„Allein im größeren Umkeis von Europa sind rund zwanzig Millionen Menschen unterwegs“, schreibt Hans Winkler, 59,9 Millionen weltweit laut UNHCR-Bericht Global Trends 2014. Winklers Zahlen datieren noch vor dem großen Anstieg der Zuwandererzahlen in Europa im Sommer 2015. An seiner Perspektive ändert das nichts und auch nicht an der Aktualität seiner Thesen. Aus Winklers Betrachtungen greife ich ein paar heraus, auf die der Blick in Deutschland kaum fällt.
Migrationsmarkt Gambia
Aus Gambia kommen die meisten Bootsflüchtlinge übers Mittelmeer, obwohl das Land zu den kleinsten Afrikas gehört. Die EU als gröter Geldgeber hat ihre Zuschüsse zum Teil eingefroren, weil Gambia die Todesstrafe nicht abschafft. Die Regierung trifft das nicht, wohl aber auch solche, die das Land verlassen. Winkler: „Das Land ist eine Enklave im Senegal und der westlichste Punkt der großen westafrikanischen Migrantenroute, die die Staaten Guinea, Mali. die Elfenbeinküste, Burkina Faso, Benin, Nigeria erfasst und über Niger an die Grenze Libyens und ans Mittelmeer führt.“
In Niger „sitzen die ‚Vermittler‘, die die Männer … auf den gefährlichsten und schwierigsten Teil der Reise durch die Sahara schicken.“ Die Schleuser „haben Kontakte bis in die entlegensten Winkel des tropischen Afrika. Von Deutschland haben die meisten jungen Leute auch schon etwas gehört. Bekannte und Freunde, die es bis dorthin geschafft haben, haben ihnen übers Handy erzählt, dass man dort ‚ein Haus bekommt'“.
„Der einzige nennenswerte Wirtschaftszweig“ in der Stadt Agadez, dem Tor zur Sahara, „ist der Umschlag von Menschen, es gibt kaum jemanden, der nicht damit zu tun hat und daran verdient“, hat Winkler recherchiert: „Das können auch Migranten selbst sein, denen das Geld ausgegangen ist oder die von daheim keines mehr nachgeschickt bekommen. Sie bringen sich dann als Chauffeure, ‚Vermittler‘ oder Dolmetscher durch, bis sie so viel verdient haben, dass sie weiterreisen können.“ Agadez, so Winkler, lebt seit Jahrhunderten vom Menschenhandel: „Waren es früher Sklaven, sind es heute Migranten. Auch Banken, Geldüberweisungsbüros wie Western Union, Ärzte, Chauffeuere, ‚Vermittler‘ und die Eigentümer der als ‚Ghettos‘ bezeichneten Höfe, in denen die Migranten untergebracht werden, während sie auf den Weitertransport warten, vedienen gut. Dreihundert solcher Hinterhöfe soll es in Agadez geben. Sie bleiben von der Polizei unbehelligt, wenn der Besitzer entsprechend zahlt.“
Das wirkliche Geschäft ist der Transport. Busunternehmen und Tankstellen der Routen zwischen Niger und Libyen gehören arabischen oder Tuareg-Familien. Das Schleppen bechreibt Winkler als „dezentrales Geschäftsmodell“: „Die Migranten, lauter junge Männer, besitzen meist nicht mehr, als sie am Leib tragen – und ein Mobiltelefon. In der Tasche tragen sie Zettel mit ein paar Adressen. Bei den Western Union-Büros an der Strecke holen sie sich die Rate für die jeweils nächste Etappe der Reise.“
EU-Migration nach Österreich
Dass der österreichische Journalist Winkler sein Büchlein in erster Linie an das eigene Land richtet, macht es für die anderen Europäer besonders interessant. So erfahren wir, dass vor zehn Jahren 60 Prozent der Zuwanderer nach Österreich nicht aus Europa kamen, nun aber „sechs von zehn aus EU-Staaten und davon fast 80 Prozent aus den ’neuen‘ Mitgliedsländern. Rumänische Staatsbürger lagen dabei 2014 an erster Stelle, gefolgt von Ungarn und Deutschen.“ 165.000 deutsche Staatsbürger waren es 2014 von 518.670 EU-Bürgern.
- Der Großteil der Zuwanderer ist im erwerbsfähigen Alter.
- „Von insgesamt über 330.000 Arbeitslosen waren im Mai (2015) über 90.000 Ausländer. Im Vergleich zu 2014 ist die Arbeitslosigkeit bei Ausländern im Mai 2015 um ein Viertel angestiegen, bei Staatsbürgern aus Rumänien beträgt der Anstieg sogar mehr als ein Drittel.“
- Bei den Sozialleistungen „kommt mittlerweile bereits etwa ein Drittel der Bezieher der Mindestsicherung (BMS) aus dem Ausland“.
Demografische Ausbeutung
Über Winklers Blick auf „Syrer – die etwas anderen Flüchtlinge“ habe ich hier schon berichtet: aus den Lagern an Syriens Grenzen schicken wohlhabende syrische Familien ihre jungen Männer und zunehmend Minderjährige als strategische Vorhut voraus. „Zur ökonomischen Realität der Migration gehört auch,“, schreibt Winkler, „dass es nicht die Ärmsten in den armen Ländern sind, die ihre Heimat verlassen und sich auf den ungewissen und fast immer gefährlichen Weg nach Europa machen. Aber es sind die Jüngsten und Stärksten. Die ganz Armen können das Geld, das eine solche Flucht/Reise kostet, gar nicht aufbringen. Oft legt eine Familie ihr Geld zusammen, um einem der Ihren die Reise zu finanzieren. Ein Afghane in Wien erzählte im Radio, dass er jetzt auch dafür arbeite, die 9.000 Euro zurückzuzahlen, die ihn die Flucht gekostet hat.“
Zum Nachdenken bringt, was Winkler von dem aus Ghana stammenden Kurienkardinal Peter Turkson als Appell an Europa berichtet: „Afrika könne die demographische Ausblutung nicht länger verkraften. Die vielen jungen Menschen dürften ihrer Heimat nicht verloren gehen … Europa müsse versuchen, dort anzusetzen, wo die Menschen ihre Wanderung beginnen.“
Winkler schaut auch auf die Rolle der Migranten als Geldverdiener ihrer zuhause bleibenden Familien: „Millionen sind von den finanziellen Rücküberweisungen … an die Familien in der Heimat abhängig … 2011 lagen die Gedüberweisungen, die Migranten an ihre Verwandten in den Entwicklungsländern schickten, nach Schätzungen der Weltbank bei mindestens 372 Milliarden US-Dollar. Hinzu kamen große Summen, die auf irregulären Wegen transferiert wurden. Das übertraf den Umfang der staatlichen Zahlungen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit um fast das Dreifache.“
Mit zehn Thesen schließt Hans Winklers Streitschrift, von denen ich nur 2, 6 und 9 zitiere:
- Weder Illusionen noch ein schlechtes Gewissen sind eine gute Grundlage für Politik
- Unter dem Druck der Realität fallen die Tabus
- Wird die EU-Außengrenze nicht gestärkt, werden die Staatsgrenzen wiederkehren
Dr. Hans Winkler, war Generalsekretär der Katholischen Aktion/Kärnten, Redakteur Kleine Zeitung/Graz, Ressortleiter Außenpolitik; Leiter der Wiener Redaktion der Kleinen Zeitung. Er ist Kolumnist bei der Tageszeitung Die Presse; Gastautor in verschiedenen Medien; Mitglied des Expertenrats für Integration beim Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres.
Hans Winkler: Herausforderung Migration, Leykam 2015