Institutionen, Belegschaften und Parlamenten – genau deckungsgleich mit dem jeweiligen Bevölkerungsanteil ist.
Da dieses Ziel nicht erreichbar ist, haben sich die Entrepreneure ein dauerhaftes Betätigungsfeld geschaffen.

Die Einführung des Konzeptes der Mikroaggression ist eine weitere Strategie, mit der sich die identitätslinken Entrepreneure ein neues Mobilisierungsthema erschlossen haben. Ob eine Mikroaggression vorliegt, bestimmt allein das subjektive Empfinden eines Individuums aus einer Opfergruppe.

Damit wird Menschen aus einer Schuldgruppe die Deutungshoheit über ihre eigenen Worte genommen. Denn es kommt nicht mehr darauf an, was jemand sagen möchte, sondern nur noch wie das Gegenüber die Worte interpretiert und emotional darauf reagiert. Die Deutungshoheit über die eigenen Worte lässt sich durch Erklärungen, wie das Gesagte gemeint war, nicht wiedergewinnen, denn in diesen Fällen weisen die Entrepreneure darauf hin, dass die Deutungshoheit grundsätzlich beim Opferpart liegt.

Setzt sich dieser erst jüngst aus den USA übernommene Trend durch, sind die Folgen so absehbar wie verheerend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Wer Subjektivität in Form von verletzten Gefühlen zum alleinigen Maßstab erhebt und dabei anderen ihre kommunikative Selbstbestimmung nimmt, der öffnet der Willkür Tür und Tor und zerstört das Vertrauen der Menschen darauf, einen fairen Zugang zum Diskurs zu haben. Aber genau auf dieses Vertrauen ist jedes funktionierende Gemeinwesen angewiesen.

TE: Wie finden Sie eigentlich aus einem Kommunikationsteufelskreis hinaus?

SK: An erster, zweiter und dritter Stelle steht die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion. Wer nicht willens ist, die eigenen Ziele, Motive und Vorgehensweisen zu hinterfragen und die Folgen des eigenen Handelns in den Blick zu nehmen, steckt in einem ideologischen Gefängnis fest und ist unfähig einen Beitrag zur Gestaltung eines fairen demokratischen Willensbildungsprozesses zu leisten. Ist diese Bereitschaft vorhanden, gilt es zu analysieren, wie genau eine vergiftete Kommunikationssituation entstanden ist und wie sich Aktion und Reaktion zueinander verhalten bzw. sich hochschaukeln.

Daran anschließend geht es für die Beteiligten darum, sich zu überlegen, was sie zur Entgiftung des Kommunikationsklimas beitragen können. Unabhängig von konkreten auf der jeweiligen Analyse beruhenden Ansatzpunkten, kann man allen Beteiligten nur raten, sich nicht am jeweiligen politischen oder ideologischen Gegenpol zu orientieren und bestimmte Positionen besonders vehement zu vertreten, um sich möglichst stark vom Gegenpol abzugrenzen, so wie dies leider in den letzten Jahren zwischen Identitätslinken und Identitätsrechten der Fall war.

Last but not least muss das Ringen um gesellschaftliche Ziele und die Mittel zu ihrer Verwirklichung über die Sachebene und nicht über persönliche Diskreditierungen verlaufen.

TE: Frau Dr. Kostner, wir danken Ihnen für das erhellende Interview.

Giovanni Deriu ist freier Journalist, Dipl.-Sozialpädagoge und seit 20 Jahren in der (interkulturellen) Erwachsenenbildung tätig.

Dr. Sandra Kostner ist Migrationsforscherin, sie lehrt und forscht an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd und dort zudem Geschäftsführerin des Master-Studienzweigs Interkulturalität. Sie arbeitet u.a. auch beim Projekt der Evaluation des Paktes für Integration im Auftrag des Ministeriums für Soziales und Integration Baden-Württemberg mit.


Sandra Kostner (Hg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für die Migrationsgesellschaften. Ibidem-Verlag, 314 Seiten, 22,00 €


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