Kein Zweifel, Ideen können Revolutionen bewirken. Der Islam, erfunden von einem poetisch inspirierten Kaufmann, der Gottes Stimme zu hören glaubte, war historisch eine der wirkmächtigsten Ideen, weil sie in einem geistig-militärischen Siegeszug ohnegleichen einen Großteil der Alten Welt innerhalb kürzester Zeit unterwarf und eine radikale Umgestaltung bewirkte. Noch weitreichender waren die Folgen, die von den Ideen eines Lord Chancellors tausend Jahre danach ausgingen. Zu einer Zeit, als England noch ein Agrarstaat war, nämlich zu Beginn des 17. Jahrhunderts, entwarf Francis Bacon die wesentlichen Elemente der industriellen Gesellschaft in Gestalt einer reinen Idee, niedergelegt in seiner Schrift „Nova Atlantis“. Danach mussten allerdings noch zwei Jahrhunderte vergehen, bis die Idee sich die Wirklichkeit unterwarf – heute hat sie den ganzen Globus erobert (wie und warum Ideen solche Macht entfalten, davon handelt mein Buch „Die Macht der Träume“).
Es ist also nicht wahr, dass sich gesellschaftliche Transformationen immer oder auch nur vorwiegend in Form jener kleinen Schritte abspielen, die Karl Popper als „social engineering” von Versuch und Irrtum beschrieb. Ideen waren immer schon eine gewaltige wirklichkeitsgestaltende Macht, und sie sind es bis heute – zum Beispiel die Idee, dass es keine Unterschiede zwischen Menschen geben dürfe, weil Unterschiede zu Ausbeutung führen oder, schlimmer noch, zu Unterdrückung und Krieg. Diese Botschaft wird heute von allen führenden Medien vertreten und stößt bei der Mehrheit der Bevölkerung auf offene Ohren, denn sie erweckt Begeisterung und wirkt tonisierend. Wer würde schon allen Ernstes bestreiten, dass eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg eine viel bessere wäre?
Wenig hilfreich
Insofern war der deutschen Kanzlerin beizupflichten, als sie Sarrazins Deutschlandsbuch „wenig hilfreich“ nannte. Sarrazin hatte den Idealisten sozusagen in die Suppe gespuckt, als er zeigte, dass die Idee, so wie sie bisher in Neukölln und überhaupt in den meisten Großstädten Deutschlands verwirklicht wurde, keineswegs eine Gesellschaft der Gleichen und nicht einmal eine solche der Chancengleichheit hervorgebracht hat, sondern parallele Gesellschaften, die kaum Anzeichen der Annäherung erkennen lassen. Zusammengefasst lautete seine ernüchternde Diagnose: „Wir haben es nicht geschafft!“
Eine wirkmächtige Idee lebt davon, dass sie von möglichst vielen Menschen geglaubt wird – genau darin liegt ihre latente Kraft und die Hoffnung auf ihren Erfolg. Jeder Einspruch schwächt sie, weil er Zweifel oder gar Misstrauen erweckt. Genau deswegen verpflichtet eine Partei ihre Mitglieder auf gemeinsame Bekenntnisse zu wichtigen Fragen, genau deshalb verfolgten Religionen Abweichler als Ketzer. Sarrazins Bücher, mögen sie Migranten betreffen oder den Euro, stellen geglaubte Gemeinsamkeiten in Frage, noch dazu solche, zu denen sich die deutsche Elite bekennt: die führenden Medien ebenso wie die beiden Großparteien. Das erklärt die einhellige Empörung.
Elite gegen Volk
Von vornherein musste es allerdings nachdenklich stimmen, dass „Deutschland schafft sich ab“ ein so außerordentlicher Verkaufserfolg war, denn damit wurde gleich zweierlei bewiesen. Erstens, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung Sarrazins Blick auf die Wirklichkeit teilt, und, zweitens, dass die deutsche Macht und Medienelite die Meinung der Bevölkerung in diesem Punkt souverän missachtet.
