Ihr Klang besaß eine industrielle Konnotation, er verhieß eine Dringlichkeit, aber auch Zweckmäßigkeit – im Gegensatz zu den Sirenen in England, deren hohe Tonlage schwach außerweltlich erschien wie der Schrei einer Banshee in der Dunkelheit, ertönten die Fliegeralarme in Deutschland eine Oktave niedriger. Sie hoben an und nahmen wieder ab, wie alle Sirenen, aber sie klangen eher wie eine Warnung oder gar die Werkssirene bei Schichtende: Sachlich, kein Grund zur Panik, jeder begebe sich ganz ruhig zum Ausgang. In ganz Dresden waren Sirenen auf Dächern und Mauern installiert, und im Februar 1945 hatte für viele Menschen ihr Geheul an Gefährlichkeit eingebüßt, hatten sie doch Nacht für Nacht mit den Fehlalarmen ihre ursprünglich furchteinflößende Wirkung verloren. Am 13. Februar 1945 um 21 Uhr 40 wurde erneute Fliegeralarm ausgerufen, und als sein Dröhnen von den engen Straßen der hohen Wohnblöcke widerhallte und die Luft der breiteren Alleen und der wohlhabenderen Vorstadtstraßen schwängerte, machten sich viele Einwohner nur noch resigniert auf den Weg in die Luftschutzkeller, auch wenn der Moderator sogar das laufende Radioprogramm unterbracht und den Zuhörern verkündete, dass eine Staffel feindlicher Flugzeuge entdeckt worden war, die auf die Stadt zuhielt.
Albert Fromme war immer noch auf einer Geburtstagsfeier, als das kehlige Heulen des Fliegeralarms ohne Voralarm einsetzte. Einer der Gäste schaltet das Radio ein, um zu hören, ob man sich ernsthaft Sorgen machen müsse. »Ich spürte sofort, dass etwas Bedeutendes vor sich ging«, schrieb Dr. Fromme später. Im Radio wurde angekündigt, dass sich tatsächlich Bomber auf dem Weg nach Dresden befanden. Die Feier löste sich umgehend auf, seine Nachbarn und er sammelten ihre »Luftangriff-Ausrüstung« ein und gingen hinunter in den Schutzraum im Keller.
Frank konnte sich später nicht mehr daran erinnern, ob seine Mutter ihn noch im Halbschlaf aus dem Bett geholt hatte. »War es nur der Schreck, so plötzlich aus dem Schlaf gerissen zu werden, weshalb ich weinen musste?« Und mit dem Schreck kamen die Sirenen, die für den kleinen Jungen »scheußlich« klangen. In eine Decke gehüllt trug ihn seine Mutter eilig aus der Wohnung.
Ihr Luftschutzraum lag im Keller; ein langer Ziegelsteinkorridor mit kleinen Parzellen, die von ihm abgingen. Auf dem Weg hinunter registrierte er bewusst die »schwache Treppenhausbeleuchtung« und die absolute Dunkelheit vor dem Treppenhausfenster. Sein Vater hatte ein paar Wertsachen aus Familienbestand mitgebracht, und jetzt nahmen sie in der gewölbeartigen Parzelle an ihrem einfachen Tisch auf selbst gezimmerten Stühlen Platz, während sein Vater ihre kleinen Habseligkeiten in einer Ecke verstaute. Etwas Proviant, den sie mitgebracht hatten, wurde auf den Tisch gelegt. (…)
Einige Keller fielen bequemer als andere aus. Helmut Voigt verließ zusammen mit seiner Mutter und seinem älteren Cousin Roland ihren Wohnblock südlich des Bahnhofs und machte sich auf den Weg zum Eingang eines Lagerkellers, der sich unter einer regionalen Brauerei befand. Dieser moderne Luftschutzkeller – Treppen aus Beton, nackte Glühbirnen und kahle Wände – lag mehrere Geschosse unter der Erde. Voigt schätzte, dass er für etwas hundert Personen ausreichend Platz bot. Aber als in dieser Nacht die Sirenen aufheulten, bemerkte der Jugendliche mit einigem Unbehagen, dass es dieses Mal anders war: Der Keller füllte sich nicht nur mit vertrauten Nachbarn, sondern auch mit einer Flut von Fremden, die nicht abzureißen schien.
