Tichys Einblick
Nach wie vor relevant: „Unterwerfung“

Houellebecq ist für die Anamnese der europäischen Krankheit unverzichtbar

Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ ist nicht nur ein literarischer Meilenstein, das Buch diagnostiziert die Rückkehr der Religion und das Ende des Atheismus in Europa. Der französische Schriftsteller ahnt, dass gerade im Katholizismus noch viel Kraft steckt. Von Alexander von Schönburg

Einsichten kommen manchmal aus unerwarteten Richtungen. Oft sind es die Außenseiter, die Verrückten, die Clochards, die große Wahrheiten aussprechen. Michel Houellebecq ist so ein Außenseiter. Auch äußerlich. Diogeneshaft gibt er sich betont nachlässig, gerne auch verwahrlost. Wer ihn einmal bei einer Lesung erlebt hat, wird bezeugen: Jede Faser seiner Erscheinung, jede Geste, die Mimik, alles schreit „Ihr kotzt mich an mit Eurer Gepflegtheit, mit Eurer sauberen Konsumwelt, Eurem Gesundheitskult, Eurem Joggen, Eurem veganen Müsli“. Für Houellebecq, um es gleich vorwegzunehmen, ist unsere Welt eine moralische Kloake, die wirtschaftlich schnurrt, aber seelisch entkernt ist, in der Sex und Konsum alles und Gott vergessen ist.

Wenn man sich die erlösungsbedürftigen, vergeblich im Sex die Erfüllung suchenden Protagonisten in den frühen Romanen des 1956 oder 1958 auf der französischen Überseeinsel Réunion geborenen Schriftstellers vor Augen hält, hat man eine Welt, – na ja, ein Europa – vor sich, das religiös und ethisch komplett entwurzelt ist. Eine Welt, in der das einzige Credo lautet „Tu Dir was Gutes! Du hast es Dir verdient!“ – und in der dieses Credo sogar auf die Christen übergegriffen hat, die ihre Religion auf Moralismus und eine Art seelischen Wellness-Kult reduzieren lassen und der Versuchung erlegen sind, sich selbst über- und die Notwendigkeit der Gnade zu unterschätzen.

Pelagianismus, mit anderen Worten. Wenn man die Krise des Bußsakraments und die jüngste Diskussion im Kopf hat, bei der es im Kern darum ging, die katholische Theologie des Leibes mit zeitgenössischer Sexualmoral in Einklang zu bringen, eine sehr aktuelle Häresie. Der Pelegianismus ist schließlich eine Versuchung, der auch moderne Theologen mehr oder weniger camoufliert erliegen. Der Semi-Pelagianismus, die weichgespülte Form also, hatte ebenfalls große Folgen und blüht bunter denn je.

Realismus
Das Phänomen Houellebecq
Keiner klagt die Selbsttäuschung der post-modernen Gesellschaft mit schärferen Worten und Bildern an als dieser Houellebecq. Neben „Unterwerfung“ (2015), das man angesichts des Exodus aus dem Orient in den Okzident als sein wichtigstes Buch bezeichnen muss, neben „Plattform“ (2001), das den sexuell-konsumistischen Erlösungskult unserer Gesellschaft karikiert, ist vermutlich „Karte und Gebiet“ (2011) sein wichtigstes Buch, weil es die Hohlheit des Kunst- und Kultur-Betriebs entlarvt, der für die europäischen Elite zur wichtigsten Ersatzreligion geworden ist. „Wir sind“, lässt Houellebecq einen Galeristen in „Karte und Gebiet“ sagen, „an einem Punkt angelangt, wo der Markterfolg jeden Mist rechtfertigt.“ Präziser ist die gehypte Welt des Kunstbetriebs nicht auf den Punkt zu bringen.

Es fehlt Houellebecq freilich so etwas wie Mitgefühl, um ihn als katholischen Autor bezeichnen zu können, aber für die Anamnese der europäischen Krankheit ist er unverzichtbar. Gerade der Roman „Unterwerfung“ sollte für Katholiken zum Kanon gehören, weil es schlicht kein zweites Buch gibt, dass Europas gegenwärtigen Abfall von der Religion gekonnter darstellt. Was seine Entwicklung zu einem quasi-katholischen Autor erst recht spannend macht, ist seine Metamorphose vom Darling der anti-kirchlichen französischen Linken zum Verächter der gerade in Frankreich so sankrosankten Errungenschaften der Aufklärung. Noch immer kann Houellebecq keine Silbe aussprechen, ohne dass „Libération“, das Zentralorgan der französischen Linken, dies aufgreift.