„Missachtung“ ist in diesem Fall wohl kaum zu hart formuliert, denn das durch den Kauf der Bürger bezeugte demokratische Votum führte ja keineswegs zu der naheliegenden Einsicht, dass Politik und Meinungsbildner sich auf bedenkliche Weise von der in der Bevölkerung vorherrschenden Einstellung entfernten, sondern es wurde umgekehrt der Eindruck erweckt, dass das eigene Volk dringend der Umerziehung bedürfe, weil es sich wieder einmal als dumm, unaufgeklärt und uneinsichtig erwies. Die Angriffe auf Sarrazin stellten auch insofern ein in Nachkriegsdeutschland einmaliges Vorkommnis dar, als die Elite aus Politik und Medien ihre Attacken in einer demokratiepolitisch höchst fragwürdigen Weise gegen das eigene Volk richtete.
Euthanasie und Auschwitz?
„Nicht hilfreich“, dieser Kommentar der Kanzlerin nimmt sich freilich harmlos aus, vergleicht man ihn mit Sigmar Gabriels unsäglichen Diktum. Der Parteivorsitzende der SPD besitzt eine feine Witterung für medienwirksame Aussagen, die sich bei ihm leider mit einer zweifelhaften Haltung zu intellektueller Redlichkeit paart. Er glaubte zu wissen, dass Sarrazins Thesen „in ihrer absoluten Perversion in Deutschland letztlich zu Euthanasie und Auschwitz“ führen.
Diese Aussage ist ungeheuerlich in ihrer populistischen Unehrlichkeit, denn mit dem Buch des Berliner Exsenators hat sie absolut nichts zu schaffen. Wäre auch nur ein Gran Wahrheit in ihr enthalten, dann hätte es dem massiven Drängen Gabriels natürlich gelingen müssen, Sarrazin mit Schimpf und Schande aus der SPD auszuschließen. Doch weder das Parteischiedsgericht noch irgendwelche anderen Gerichte stießen in Sarrazins Buch auf anstößige Passagen.
Die bewusst rufschädigende Bemerkung Gabriels verdient gleichwohl besondere Beachtung, weil sie aus einem tiefer liegenden ideologischen Hintergrund quillt, der das Pathos des Protestes und dessen offenkundige Bösartigkeit überhaupt erst verständlich macht. Die Nazis gingen von der Ungleichheit der Menschen aus, darauf bauten sie Euthanasie und Auschwitz auf. Auch Sarrazin hebt Ungleichheiten hervor. Darauf begründete Gabriel seine Folgerung, dass dessen Aussagen ganz genauso in Richtung von Euthanasie und Auschwitz zielen. Offenbar kam ihm nicht in den Sinn, dass sich dann mit gleichem Recht die Behauptung aufstellen ließe, alle, die sich heute der deutschen Sprache bedienen, müssten zwangsläufig Verbrecher sein, weil sich ja auch Hitler des Deutschen bediente.
Demontage eines Trugbilds
Die übliche Nazikeule, die man in Deutschland so gerne schwingt, wenn es um gegenseitige Ächtungen oder Exkommunikationen geht, erklärt den gehässigen Anwurf aber auch nur zum Teil. Zweifellos hatte Gabriel noch etwas anderes im Sinn – auch das lauschte er hellhörig einer vorherrschenden Stimmung ab. Denn es ist ja nicht nur verständlich, sondern auch völlig richtig, dass Nachkriegsdeutschland sich selbst und der Welt beweisen möchte, dass es sich radikal vom Deutschland der Nazizeit unterscheide. Was aber vermag diesem Zweck besser zu dienen als die idealistische Behauptung, alle Ungleichheit, die auf Ausgrenzung beruht, sei in unserem Land ein für alle Mal abgeschafft? Und was musste demgegenüber größere Empörung erwecken als Sarrazins nüchterne Analyse, die eben diese Behauptung als Trugbild entlarvt? Hier wurde mit unliebsamen Zahlen und unwillkommenen Fakten ein deutsches Selbstbild viviseziert, an das man mit aller Kraft glauben wollte: das Bild einer neudeutschen Gesellschaft von Gleichheit und Harmonie.
