Ich habe beim Aufräumen meiner digitalen Dachkammer einen Artikel wiedergefunden, den ich 2007, also vor 16 Jahren, für den Berliner Tagesspiegel geschrieben hatte. Es ging um deutsche Staatsangehörige, die im Irak, im Jemen und in Afghanistan von lokalen Milizen entführt wurden, um von der Bundesrepublik Lösegeld zu erpressen. Für Aufsehen sorgte u.a. der Fall einer deutschen Hausfrau, die seit 40 Jahren im Irak lebte, mit einem Iraker verheiratet war und einen irakischen Pass hatte, allerdings nach ihrer Entführung nicht die irakische, sondern die deutsche Regierung um Hilfe bat. Auch sie wurde von der Bundesregierung freigekauft.
Zum Prozedere der Kidnapping-Aktionen gehörten auch die Stellungnahmen des »tief erschütterten« Außenministers, der jedes Mal die gleiche Botschaft verkündete: Die Regierung der Bundesrepublik werde »alles in ihrer Macht Stehende« unternehmen, um die Geiseln heimzubringen, sie lasse sich aber »weder erpressen noch zu Zugeständnissen« zwingen. Das war nur bedingt richtig, denn die Entführungen dienten keinem anderen Zweck, als die deutsche Regierung zu erpressen. Um das Leben der Geiseln zu retten, musste die Bundesregierung den Entführern entgegenkommen, was wiederum bedeutete: Zugeständnisse machen.
Im Falle eines Fernmeldetechnikers aus Mecklenburg-Vorpommern, der im Auftrag einer deutschen Organisation zusammen mit einem ebenfalls aus Deutschland stammenden Kollegen Telefonleitungen in Afghanistan wartete, gab es eine Abweichung von der üblichen Routine, die der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit folgenden Worten bekannt gab:
»Wir müssen davon ausgehen, dass einer der entführten Deutschen in der Geiselhaft verstorben ist. Nichts deutet darauf hin, dass er ermordet wurde, alles weist darauf hin, dass er den Strapazen erlegen ist, die ihm seine Entführer auferlegt haben.« Ebenso bemerkenswert war auch, dass die Entführer keine Geldforderungen gestellt, sondern nur gefordert hatten, dass die Bundeswehr aus Afghanistan abgezogen wird. Damit war der Todesfall kein Mord, denn nach deutschem Recht zeichnet sich ein Mord dadurch aus, dass er »grausam« und »heimtückisch« sein und aus »niederen Beweggründen« begangen werden muss. »Geldgier« wäre ein niederer Beweggrund, ein politisches Motiv dagegen nicht. Der Mann war, formal betrachtet, eines natürlichen Todes gestorben. Wenn auch unter besonderen Umständen. Vielleicht hatte er was mit dem Herzen, war unsportlich und übergewichtig oder hat das Klima nicht vertragen – tagsüber extreme Hitze, nachts klirrende Kälte. Da kann man schon mal kollabieren und den Geist aufgeben, wenn man aus einem Land am Rande des Golfstroms kommt.
Kaum war die Pressekonferenz zur Lage in Afghanistan vorbei, eilte Außenminister Steinmeier nach Flossenbürg, wo er an einer Feier zur Eröffnung der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslegers teilnahm. Er nannte das Lager einen »Ort der Schande«. In Flossenbürg sind etwa 30 000 Häftlinge ums Leben gekommen. Und was waren die Todesursachen?
Nichts deutet darauf hin, dass die Menschen ermordet wurden, alles weist darauf hin, dass sie den Strapazen erlegen sind, die ihnen auferlegt wurden, zum Beispiel bei der Arbeit im Steinbruch oder weil sie nicht genug zu essen bekamen. Das belegen auch die Todesscheine, die in Flossenbürg ausgestellt wurden. Die beliebteste Todesursache war: Herz- und Kreislaufversagen. Einige Tote hatten auch ein Loch im Kopf oder Würgespuren am Hals, aber die waren ihnen bestimmt erst nach dem natürlichen Ableben appliziert worden. – Seit dieser Geschichte ist mir klar, dass man von Steinmeier nichts erwarten kann, aber mit allem rechnen muss. Auch dass er dem Mullah-Regime zum 40. Jahrestag der islamischen Revolution gratuliert, wie im Februar 2020 geschehen, natürlich »versehentlich«.
