Der berühmte Marxist Herbert Marcuse – in den Medien oft als «Vater der neuen Linken» bezeichnet – argumentiert in seinem Essay «Repressive Toleranz», im Jahr 1965 für die Legitimierung der Intoleranz in bestimment Fällen. «Das traditionelle Kriterium ‹eindeutiger und gegenwärtiger Gefahr› scheint einer Stufe nicht mehr angemessen, auf der sich die ganze Gesellschaft in der Lage des Theaterpublikums befindet, wenn jemand ‹Feuer› schreit.» Mit Bezug auf Nazi-Deutschland räsonierte Marcuse, dass durch «unbesonnene Rede» zu jedem Zeitpunkt eine Katastrophe ausgelöst werden könne. Seine Lösung lautet: «Folglich erfordert wahre Befriedung, dass die Toleranz vor der Tat entzogen werde: auf der Stufe der Kommunikation in Wort, Druck und Bild.»
Diese Worte Marcuses skizzieren eine mögliche Zukunft Europas in treffender Weise. Es wäre eine Zukunft steigender staatlicher Zensur, wo die extreme Aufhebung des Rechts auf Redefreiheit aufgrund dessen gerechtfertigt würde, dass die gesamte Gesellschaft in großer Gefahr sei, im «Extremismus» unterzugehen.
Deshalb müssen wir, wenn wir einen Rückblick auf die Entstehung der europäischen «Hassrede»-Gesetze werfen und die gegenwärtige Wirkung solcher Gesetze bewerten, nach vorne sehen und uns fragen: Was hält die Zukunft für Europa bereit?
Mit jedem Jahr, das ins Land zieht, dehnt ein europäisches Land seine «Hassrede»-Gesetzgebung aus. In vielen Fällen sind es Menschenrechtsorganisationen, die die Klagen führen; ihre Kampagnen zielen darauf ab, dass die Regierung die Rede ihrer Bürger eingrenzt. Studenten an führenden Universitäten wollen lieber vor Kränkung geschützt werden, als Redefreiheit zu besitzen. Und es gibt gegenwärtig eine unerschütterliche Unterstützung für solche einschränkenden Gesetze seitens der europäischen und internationalen wichtigsten Institutionen und Gremien, die die Menschenrechte «überwachen».
Erstens: Der Geltungsbereich von «Hassrede»-Gesetzen wird ausgeweitet
Eine Zukunft steigender Zensur wird dazu führen, dass der Geltungsbereich von «Hassrede»-Gesetzen deutlich ausgeweitet wird. (…) Das ursprüngliche Konzept, die extremsten Formen rassistischer Rede zu verbieten, expandierte in den vergangenen fünfzig Jahren und beinhaltet aktuell weitere Formen der Rede wie zum Beispiel religiösen Hass, homophoben Hass und, ganz neu, transphoben Hass. Für den, der dies will, ist die Matrjoschka der Redebeschränkungen endlos.
2012 berichtete das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen über «negative Gender-Stereotypen» in Island. In der Pressemitteilung dazu hieß es, dass die negativen Gender-Stereotypen, die in der isländischen Gesellschaft existieren würden, typisch seien. Dazu gehöre der Glaube, dass ein Bauarbeiter nur ein Mann und eine Krankenschwester nur eine Frau sein könne. Die Forschung habe gezeigt, dass solche Stereotypen den Boden für genderbasierte Gewalt und Diskriminierung bereiten würden. Island, so heißt es weiter, teile die Besorgnis über die ineffektive Anti-Hassrede-Gesetzgebung und tue sein Bestes, um dieses Thema anzugehen.
Während Island über eine solche Gesetzgebung noch nachdachte, ging Belgien weiter und schuf 2014 ein neues Gesetz: Loi contre le sexisme dans l’espace public. Darin heißt es, dass «jede öffentliche Geste oder Verhaltensweise, die offensichtlich dem Zweck dient, gegenüber einer Person wegen ihres Geschlechts Verachtung zum Ausdruck zu bringen, oder aus dem gleichen Grund eine Person als minderwertig zu betrachten oder eine Person auf ihr Geschlecht zu reduzieren, und die eine schwere Verletzung der Würde dieser Person darstellen […]», eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung mit bis zu einem Jahr Gefängnis darstellt». (…)
Zweitens: Die Schwelle der «Hassrede»-Gesetze sinkt
Der Geltungsbereich von «Hassrede»-Gesetzen wird sich ausweiten, die Schwelle, wann solche Gesetze angewandt werden, wird sinken. Folglich wird eine Zukunft steigender Zensur auch dazu führen, dass eine größere Anzahl von Mainstream-Ansichten – nicht nur von «extremen» Ansichten – verboten werden wird (…), wie die folgenden Zitate verdeutlichen:
- «Eine Studie in Großbritannien zeigte, dass die große Mehrheit von Hassreden nicht von Extremisten oder Radikalen begangen wird, sondern von normalen Menschen.»