»Viele Menschen strömten herein, die ich noch nie dort gesehen hatte«, erinnerte er sich später. »Einige von ihnen waren die Fahrgäste einer Straßenbahn der Linie 6, andere waren Flüchtlinge, die plötzlich begriffen hatten, in welcher Gefahr sie sich befanden, weshalb sie sich anderen Dresdnern anschlossen und ihnen in die Luftschutzkeller folgten.« Mit jedem weiteren Neuankömmling, der die Treppe hinunterkam, verschob sich das Gefühl für den Raum spürbar. War der Keller ansonsten recht geräumig, waren nun alle Plätze besetzt; wer jetzt noch hier Schutz suchte, musste stehen. Es gab auch einen Vorraum und einen kurzen Korridor, aber auch hier drängelten sich mittlerweile die Menschen.
In all dem Trubel wusste niemand von denjenigen, die die Luftschutzkeller aufsuchten – Tausende von Menschen die sich so geordnet wie möglich verhielten -, wie viel Zeit ihnen blieb, bevor die ersten Bomben fallen würden. Die Sirenen und die Radiodurchsagen kündeten von einer Katastrophe, die kurz bevorstand, aber was bedeutete das genau? Sekunden? Eine Stunde? Viele Menschen versuchten, durch den unaufhörlichen Heulton der Sirenen hindurch das herannahende Gebrumm der Flugzeuge auszumachen. Tatsächlich gab es im Herzen der Altstadt viele Passanten, die mit zum Himmel erhobenen Blick noch immer in den engen Gassen unterwegs waren und das Gebrüll der Bereitschaftspolizei ignorierten. (…)
Die Distanz, die sich zwischen der kleinen Welt unten und den gepflasterten Gassen darüber auftat, war groß. Abgesehen von der ständigen Klage der tiefkehligen Sirenen war es auf der Straße, die zum reich verzierten Eingang des Zwingergartens führte und schließlich weiter zum heiteren klassizistischen Bau der Semperoper, nun ruhig geworden. Die letzten Nachzügler hetzten auf der Suche nach weniger gesicherten Luftschutzkellern vorbei an der Katholischen Hofkirche und die Freitreppe hinauf zur Promenade der Brühlschen Terrasse mit ihren Balustraden. Entlang dieser Terrasse ragten die eleganten Fassaden der Kunstakademie und des Albertinums auf, in dem die Stadtverwaltung ihren Sitz hatte. Das Albertinum verfügte über einen eigenen, großzügigen Keller, in den nun von der Straßenseite her Beamte und Zivilisten strömten, die sich zu weit entfernt von ihren üblichen Luftschutzkellern aufhielten.
Und nur wenige Meter davon entfernt lagen einige Judenhäuser. Nach einem qualvollen Tag, an dem Victor Klemperer seinen jüdischen Mitbürgern die »Evakuation für alle Einsatzfähigen« ausgehändigt hatte, trank er mit seiner Frau gerade einen Kaffee, als die Sirenen ertönten. Eine Nachbarin rief voll Bitterkeit aus, dass sie hoffte, die Bomber würden kommen, auf dass sie alles »zerschmissen«. Offensichtlich lag jeder andere Ausweg außerhalb ihrer Vorstellungskraft, und Klemperer schien von dem bitteren Nihilismus nicht im Mindesten schockiert.
Etwas nördlicher, wo die Schienen die Elbe überquerten und in den bescheideneren Bahnhof Neustadt führten, drängten sich unzählige Flüchtlinge, die auf Anweisungen warteten. Winfried Bielss und sein Freund Horst hielten sich ein paar Straßen weiter auf und waren noch für die Hitlerjugend unterwegs; gerade erst hatten sie eine Flüchtlingsfamilie zu einer provisorischen Unterkunft in einem requirierten Schulgebäude gebracht. Als die Sirenen losheulten, waren sie noch ziemlich weit von ihren Elternhäusern entfernt gewesen. Nun mussten sie sich sehr schnell entscheiden, wie sie vorgehen wollten.