Bevor Steinmeier im März 2017 zum 12. Präsidenten der Bundesrepublik gewählt wurde, war er zweimal Außenminister unter Angela Merkel, von 2005 bis 2009 und von 2013 bis 2017. Davor von 1999 bis 2005 Chef des Bundeskanzleramtes unter Gerhard Schröder. 2009 trat er gegen seine ehemalige Chefin und für die SPD als Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers an – und verlor. Die regierungsfreien Jahre von 2009 bis 2013 überbrückte er als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.
Obwohl Steinmeier Jura studiert und das Studium mit einer Promotion zum Dr. jur. über »Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit« abgeschlossen hat, wurde er Berufspolitiker. Seine Karriere begann allerdings nicht in einer Obdachlosenunterkunft, sondern mit einem Referentenjob im Büro seines Parteifreundes, Mentors und Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Gerhard Schröder. Von da an ging es immer nur bergauf.
Allerdings nicht immer reibungsfrei. Als es im Bundestag um die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern in den Jahren 1915/1916 ging, war Steinmeier dagegen. Er wollte die guten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei nicht gefährden. Offiziell freilich vertrat er die Ansicht, eine Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern als Völkermord würde den Holocaust relativieren. Außerdem sei er »die Debatten leid, bei denen erwartet wird, dass ich über ein mir hingehaltenes Stöckchen springen soll«. An der Abstimmung über die Armenien-Resolution im Bundestag am 2. Juni 2016 konnte er »aus terminlichen Gründen« nicht teilnehmen. Auch Angela Merkel und Sigmar Gabriel hatten Wichtigeres zu tun.
Als es aber darum ging, zum Besuch eines »Konzerts gegen rechts« in Chemnitz am 3. September 2018 aufzurufen, hatte Bundespräsident Steinmeier keine Berührungsängste. Er bewarb das Antifa-Event auf seiner präsidialen Facebook-Seite ungeachtet der Tatsache, dass unter den teilnehmenden Bands auch eine Gruppe mitmachte, die wegen »linksextremistischer Bestrebungen« dem Verfassungsschutz aufgefallen war.
Sechs Jahre bevor Russland seine »Spezialoperation« gegen die Ukraine startete, warnte Steinmeier davor, »durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen«; der Adressat seiner Warnung war aber nicht Russland, das bereits die Krim annektiert hatte, sondern die NATO, die, so Steinmeier, »mit symbolischen Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses« allerlei »Vorwände für eine neue, alte Konfrontation frei Haus liefern« würde. So rechtfertigt Putin noch heute seine Intervention, nur dass er die »Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses« nicht als »symbolisch« bezeichnet, sondern als das Vorspiel zu einem NATO-Überfall auf das Russische Reich.
Steinmeier hat inzwischen gestanden, dass er zu optimistisch war, das Aggressionspotenzial der Russen unter- und die Idee des »Wandels durch Annäherung« überschätzt hat. Wozu er keine Stellung bezogen hat, weder kritisch noch selbstkritisch, sind zwei große internationale Projekte, an denen er maßgeblich mitgewirkt hat.
Steinmeier gilt als der Erfinder der sogenannten »Steinmeier-Formel für einen Sonderstatus der ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk«, und diese Formel war, so lesen wir es auf Wikipedia, »ein Lösungsansatz für den Konflikt in der Ostukraine, der Vorschläge des ehemaligen Bundesaußenministers und späteren Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier beinhaltet und dazu dienen sollte, die ins Stocken geratene Umsetzung des Minsk-II-Abkommens wieder in Gang zu bringen«. Vor dem »ins Stocken« geratenen Minsk-II-Abkommen gab es nämlich schon ein Minsk-I-Abkommen, das seinerseits nicht in die Gänge kam, weswegen dann Minsk II hergezaubert wurde mit Unterstützung von – richtig geraten! – Frank-Walter Steinmeier.
Es würde zu weit führen und zu lange dauern, um darzulegen, wie das alles miteinander zusammenhängt. Die Steinmeier-Formel war ein Zaubertrick, eine kreative Kombination aus dem Gordischen Knoten und Rubiks Würfel, eingepackt in eine Anweisung, wie man aus Lehm und Wasser Gold machen kann. Umso erstaunlicher, dass es mit dem Lösungsansatz für den Konflikt in der Ostukraine nicht geklappt hat. Im Gegenteil, der Konflikt ist zum Krieg eskaliert. An Frank-Walter Steinmeier kann es nicht liegen. Er hat sich wirklich alle Mühe gegeben.