Illusionen von Gleichheit
Mit Gleichheit und Ungleichheit hat es freilich eine besondere Bewandtnis. Ungleichheit ist in Wahrheit allgegenwärtig, und viele ihre Auswirkungen werden gewöhnlich von niemandem kritisiert. Wird zum Beispiel ein deutscher Fußballspieler aus der Nationalelf ausgeschieden, weil seine Leistungen nicht ausreichend sind; wird ein Schüler im Vergleich zu einem anderen schlechter benotet; entlässt ein Unternehmen einen Mitarbeiter wegen unzureichenden Könnens; oder wird ein Politiker wegen Unfähigkeit mit Spott aus dem Amt getrieben – in jedem Fall werden Menschen ungleich behandelt und sitzen andere über sie zu Gericht. Zweifellos führt das zu schweren Kränkungen, aber bisher wurde noch nie eine Gesellschaft erfunden, die darauf verzichten kann oder will.
Denn es handelt sich bei solcher Ungleichbehandlung ja nicht nur um ein historisches Faktum – logische Notwendigkeit liegt ihr zugrunde. Die Freiheit des Einzelnen besteht nämlich darin, dass er durch sein Handeln seinen Mitmenschen sowohl zu nützen wie auch zu schaden vermag. Das gilt im kleinen Bereich der Familie, eines Vereins oder einer Firma ganz ebenso wie im Großen und Ganzen einer Gesellschaft. Stets müssen sich Menschen auf gemeinschaftliche Regeln verpflichten, d.h. auf eine Ordnung (in Gestalt einer geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassung), die alles als schädlich beurteilte Handeln so weit wie möglich begrenzt. Im günstigsten, also im demokratischen, Fall entscheidet die Mehrheit über den gemeinsamen Wertekanon, im ungünstigsten Fall setzt eine mächtige Minderheit die Regeln für „richtiges“ Handeln fest. So oder so sitzen stets Menschen über andere zu Gericht. Eine Gleichheit, die jedem vollkommene Freiheit gibt, hat es niemals gegeben und kann es nicht geben – sieht man einmal ab von den Texten der Utopie.
Das absolute Gastrecht
Die Welle der Empörung gegen Sarrazins Buch beruhte nicht etwa darauf, dass dieser die Selbstverständlichkeit unvermeidlicher Ungleichheit zum tausendsten Mal bekräftigte; sie entzündete sich vielmehr daran, dass Sarrazin sie eben auch in jenem engeren Bereich mit Zahlen und Fakten ganz detailliert beschrieb, wo Politik und Medien sie auf keinen Fall wahrhaben wollen, nämlich im Umgang mit Fremden. Hier wurden und werden Unterscheidungen zum Tabu erklärt, mögen sie nun die Religion, die Kultur, die ethnische Herkunft oder den Bildungsstand betreffen. Einwanderer sollen grundsätzlich nur als gleiche und gleichberechtigte Menschen gelten – mit einem Anspruch auf „bedingungsloses und absolutes Gastrecht“, wie ich die damit verbundene Haltung nennen möchte.
Zweifellos ist es nobel und zeugt von Großzügigkeit, wenn man Einwanderer nicht daraufhin untersucht, ob sie einen positiven oder negativen Beitrag zum materiellen oder geistigen Wohlstand des eigenen Landes leisten. Aber kann solche Noblesse noch als realistisch gelten, wenn jeder einzelne deutsche Bürger mit der größten Selbstverständlichkeit seit Krippe und Schule bis zum Ende seiner persönlichen Karriere einer nicht abreißenden Kette von Bewertungen und Zeugnissen ausgesetzt ist, also nichts anderem als derartigen Urteilen in Bezug auf die eigene Leistung? Und kann man diese Noblesse noch als gerecht akzeptieren, wenn die eigene Bevölkerung aufgrund solcher Beurteilungen mit radikal abweichenden Chancen belohnt wird, weil die einen zu Managern, Senatoren, Bankiers usw. aufrücken, während die anderen als Fünf-Euro-Jobber oder Hartz-IV-Empfänger enden? Ist es nicht schlechthin absurd, wenn ein Maßstab, den man ohne den geringsten Anflug der Empörung an die eigene Bevölkerung anlegt, für Fremde auf keinen Fall gelten soll?