Das kämpferische Zentralorgan des Laizismus, die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, war lange quasi Houellebecqs Hausblatt. Als der Anschlag muslimischer Terroristen den Großteil der Redaktion ermordete, wurde an den Kiosken gerade die aktuelle Ausgabe mit Houellebecq auf dem Titel ausgeliefert, im Blatt eine ausführliche Rezension von „Unterwerfung“ aus der Feder seines engen Freundes, des an jenem Tag getöteten Ökonomen Bernard Maris, den „Charlie Hebdo“-Lesern besser bekannt als Kolumnist „Oncle Bernard“.

Eine hymnische Rezension übrigens. Noch sträubt sich die französische Linke, einzusehen, dass Houellebecq längst desertiert ist. Dabei ist seine Opposition gegen seine ehemaligen Weggefährten längst offenbar geworden. Zum Erscheinen seines Buchs „Unterwerfung“ gab er im Februar 2015 Interviews, in denen er Dinge sagte wie:

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„Wir wohnen einer Rückkehr des Religiösen bei. (…) Das Glaubens- und Wertesystem verändert sich. Eine Gedankenströmung, die mit der Reformation begann und mit der Aufklärung ihren Höhepunkt erreichte, ist dabei, zu erlöschen. (…) Der Rationalismus wird von immer mehr Menschen als erstickend empfunden. Es gibt eine spirituelle Macht, die noch aktiv ist und sogar wieder erstarkt. (…) Der Atheismus weicht zurück, er stirbt an seinen eigenen Zweifeln. Ich teile die Ansicht des Philosophen Auguste Comte, dass eine Gesellschaft ganz ohne Religion nicht fortbestehen kann. Ihr droht die völlige Desintegration. (…) Persönlich bin ich überzeugt, dass noch viel Kraft im Katholizismus steckt. Ich glaube, er hat Zukunft, obwohl sich die Entwicklung im Buch anders darstellt. Der Protest gegen die gleichgeschlechtliche Ehe brachte in Frankreich ungeheure Menschenmengen auf die Straße, darunter eine neue Generation junger Katholiken, modern, offen, sympathisch, brüderlich, leuchtend, wie ich sie nie gesehen hatte. Ganz anders als die alten Traditionalisten oder die Progressisten, die in Wahrheit verkappte Protestanten sind. (…) Die Aufklärung ist am Ende. Der Humanismus ist tot. Der Laizismus, vor über 100 Jahren erfunden von Politikern, die im Atheismus die Zukunft sahen, ist tot.“

Nicht übel für einen Alt-Linken. Und viel mehr als das. Sind wir uns eigentlich darüber klar, was das für einen Paradigmenwechsel bedeutet, wenn der prominenteste linke Denker Frankreichs von einem Prozess der Respiritualisierung spricht? Das ist so, als würden sich Diderot oder Sartre öffentlich bekehren! Von Diderot ist ja tatsächlich eine Anekdote überliefert, wonach ein Schüler ihn am Ende seines Lebens gefragt haben soll, ob die Welt durch Wissenschaft besser geworden sei – was Diderot dann angeblich lachend verneinte. Aber selbst, wenn die Anekdote stimmt, ist wahrscheinlich eher Diderots Widerspruchsgeist, seine Weigerung, voraussehbar zu sein, für die Pointe verantwortlich. Bei Houellebecq kommt sie hingegen aus der Tiefe seiner Überzeugung.

Viel ist darüber geschrieben worden, dass „Unterwerfung“ an Jean Raspails 1972 erschienenen Roman „Heerlager der Heiligen“ erinnert. Wie im Buch des katholischen Taliban Raspail geht es in „Unterwerfung“ um die Kapitulation Frankreichs vor Menschen aus einem anderen Kulturkreis, einer anderen religiösen Zivilisation. Wie bei Raspail breitet das in seiner Permissivität wehrlos gewordene Frankreich den Eroberern dabei auch noch den roten Teppich aus, überlässt ihnen leerstehende Kirchen. Aber während Raspail den Liebhabern reaktionärer Literatur als jemand bekannt ist, der zwar den Untergang Frankreichs prophezeit, aber gleichzeitig von einer Art Reconquista des Abendlandes durch christliche Ritter träumt, nimmt Houellebecq eine andere, eine originellere Abzweigung.

