Mit der Läuterungsagenda führten die Identitätslinken auch ein neues Gerechtigkeitsmodell ein. Sprachlich wird dieses neue Modell nicht sichtbar, denn es verbirgt sich hinter dem auch von Identitätslinken genutzten Begriff der sozialen Gerechtigkeit. Analysiert man jedoch die politischen Ziele, zeigt sich, dass es ihnen inhaltlich mitnichten um eine übergreifende soziale Gerechtigkeit geht, sondern um eine auf die Förderung von Opfergruppen ausgelegte Identitätsgerechtigkeit.
Der Hauptunterschied der beiden Gerechtigkeitsmodelle besteht darin, dass soziale Gerechtigkeit auf die Herstellung von sozialer Durchlässigkeit ausgerichtet ist. Dies bedeutet, dass Menschen ihren sozialen Status beeinflussen können. Genau das schließt Identitätsgerechtigkeit aufgrund der anhand von unveränderbaren Merkmalen wie Geschlecht und Hautfarbe vorgenommenen Gruppeneinteilung aus. Gesellschaftliche Polarisierungen und daraus resultierende Fragmentierungen sind nahezu unausweichliche Folgen dieses Gerechtigkeitsmodells. Besonders polarisierend und fragmentierend wirken die fehlenden Möglichkeiten zum Statusgruppenwechsel, wodurch das die Gruppen Trennende starrer und unversöhnlicher wird.
Hinzu kommt, dass Identitätsgruppen um politische Aufmerksamkeit und Ressourcenzuteilung konkurrieren, was Fragmentierungstendenzen verstärkt. Eine Gesellschaft, die das Signal sendet, dass Gerechtigkeit von der Förderung von Opferidentitäten abhängt, lädt nachgerade dazu ein, immer neue Opfergruppen zu konstruieren und im Kampf um Ressourcen zu mobilisieren, mit den entsprechenden Folgen für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt.
Eng mit dem Polarisierungspotenzial der Interventionsfrage verbunden sind die einseitig an Privilegierte gerichteten Forderungen, die Identitäten der Nichtprivilegierten anzuerkennen. Die Einseitigkeit ist in den Augen der Identitätslinken gerechtfertigt, da eine Anerkennung der Privilegierten der Anerkennung der von ihnen geschaffenen Machtstrukturen und Unterdrückungspraktiken gleichkäme. Außerdem wird die Auffassung vertreten, dass die Identitäten von Opfergruppen positiv aufgeladen und gestärkt werden müssen. Auf diese Weise sollen Identitäten auf Augenhöhe gebracht werden. Erst wenn dies der Fall ist, so die Argumentation, kann Identitätsgerechtigkeit für alle verwirklicht werden.
Da ein Auf-Augenhöhe-Bringen am schnellsten vorankommt, wenn man auf beiden Seiten ansetzt, wird genau das gemacht. Anders ausgedrückt: Die Aufwertung von Nichtprivilegiertenidentitäten erfolgt auch mithilfe der Abwertung von Privilegiertenidentitäten. So werten Identitätslinke beispielsweise die Identitäten von Migranten auf und die der Mehrheitsgesellschaft ab. Das darin ruhende Polarisierungspotenzial wird von denjenigen, die diesen Prozess vorantreiben, übersehen bzw. gilt angesichts des hehren Zieles als vernachlässigbar. Die Bevölkerungsmehrheit hingegen neigt dazu, asymmetrische Anerkennungsforderungen und unterschiedliche Formen der Wertschätzung von Gruppenidentitäten als ungerecht zu empfinden und darauf verschnupft zu reagieren.
Argumente wären selbstredend hilfreicher als Vorwürfe, aber diese scheint man nicht zu haben. Oder man ist aufgrund dessen, dass man sich zu sehr in selbstreferentiellen Echokammern bewegt, nicht darauf vorbereitet, dass Analysen und Ansprüche begründet werden müssen; dass es mehr braucht als Behauptungen und dass es legitime Pro- und Contra-Argumente gibt. Wie sonst ist zu erklären, dass diskreditierende Unterstellungen so inflationär gebraucht werden und gut begründete Argumente so selten?
Fragmentierungspotenzial birgt darüber hinaus, dass Identitätslinke von den Angehörigen der „Dominanzgruppe“ Unterstützung für das von ihnen entworfene moralische Läuterungsprogramm einfordern. Darunter fällt beispielsweise die Aufforderung, positive Diskriminierungen zugunsten von Opfergruppen zu unterstützen. Forderungen dieser Art finden in der Bevölkerung keinen großen Rückhalt, worauf die Identitätslinken wiederum schnell und einseitig mit dem thematisch passenden -ismus/-phobie-Vorwurf reagieren.