In Wirklichkeit legt man ihn ja in Deutschland (wie in den meisten westlichen Staaten) schon vor der Geburt an, nämlich mit der Präimplantations-Diagnostik und der Freigabe von Abtreibungen. Es genügt nicht, dass da Menschen als „Gäste“ ins Leben treten, sondern schon zu diesem frühestmöglichen Zeitpunkt fragt man nach ihrer Tauglichkeit (und versteht diese nicht nur als Fehlen von Erbkrankheiten). Anders gesagt, wird ihnen kein absolutes Gastrecht gewährt. Muss es da nicht als ein Fall grotesker Schizophrenie anmuten, dass gerade jener Teil der linksliberalen Presse, der jede Kritik an der Abtreibung als Ausdruck reaktionärer Gesinnung verdammt und sich – mit Recht – dagegen verwahrt, die so praktizierte Eugenik unter den Verdacht von Euthanasie und Auschwitz zu stellen, dass gerade dieser Teil sich zu den gehässigsten Anwürfen gegen Sarrazin verstieg, weil dieser den Einwanderern kein „absolutes Gastrecht“ zubilligen will?
Die Lüge der Fremdenfeindlichkeit
Thilo Sarrazin hat im Grunde nichts anderes getan, als die Frage der Tauglichkeit (für das Wohlergehen der Gesellschaft), die in einer maßvoll und verantwortlich praktizierten Eugenik in weiten Teilen der Welt ohne Bedenken gestellt wird, auf die Zuwanderung zu beziehen. Und genau das haben die Schizophrenen ihm nicht verziehen. Zwar würden sie jeden verspotten, der sie als Babyhasser apostrophiert, weil sie für Abtreibung stimmen, aber sie hatten keine Bedenken, den Autor von „Deutschland schafft sich ab“ als Fremdenhasser zu diskreditieren, obwohl sich eine grundsätzliche Ablehnung von Einwanderung aus keiner Zeile seines Buches herauslesen lässt – von Hass auf Fremde ganz zu schweigen. Der Autor besteht ja ausdrücklich darauf, dass Einwanderung einem Land unter Umständen zu großem Vorteil gereicht. Das sei grundsätzlich dann der Fall, wenn Einwanderer – wie dies generell für Ostasiaten gilt – einen höheren Bildungsdurchschnitt als die Einheimischen vorweisen können.
Die Schizophrenie linksliberaler Kritiker, die oft genug weder liberal sind noch links, hat der Historiker Götz Aly auf entlarvende Weise zum Ausdruck gebracht. „Ich lebe in diesen Kreisen und weiß, wie dort darüber gewacht wird, dass die eigenen Kinder und Enkel die ›richtigen‹, sprich: migrantenarmen, bürgerlich gehobenen Kindergärten und Schulen besuchen.“
Ja, wenn das so ist, dann ist es eben das dumme, der Umerziehung ohnehin bedürftige Volk, das sich gefälligst mit Schulen abfinden soll, in denen es vergleichsweise nichts mehr lernt!
Demokratische Verfassungen schützen Meinungen, gleichgültig ob sie hilfreich sind oder nicht
Das „Vergehen“ Sarrazins bestand in der Forderung, Einwanderer, auch Muslime, an denselben Maßstäben und Werten zu messen, wie sie seit eh und je für Einheimische gelten. Natürlich ist damit nicht gesagt, dass die Werte und Einstellungen der Zugereisten schlechter seien als die der Deutschen oder gar, dass die Menschen in ihren Heimatländern mit ihnen unglücklicher wären. Davon ist überhaupt keine Rede. Es heißt nur – nicht mehr aber auch nicht weniger -, dass sie mit solchen Werten in ihrem Gastland kaum oder weniger Chancen haben und dass sie dessen Wohlstand wahrscheinlich vermindern.
Nein, hilfreich ist ein solches Urteil gewiss nicht. Muslime können sich schwerlich darüber freuen, dass Sarrazin ihnen eine unterdurchschnittliche Eignung für die Anforderungen der deutschen Exportgesellschaft bescheinigt. Aber verhält es mit jenen vielen Deutschen denn anders, denen der Lehrer, als sie noch Schüler waren, eine fehlende Reife für das Gymnasium attestierte? Leider ist, wie schon bemerkt, bis heute keine Gesellschaft erfunden worden, die ohne dergleichen Testate (im Hinblick auf die Anpassung an ihr jeweiliges Wertesystem) auszukommen vermag.
