Einsichten kommen manchmal aus unerwarteten Richtungen. Oft sind es die Außenseiter, die Verrückten, die Clochards, die große Wahrheiten aussprechen. Michel Houellebecq ist so ein Außenseiter. Auch äußerlich. Diogeneshaft gibt er sich betont nachlässig, gerne auch verwahrlost. Wer ihn einmal bei einer Lesung erlebt hat, wird bezeugen: Jede Faser seiner Erscheinung, jede Geste, die Mimik, alles schreit „Ihr kotzt mich an mit Eurer Gepflegtheit, mit Eurer sauberen Konsumwelt, Eurem Gesundheitskult, Eurem Joggen, Eurem veganen Müsli“. Für Houellebecq, um es gleich vorwegzunehmen, ist unsere Welt eine moralische Kloake, die wirtschaftlich schnurrt, aber seelisch entkernt ist, in der Sex und Konsum alles und Gott vergessen ist.
Wenn man sich die erlösungsbedürftigen, vergeblich im Sex die Erfüllung suchenden Protagonisten in den frühen Romanen des 1956 oder 1958 auf der französischen Überseeinsel Réunion geborenen Schriftstellers vor Augen hält, hat man eine Welt, – na ja, ein Europa – vor sich, das religiös und ethisch komplett entwurzelt ist. Eine Welt, in der das einzige Credo lautet „Tu Dir was Gutes! Du hast es Dir verdient!“ – und in der dieses Credo sogar auf die Christen übergegriffen hat, die ihre Religion auf Moralismus und eine Art seelischen Wellness-Kult reduzieren lassen und der Versuchung erlegen sind, sich selbst über- und die Notwendigkeit der Gnade zu unterschätzen.
Pelagianismus, mit anderen Worten. Wenn man die Krise des Bußsakraments und die jüngste Diskussion im Kopf hat, bei der es im Kern darum ging, die katholische Theologie des Leibes mit zeitgenössischer Sexualmoral in Einklang zu bringen, eine sehr aktuelle Häresie. Der Pelegianismus ist schließlich eine Versuchung, der auch moderne Theologen mehr oder weniger camoufliert erliegen. Der Semi-Pelagianismus, die weichgespülte Form also, hatte ebenfalls große Folgen und blüht bunter denn je.
Es fehlt Houellebecq freilich so etwas wie Mitgefühl, um ihn als katholischen Autor bezeichnen zu können, aber für die Anamnese der europäischen Krankheit ist er unverzichtbar. Gerade der Roman „Unterwerfung“ sollte für Katholiken zum Kanon gehören, weil es schlicht kein zweites Buch gibt, dass Europas gegenwärtigen Abfall von der Religion gekonnter darstellt. Was seine Entwicklung zu einem quasi-katholischen Autor erst recht spannend macht, ist seine Metamorphose vom Darling der anti-kirchlichen französischen Linken zum Verächter der gerade in Frankreich so sankrosankten Errungenschaften der Aufklärung. Noch immer kann Houellebecq keine Silbe aussprechen, ohne dass „Libération“, das Zentralorgan der französischen Linken, dies aufgreift.
Das kämpferische Zentralorgan des Laizismus, die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, war lange quasi Houellebecqs Hausblatt. Als der Anschlag muslimischer Terroristen den Großteil der Redaktion ermordete, wurde an den Kiosken gerade die aktuelle Ausgabe mit Houellebecq auf dem Titel ausgeliefert, im Blatt eine ausführliche Rezension von „Unterwerfung“ aus der Feder seines engen Freundes, des an jenem Tag getöteten Ökonomen Bernard Maris, den „Charlie Hebdo“-Lesern besser bekannt als Kolumnist „Oncle Bernard“.
Eine hymnische Rezension übrigens. Noch sträubt sich die französische Linke, einzusehen, dass Houellebecq längst desertiert ist. Dabei ist seine Opposition gegen seine ehemaligen Weggefährten längst offenbar geworden. Zum Erscheinen seines Buchs „Unterwerfung“ gab er im Februar 2015 Interviews, in denen er Dinge sagte wie:
Nicht übel für einen Alt-Linken. Und viel mehr als das. Sind wir uns eigentlich darüber klar, was das für einen Paradigmenwechsel bedeutet, wenn der prominenteste linke Denker Frankreichs von einem Prozess der Respiritualisierung spricht? Das ist so, als würden sich Diderot oder Sartre öffentlich bekehren! Von Diderot ist ja tatsächlich eine Anekdote überliefert, wonach ein Schüler ihn am Ende seines Lebens gefragt haben soll, ob die Welt durch Wissenschaft besser geworden sei – was Diderot dann angeblich lachend verneinte. Aber selbst, wenn die Anekdote stimmt, ist wahrscheinlich eher Diderots Widerspruchsgeist, seine Weigerung, voraussehbar zu sein, für die Pointe verantwortlich. Bei Houellebecq kommt sie hingegen aus der Tiefe seiner Überzeugung.