Seine „Unterwerfung“ hat fast eine Art Lächeln auf den Lippen, denn bei ihm entdecken die letzten verbliebenen Christen, dass es nicht mehr um das Duell zwischen Abend- und Morgenland geht, sondern dass das letzte Gefecht das zwischen Religiösen und Areligiösen ist – und in diesem Endkampf stehen Katholiken, Evangelikale und Muslime – was für eine Ironie der Weltgeschichte – Schulter an Schulter hinter der gleichen Barrikade. Insofern läuft auch jeder Vorwurf, Houellebecqs Bücher seien anti-islamisch oder gar rassistisch, ins Leere. Im Gegenteil. In seinen frühen Büchern hat Houellebecq seinen Protagonisten tatsächlich Worte in den Mund gelegt, die von Muslimen als verletzend empfunden werden mussten. Gerade aus „Unterwerfung“ ist aber ein Unterton der Bewunderung für die spirituelle Stabilität der muslimischen Kultur spürbar.

Kompetente, faire und kritische Darstellung
Ein genialer Wurf: Peter Seewalds „Benedikt XVI. Ein Leben“
Das, was Houellebecq ausdrückt, wenn er von der Submission/Unterwerfung Frankreichs unter den Islam fantasiert, ist nicht weit entfernt von einer Aussage Papst Benedikts XVI. über den Islam: „Er bietet eine geistige Grundlage, die dem alten Europa abhanden gekommen zu sein scheint. (…) Mit dem Sieg der technisch-säkularen Welt, mit der Universalisierung ihres Lebensmusters und ihrer Denkweise verbindet sich weltweit, besonders aber in den nicht-europäischen Welten Asiens und Afrikas der Eindruck, dass die Wertewelt Europas eigentlich schon abgetreten sei, dass nun die Stunde der Wertesysteme anderer Welten, etwa des Islams und der asiatischen Mystik gekommen sei. Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden.“ Letztlich wirft uns die Multikulturalität auf uns selbst zurück, weil wir uns plötzlich Gedanken machen müssen, was unsere eigene Kultur eigentlich ausmacht, was unsere non-negotiable basics (unverhandelbaren Grundlagen) sind. Und in diese Wunde legt Houellebecq seinen Finger.

Die Geschichte der Houellebecq-Bücher liest sich bislang wie eine Bekehrungsgeschichte. Es ist ja auch kein Zufall, dass der Protagonist in „Unterwerfung“ ein Literaturdozent an der Universität ist, dessen Spezialgebiet Joris-Karl Huysmans ist. Huysmans! Jener Vertreter des Fin de Siècle, der es nach Abstürzen in Mystizismus und weiß Gott was für dunkle Sphären schließlich in den Schoß der Kirche schaffte und in seinen vier letzten Büchern, „En route“ (1895), „La Cathédrale“ (1898), „L’Oblat“ (1903) und „Les foules de Lourdes“ (1906) Zeugnis seines Bekehrungserlebnisses ablegte.

Aus jedem von Houellebecqs Büchern, vor allem aber aus „Unterwerfung“, ruft ein ähnliches, durchaus vergleichbares Ringen mit dem katholischen Glauben. Schon „Plattform“ ist eine einzige Anklageschrift gegen die sittlich und moralisch verkommene Konsumwelt, die frustrierende Sucht des modernen Menschen nach Glück. In „Unterwerfung“ wird das, was vorher nur zwischen den Zeilen stand, ausformuliert. Tatsächlich sollte „Unterwerfung“ ursprünglich „Bekehrung“ heißen, wie der Autor in einem Interview mit dem „Spiegel“ verriet: „Meine Hauptfigur sollte sich zum Katholizismus bekehren, so wie ihr Vorbild, der Schriftsteller Huysmans, gut ein Jahrhundert zuvor.“ Der Redakteur des „Spiegel“ fragt Houellebecq daraufhin: „Würden Sie selbst gern an Gott glauben?“ Darauf er: „Ja.“ – „Aber es gelingt ihnen nicht?“ – Er: „Nicht oft.“

Eine der spannendsten Fragen des europäischen Geisteslebens ist nun, ob und wie Houellebecqs Bekehrung vonstatten geht und ob und wie sich dies in seinen nächsten Büchern niederschlagen wird.

Dieser Beitrag von Alexander von Schönburg erschien unter dem Titel „Prozess der Respiritualisierung“ zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

Michel Houellebecq, Unterwerfung. Roman. DuMont Buchverlag, Taschenbuchausgabe mit Lesebändchen, 272 Seiten, 12,00 €.


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