Andererseits gibt es zahlreiche offen totalitäre oder scheindemokratische Staaten, die alles, was der Macht nicht als „hilfreich“ erscheint, systematisch ausmerzen oder verbieten. In Putins Russland wurde die Opposition längst zum Schweigen gebracht, außer „hilfreichen“ Stimmen dringen dort keine anderen mehr an die Öffentlichkeit. Demokratien hingegen stellen nur den einen Grundkonsens außer Streit, dass die demokratische Verfassung selbst – und die von ihr garantierte Freiheit der Meinung – ein unverletzliches Gut sei. Nur gegen diesen Grundsatz wird kein Einspruch geduldet, alle übrigen Meinungen sind von der Verfassung ausdrücklich zugelassen, sie mögen hilfreich sein oder nicht.
„Nie wieder!“
Geschichte wiederholt sich selten auf so primitive Art, dass man ein und denselben Fehler ein zweites Mal begeht. Rassismus und Antisemitismus sind in Deutschland kaum mehr zu finden. Insofern war dem Ruf „Nie wieder“ bis heute Erfolg beschieden. Doch leider wiederholt sich Geschichte gern auf weniger sichtbare, man könnte sagen, sie wiederholt sich eher auf hinterhältige Weise. Den Buchstaben geächteter Inhalte meidet man, aber der Geist, oder besser der Ungeist, hinter ihnen bleibt durchaus lebendig, zum Beispiel in Gestalt von Intoleranz, Tabus und kollektiv veranstaltetem Rufmord.
Der Meinungsterror, dem die Menschen unter den Nazis ausgesetzt waren, hatte die meisten unter ihnen zu willfährigen Mitläufern gemacht, ebenso bereit, sich zu guten Zielen zu bekennen wie zu solchen, die das eigene Gewissen als unverkennbar schlecht durchschaute. Jeder wusste, dass er als Außenseiter nicht nur den guten Ruf riskierte, sondern seine Laufbahn und vielleicht sogar das Leben, wenn er sich den verordneten Denk- und Sprachregelungen entzog.
Unversehens ist aus dem „Nie wieder!“ ein „Schon wieder“ geworden
So gesehen, war die bundesweite Menschenhatz gegen Thilo Sarrazin tatsächlich nichts anderes als ein „Schon wieder!“ – der traurige Rückfall in einen von oben losgetretenen Meinungsterror, der einem schlichten Imperativ gehorchte: Was immer der Mann sagt, ob richtig oder falsch, ist völlig unerheblich, da er das absolute Gastrecht für Fremde nicht anerkennt und damit gegen eine zentrale Forderung verstößt, die für jeden Deutschen zu gelten hat. Der Spiegel, die Zeit, die Süddeutsche und andere führende Medien haben sich diesem Imperativ bereitwillig unterworfen, indem sie Aussagen des Buches sinnwidrig wiedergaben oder bewusst entstellten. Und dieser elementare Verstoß gegen das Grundprinzip journalistischer Sorgfaltspflicht wurde ohne Gewissensbisse vollzogen.
Nicht Fakten zählen, sondern die „richtige Gesinnung“
Einem hohen Vertreter der evangelischen Kirche blieb es vorbehalten, sich sogar ausdrücklich zu diesem Vorgehen zu bekennen. Nachdem er einräumen musste, in Sarrazins Buch keine falschen Fakten entdeckt zu haben, sagte er: „… Fakten sagen gar nichts und alles. Es kommt am Ende allein darauf an, was man mit den Fakten sagen möchte.“ Mit diesem Satz wurde in der Tat die geistige Disposition benannt, welche allen inneren Widerstand überwand und zur größten Menschenhatz im demokratischen Nachkriegsdeutschland führte. Sarrazin war mit seinem Buch von der „richtigen Linie“ abgewichen – das genügte, um die Beschäftigung mit den Fakten und der ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeit als unnötig oder geradezu anstößig zu diskreditieren.
Wer fühlt sich angesichts eines solchen Verfahrens nicht an das Vorgehen der Nazis gegenüber den Juden erinnert? Mochten diese noch so viele von keinem Fachmann bestrittene Wahrheiten finden – in den exakten Wissenschaften zum Beispiel, wo die Unterscheidung von richtig und falsch nur selten zweifelhaft ist -, ein „anständiger Deutsche“ sollte und durfte sie trotzdem nicht glauben, denn die Tatsache, dass sie aus dem Kopf eines Juden stammten, nahm ihnen von vornherein alle Glaubwürdigkeit. Fakten besagen eben nichts, es kommt darauf an, von wem sie stammen und welche Gesinnung ihnen zugrunde liegt.