Viel ist darüber geschrieben worden, dass „Unterwerfung“ an Jean Raspails 1972 erschienenen Roman „Heerlager der Heiligen“ erinnert. Wie im Buch des katholischen Taliban Raspail geht es in „Unterwerfung“ um die Kapitulation Frankreichs vor Menschen aus einem anderen Kulturkreis, einer anderen religiösen Zivilisation. Wie bei Raspail breitet das in seiner Permissivität wehrlos gewordene Frankreich den Eroberern dabei auch noch den roten Teppich aus, überlässt ihnen leerstehende Kirchen. Aber während Raspail den Liebhabern reaktionärer Literatur als jemand bekannt ist, der zwar den Untergang Frankreichs prophezeit, aber gleichzeitig von einer Art Reconquista des Abendlandes durch christliche Ritter träumt, nimmt Houellebecq eine andere, eine originellere Abzweigung.
Seine „Unterwerfung“ hat fast eine Art Lächeln auf den Lippen, denn bei ihm entdecken die letzten verbliebenen Christen, dass es nicht mehr um das Duell zwischen Abend- und Morgenland geht, sondern dass das letzte Gefecht das zwischen Religiösen und Areligiösen ist – und in diesem Endkampf stehen Katholiken, Evangelikale und Muslime – was für eine Ironie der Weltgeschichte – Schulter an Schulter hinter der gleichen Barrikade. Insofern läuft auch jeder Vorwurf, Houellebecqs Bücher seien anti-islamisch oder gar rassistisch, ins Leere. Im Gegenteil. In seinen frühen Büchern hat Houellebecq seinen Protagonisten tatsächlich Worte in den Mund gelegt, die von Muslimen als verletzend empfunden werden mussten. Gerade aus „Unterwerfung“ ist aber ein Unterton der Bewunderung für die spirituelle Stabilität der muslimischen Kultur spürbar.
Die Geschichte der Houellebecq-Bücher liest sich bislang wie eine Bekehrungsgeschichte. Es ist ja auch kein Zufall, dass der Protagonist in „Unterwerfung“ ein Literaturdozent an der Universität ist, dessen Spezialgebiet Joris-Karl Huysmans ist. Huysmans! Jener Vertreter des Fin de Siècle, der es nach Abstürzen in Mystizismus und weiß Gott was für dunkle Sphären schließlich in den Schoß der Kirche schaffte und in seinen vier letzten Büchern, „En route“ (1895), „La Cathédrale“ (1898), „L’Oblat“ (1903) und „Les foules de Lourdes“ (1906) Zeugnis seines Bekehrungserlebnisses ablegte.
Aus jedem von Houellebecqs Büchern, vor allem aber aus „Unterwerfung“, ruft ein ähnliches, durchaus vergleichbares Ringen mit dem katholischen Glauben. Schon „Plattform“ ist eine einzige Anklageschrift gegen die sittlich und moralisch verkommene Konsumwelt, die frustrierende Sucht des modernen Menschen nach Glück. In „Unterwerfung“ wird das, was vorher nur zwischen den Zeilen stand, ausformuliert. Tatsächlich sollte „Unterwerfung“ ursprünglich „Bekehrung“ heißen, wie der Autor in einem Interview mit dem „Spiegel“ verriet: „Meine Hauptfigur sollte sich zum Katholizismus bekehren, so wie ihr Vorbild, der Schriftsteller Huysmans, gut ein Jahrhundert zuvor.“ Der Redakteur des „Spiegel“ fragt Houellebecq daraufhin: „Würden Sie selbst gern an Gott glauben?“ Darauf er: „Ja.“ – „Aber es gelingt ihnen nicht?“ – Er: „Nicht oft.“
Eine der spannendsten Fragen des europäischen Geisteslebens ist nun, ob und wie Houellebecqs Bekehrung vonstatten geht und ob und wie sich dies in seinen nächsten Büchern niederschlagen wird.
Dieser Beitrag von Alexander von Schönburg erschien unter dem Titel „Prozess der Respiritualisierung“ zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Michel Houellebecq, Unterwerfung. Roman. DuMont Buchverlag, Taschenbuchausgabe mit Lesebändchen, 272 Seiten, 12,00 €.