In der Katharinenstraße, unter den eleganten Villen und Bürgerhäusern aus dem 19. Jahrhundert, fanden sie einen Luftschutzkeller; es war kaum mehr als ein einfacher Kellerraum, noch dazu unbequem und verständlicherweise überfüllt. Ungewöhnlicher war da schon, dass den Jungen gesagt wurde, sie könnten wegen Platzmangel nicht bleiben und müssten sich woanders umsehen. Sekunden später fanden sich Winfried und Horst auf der Straße wieder, inmitten des infernalischen Lärms der Sirenen.
Was tun? Sollten sie zum Bahnhof Neustadt zurück? Winfried zögerte, da war auch kein Platz mehr. Horst schlug vor, über die Brücke und durch die Gassen der Altstadt zum Haus seiner Familie in der Nähe der Kreuzkirche zu rennen, aber das bedeutete rund zwei Kilometer zu laufen, und Winfried glaubte nicht, dass die Zeit dafür noch reichte.
Während die Jungen unter dem schwarzen Nachthimmel beratschlagten, wurden sie von zwei Polizisten, die es sehr eilig hatten, aufgegriffen und zu einem anderen Luftschutzkeller gebracht. Draußen im Freien sei es viel zu gefährlich für sie, sagte einer der Beamten zu ihnen. (…) Aber Bielss versicherte ganz ungerührt, dass sich sein Zuhause nur eine Straße weiter befände und er fast da wäre. Davon war natürlich kein Wort war, aber die Polizisten gaben sich zufrieden und suchten selbst eilends den nächsten Luftschutzkeller auf. »Ich wollte einfach nur durch die ruhig daliegenden Viertel nach Hause gehen«, erinnerte sich Winfried Bielss später. (…)
Sie passierten nun einen kleinen Park, der dunkler als die Straße war und in dem die Jungen mutterseelenallein waren. Sie befanden sich auf der Alaunstraße, die unweit der Mitte des Knicks, den die Elbe in Dresden macht, in Richtung Norden sanft bergauf führt. Von hier aus konnten sie die Silhouette der Altstadt und die Wolken darüber sehen, und jetzt nahmen sie zum ersten Mal auch das Brummen bewusst wahr. »Die Propellergeräusche waren jetzt schon zu hören«, erinnert sich Bielss. (…)
»Jetzt rannten wir los«, erinnert sich Winfried Bielss. Die Jungen waren nicht mehr weit von seinem Haus entfernt. Beide zeigten sich augenblicklich fasziniert und entsetzt zugleich von der Art und Weise, wie der Himmel und die Stadt immer heller erleuchtet wurden. Aus den schwarzen Wolken und der Dunkelheit regnete es nun unzählige »Christbäume« hinab; das zu bombardierende Gebiet lag weit verstreut und erstreckte sich von der Altstadt bis zur Johannstadt. Bielss weiß noch von weiterer Leuchtmunition in verschiedenen Farben, darunter leuchtendes Blau, intensives Grün und sogar ein sehr helles Orange, das die Wolken über Dresden in ein kränkliches Gelb tauchte. Von diesem Aussichtspunkt, von dieser sanften Erhebung aus mag die Verlockung groß gewesen sein, stehen zu bleiben und dem Spektakel zuzuschauen, wenigstens für ein paar Sekunden. Aber die Jungen hatten nun endlich verstanden, vielleicht war die Erkenntnis durch die immer lauter werdende Kakofonie der herannahenden Bomber gereift, dass sie rennen mussten, sich im Laufschritt in Sicherheit bringen mussten.
Gekürzter Auszug aus:
Sinclair McKay, Die Nacht, als das Feuer kam. Dresden 1945. Aus dem Englischen übersetzt von René Stein. Goldmann Verlag, 560 Seiten mit Bildteil, 22,00 €.
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