Es scheint inzwischen die Vorstellungskraft vieler Identitätslinker zu übersteigen, dass es andere Gründe als Rassismus etc. für die Ablehnung solcher Aufforderungen geben könnte. Zumeist stehen keine rassistischen etc. Motive dahinter. Die Bevölkerungsmehrheit erkennt an, dass spezifische Gruppen Ungleichheiten ertragen mussten und müssen, welche die liberal-demokratischen Prinzipien der eigenen Gesellschaft konterkarieren. Die Herstellung gleicher Freiheit wird begrüßt, zumindest aber mitgetragen. Was abgelehnt wird, ist die Vorstellung, dass alte Ungerechtigkeiten durch neue geheilt werden sollen. Das ist umso mehr der Fall, wenn die neuen Ungleichbehandlungen auf die Nachfahren der für die alten Ungleichbehandlungen verantwortlichen Gruppen abzielen; wenn es also keine oder allenfalls eine sehr lose Kopplung zwischen persönlicher Verantwortung und eingeforderten Kompensationsleistungen gibt.
Was Identitätslinke von anderen Bevölkerungsgruppen unterscheidet, ist, dass letztere aufgrund von Schuldeingeständnissen keinen grundsätzlichen moralischen Autoritätsverlust verspüren und somit auch nicht das Bedürfnis, in den Geläutertenchor einzustimmen. Aus ihrer Sicht ist es vollkommen ausreichend, wenn ein Gemeinwesen seine liberal-demokratischen Prinzipien diskriminierungsfrei anwendet, um Chancengleichheit zu erreichen.
In der extremsten Form hat das Läuterungsbedürfnis so weit geführt, dass Identitätslinke ein neues Überlegenheitsgefühl entwickelt haben. Das alte Überlegenheitsgefühl beruhte auf Rassismus und richtete sich dementsprechend gegen andere Ethnien. Das neue Überlegenheitsgefühl bezieht seine Kraft aus dem moralischen Läuterungsgrad, den Mitglieder der „Dominanzgesellschaft“ aufweisen können. Die Unterteilung der „Dominanzgesellschaft“ in moralisch geläuterte und somit überlegene Personen und „die Anderen“ trifft bei „den Anderen“ naturgemäß auf wenig Gegenliebe und verstärkt Fragmentierungslinien.
Des Weiteren treten Fragmentierungen auch auf der parteipolitischen Ebene zutage. Insbesondere die Kluft, die sich im Lauf der Jahrzehnte zwischen der alten Linken, die weiterhin soziale Gerechtigkeit für alle verwirklichen will, und der Identitätslinken, die Identitätsgerechtigkeit priorisiert, auftat, hat in vielen westlichen Ländern die Stammwählerschaft von den sozialdemokratischen Parteien entfremdet. Letztendlich wurde mit dem Modell der Identitätsgerechtigkeit eine toxische Version von Gerechtigkeit entworfen, die ihr Polarisierungs- und Fragmentierungsgift langsam, aber stetig in die betroffenen Gesellschaften einträufelt. Das gesellschaftliche Klima wird von den neu geschaffenen Ungerechtigkeiten vor allem auch deshalb vergiftet, weil sie die Mehrheit betreffen und damit die Demokratiefrage im Raum steht.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Identitätslinken zwar aufgrund der Besetzung vieler Schlüsselpositionen einflussreiche Agenda-Setter sind, aber nicht die Bevölkerungsmehrheit stellen. Die von ihnen vorangetriebenen Gerechtigkeitsvisionen verstoßen in den Augen großer Bevölkerungsteile gegen wesentliche „soziomoralische Grundgesetze“, wie der Frankfurter Soziologe Karl Otto Hondrich die elementaren Beziehungsgesetze nannte, welche die „Grundlage gesellschaftlichen Lebens in allen Kulturen“ bilden. Hondrich kommt in seinem 2006 in der WELT veröffentlichten Gastbeitrag „Einwanderung ist Zumutung“ in Bezug auf die Verbindung von Demokratie und Akzeptanz von Migration zu der auch auf Identitätsgerechtigkeit zutreffenden Schlussfolgerung: „Solange demokratische Politik auf Mehrheitsentscheidungen beruht, muss sie der Mehrheit die Sicherheit geben, dass sie das Heft in der Hand behält, dass sie trotz Einwanderung Mehrheit bleibt und dass ihre kollektiven Gefühle, Interessen und Werte Vorrang genießen.“
Genau das ist in den letzten Jahren in den USA, in Australien und vielen europäischen Ländern passiert. Warnungen vor den toxischen Auswirkungen gab es relativ früh. Größtenteils werden sie bis heute ignoriert, wohl weil sie einem identitäts- und opferfixierten Zeitgeist widersprechen, moralische Läuterungsagenden durchkreuzen und die fehlgeleitete Angst vorherrscht, dass die Thematisierung der negativen Folgen der Identitätsgerechtigkeitsmodelle von den Falschen, sprich rechtspopulistischen Kräften, instrumentalisiert werden könnte. Übersehen wird dabei, dass, wer den Rechtspopulisten das Feld überlässt, sich nicht wundern darf, wenn diese es in ihrem Sinne besetzen.
Auszug aus: Sandra Kostner (Hg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften. Ibidem, 314 Seiten, 22,00 €