Schaut man sich die Kernpunkte des Abkommens an, kommt es einem vor wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Darin heißt es u. a.: »15 Jahre lang wird Uran ausschließlich in der Anlage Natans und auf maximal 3,67 % angereichert.« Über zwei Drittel der Zentrifugen sollen »außer Betrieb genommen und unter Aufsicht« der Internationalen Atomenergie-Kommission gestellt werden. Die Vereinbarung soll »lückenlos überwacht« und »ein robuster Mechanismus implementiert« werden, »welcher der IAEO 25 Jahre lang überall Zugang gewährt, wo sie ihn benötigt«.
Das war zu schön, um wahr zu sein, und erwies sich bald als Wunschdenken. Erst kündigten die USA das Abkommen, dann legten die Iraner den Rückwärtsgang ein. »Das Atomabkommen von 2015 war ein Kompromiss, der sich jedoch bald als nicht tragfähig erwies«, so fasste die NZZ am 4. März 2023 die Lage zusammen, acht Jahre nach dem Abschluss des »Joint Comprehensive Plan of Action«. Der Iran habe seine nukleare Kapazität nicht ab-, sondern ausgebaut, das Land verfüge inzwischen »über genügend 60-prozentiges Uran, um damit notfalls eine einfache Bombe herstellen zu können«.
Das wäre der Moment für Frank-Walter Steinmeier gewesen, um sich zu Wort zu melden und zu bekennen, dass er sich nicht nur in Bezug auf Russland und die Politik des Wandels durch Handel geirrt hat. Er hat seine Rolle als Weltfriedensstifter dermaßen genossen, dass er den Mullahs den Weg zur Bombe geebnet hat. Natürlich nicht er allein und nicht absichtlich, dafür aber nachhaltig und arbeitsteilig mit seinen Kollegen. Nicht einmal das Wissen um die besondere deutsche Verantwortung für die Sicherheit Israels vermochte ihn zu erschüttern. Er war dabei, als Geschichte geschrieben wurde, und das war ihm genug.
Steinmeiers langer Weg vom Büroleiter zum Bundespräsidenten ist nicht die bürgerlich-deutsche Variante der Erzählung vom Tellerwäscher zum Millionär. Es ist eher eine Bestätigung des von Laurence J. Peter geprägten »Peter-Prinzips«: »In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen.« Steinmeier war nie ein Solitär wie Joachim Gauck, sondern immer »embedded«. Er diente der Partei, und die Partei war sein Heißluftballon, mit dem er schwebend die Schwerkraft überwand.
In diesem zwölf Sekunden langen Satz machte Steinmeier zwei Pausen, um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. Kanzlerinnenschaft … weibliche Macht … für immer … eine Selbstverständlichkeit. Nicht nur, dass Angela Merkel es immer abgelehnt hat, weibliche Macht zu verkörpern, gibt es in der Politik keine Selbstverständlichkeiten, und nichts gilt für immer, gar nichts. Aber der Bundespräsident hat es gerne blumig.
Drei Tage bevor er Angela Merkel kanonisierte, eröffnete Steinmeier die Bundesgartenschau 2023 in Mannheim und erinnerte bei dieser Gelegenheit an die biblische Schöpfungsgeschichte. »Hier wird uns buchstäblich die grundlegende menschliche Aufgabe vor Augen geführt, unsere Welt zu bewahren, zu hüten, behutsam zu gestalten … Der Mensch sollte den Garten bearbeiten und hüten. Und wenn Sie so wollen: Der Mensch wurde also vor aller Zeiten Anfang eigentlich als Gärtner geschaffen.« So muss es gewesen sein. Und als Gott den Garten Eden schuf, da hatte er schon die Bundesgartenschau im Auge.
Dass Steinmeier es bis ins Schloss Bellevue geschafft hat, hat auch etwas mit dem Fachkräftemangel in Deutschland zu tun. Die Personaldecke ist dünn, sehr dünn, im Handwerk, in der Gastronomie, im Transportwesen, im Showbusiness; es findet sich nicht einmal ein Nachfolger für Thomas Gottschalks »Wetten, dass …«. Deswegen bekommen auch Kandidaten aus der zweiten Reihe eine Chance. Vor allem in der Politik.
Auszug aus:
Henryk M. Broder / Reinhard Mohr, Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik. Europa Verlag, Klappenbroschur, 224 Seiten, 20,00 €.