- «Die Identifizierung von […] ‹Hassrede› ist manchmal schwierig […]. Sie kann sich auch in Äußerungen verbergen, die auf den ersten Blick als vernünftig oder normal erscheinen mögen.»
- «Manchmal ist Hassrede in keiner Weise direkt […]. [Der] Gebrauch des Begriffes ‹Familie› und die Formulierung ‹traditionelle Familienwerte› ist an sich eine Form der Hassrede […].»
Drittens: Es wird eine Kultur der Zensur geschaffen
Eine Zukunft steigender Zensur wird dazu führen, dass Einschränkungen der Redefreiheit sich vom Strafrecht aus in immer mehr Bereiche des Lebens ausbreiten werden: TV- und Radio-Verhaltenskodices, Regeln am Arbeitsplatz, Regeln auf dem Universitäts-Campus und so weiter.
Die Öffentlichkeit wisse, was ein Verbrechen sei und was nicht. Wenn folglich das Strafrecht in einer Gesellschaft die Redefreiheit stark einschränkt, kann man zu Recht annehmen, dass die Kultur einer solchen Gesellschaft gegenüber der Redefreiheit ebenfalls eine restriktive Haltung einnehmen wird. Es wird eine Kultur geschaffen, in der der Ausdruck «Das kannst du nicht sagen» zum Allgemeinplatz wird, wenn dies nicht schon geschehen ist. (…)
Viertens: Steigende, von der Regierung unterstützte Überwachung und Berichterstattung
Es wird in einer Zukunft der steigenden Zensur auch eine Ausweitung von Prozessen, staatlich unterstützten Kontrollorganen und von «Hassrede»-Berichterstattung geben. Wie es ein Fachmann ausdrückt, wird dann der «Strudel aus Sprachregelungsgesetz-Klagen, Gerichtsverfahren und Ermittlungen» von einer ganzen Industrie aufrechterhalten.
Entsprechend werden Dutzende von «Anti-Hass»-Gruppierungen «bereitwillig Beschwerden und Klagen einreichen und manchmal auch die direkten Nutznießer sein, wenn Geldstrafen auferlegt werden. Ihre Beschwerden wiederum rufen Ermittlungen einer ganzen Buchstabensuppe von Regierungsbehörden hervor … Und diese münden dann im Gerichtssystem.»
Diese «Buchstabensuppe von Regierungsbehörden» mag bereits bestehen, doch wird ihr Ausmaß und ihre Rolle bei steigender Zensur sich immer nur weiter ausweiten. Deren staatliche Finanzierung beruht darauf, «ein Problem zu lösen». Je größer das Problem ist, je mehr Fälle von «Hass» es gibt, desto essenzieller wird ihre Rolle und desto höher werden die finanziellen Zuschüsse. (…)
Fünftens: Der Schutz der Redefreiheit wird verwässert
Nationale und internationale Gerichte werden weniger geneigt sein, den soliden Schutz der Redefreiheit aufrechtzuerhalten, und mehr geneigt, den Inhalt bestimmter Rede als des Schutzes unwürdig zu verurteilen. Ein kurzer Blick zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte veranschaulicht diesen Punkt. Für die Bürger, die in einem der 46 Mitgliedsstaaten des Europarates leben, liefert Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention einen der am deutlichsten formulierten Schutzparagrafen für die Redefreiheit:
«Artikel 10 – Freiheit der Meinungsäußerung:
Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.»
Von entscheidender Bedeutung dabei ist, dass nicht nur die nicht-kränkende Sprache durch Artikel 10 geschützt wird. Über die Jahre hat der Gerichtshof wiederholt klargestellt, dass die Meinungsfreiheit, die in Absatz 2 nur sehr eng definierten Beschränkungen unterliegt, nicht nur auf Informationen und Ideen anwendbar sei, die wohlwollend aufgenommen oder als nicht-kränkend oder als gleichgültige Angelegenheit betrachtet würden, sondern auch auf solche, die den Staat oder irgendeine Bevölkerungsschicht kränken, schockieren oder beunruhigen. Dies seien die Anforderungen an Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gebe.
Die langjährige Sichtweise des Gerichtshofes belegt dessen Haltung, dass viele «kränkende» Formen der Meinungsfreiheit durch Artikel 10 geschützt waren.
Unglücklicherweise zeigt der Gerichtshof wachsende Sympathie für Zensurargumente, vor allem in Fällen, in denen die in Frage stehende Rede ein besonders kontroverses Thema behandelt. Wenn sich dieser Trend nicht ändert, wird die Redefreiheit durch eine neue Freiheit außer Kraft gesetzt – die «Freiheit, nicht gekränkt zu werden».
Gekürzter, behutsam geänderter und um die Fussnoten bereinigter Auszug aus:
Paul Coleman, Zensiert. Wie europäische «Hassrede»-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen. Fontis Verlag, Klappenbroschur, 288 Seiten, 18,00 €.