Das Abrutschen linksliberaler Medien in die Intoleranz, die Tabuisierung und den bewussten Rufmord ist in meinen Augen das eigentliche Warnsignal, das ein weiteres Totschweigen der „Affäre Sarrazin“ nicht länger zulässt, sondern ihre Aufbereitung zu einem dringenden Gebot historischer Wahrhaftigkeit macht. Liberalität wurde mit Füßen getreten, das ist das eine. Aber andererseits hat bis heute auch niemand zu begründen vermocht, warum das Eintreten für eine maßvolle Einwanderung etwas mit linker oder rechter Gesinnung zu schaffen hat.
Respekt
Außer „Deutschland schafft sich ab“ habe ich auch die drei folgenden Bücher Sarrazins mit größtem Interesse gelesen und bewundere die Sorgfalt und intellektuelle Offenheit dieses Mannes. In meinen Augen gehört er zu den ehrlichsten, gewissenhaftesten und – allein schon aus diesem Grund – auch zu den bedeutendsten sozialpolitischen Denkern der Gegenwart. Gewiss, seine Ausführungen über die Problematik des Euro kamen ebenso ungelegen wie die zur Einwanderungspolitik; sie sind aber nicht weniger gründlich durchdacht und begründet, denn eines zeichnet Sarrazin aus, und zwar vor fast allen seinen Gegnern. Abweichende Meinungen nimmt er ernst, statt sie zu verketzern. Er empört sich nicht, sondern er argumentiert. Der Gegensatz zwischen Wissenschaft und intellektueller Redlichkeit auf der einen und Meinungsmache oder Populismus auf der anderen Seite liegt genau hier.
Was sein Buch über den Euro betrifft, so sollte es eine unerlässliche Lektüre gerade für jene sein, die ein Vereintes Europa für das wichtigste Projekt der Nachkriegsgeschichte halten. Gerade sie sollten sich nämlich der Gefahren bewusst sein, welche die verfrühte Einführung einer gemeinsamen Währung unnötiger Weise beschworen hat. Nirgendwo habe ich eine gleich umfassende, tief schürfende und gerecht abwägende Darstellung gefunden wie in Sarrazins Monografie zu diesem Thema – übrigens einschließlich der Feststellung, dass ein Austritt aus dem Euro inzwischen schon ebenso große Verwüstungen anrichten würde, wie seine Beibehaltung.
Wie erbärmlich mutet es dagegen an, wenn man, statt sich mit den Thesen Sarrazins zu befassen, auf den Mann hinter den Thesen zielt – so wie etwa Richard David Precht es tut, wenn er ihn als „hölzernen Finanzfachmann“ mit einer „näselnden Stimme“ verulkt! Derartige Argumente ad personam nehmen den Büchern Sarrazins nichts von ihrer Relevanz und ihrer argumentativen Kraft, beschädigen aber alle diejenigen, die so schnell und offenbar auch gern mit den Wölfen heulen.
Mit vielem, was Sarrazin sagt, bin ich nur teilweise oder auch gar nicht einverstanden. In seinem Bestreben, nur ja nicht mit jenen Halbwissenden verwechselt zu werden, die das gegenwärtige Wirtschaftssystem in Bausch und Bogen verdammen, neigt Sarrazin dazu, es über Gebühr zu rechtfertigen und manchmal geradezu schönzureden. Den ökonomischen Status quo der Reichtumsverteilung nimmt er nach meiner Ansicht schlicht zu unkritisch hin. Ebenso wenig teile ich seine Ansicht, dass Deutschland keinerlei Verantwortung für Armut und Rückständigkeit in anderen Staaten trage. Auch hier scheint es das Bestreben Sarrazins zu sein, sich von jenen abzusetzen, die westliche Staaten pauschal für Armut und Rückständigkeit im Rest der Welt verantwortlich machen.
Solche Meinungsverschiedenheiten hindern mich nicht, einem Manne meinen Respekt zu bezeugen, der in der ganzen Art seiner Argumente bekundet, dass er immer bereit ist, auf andere zu hören, wenn es diesen gelingt, ihn von ihrem Standpunkt zu überzeugen – eine solche Haltung scheint mir die einzige zu sein, die unter Menschen einen sinnvollen Dialog ermöglicht.