Schon mit dem Untertitel „Leben mit dem neuen Corona-Virus“ provoziert das Buch. Schließlich hat die Bundeskanzlerin das Virus zum Feind erklärt. Initiativen wie „ZeroCovid“ oder „NoCovid“ suggerieren, das Virus könnte irgendwie vernichtet werden. Aber das Virus wird nicht verschwinden. Die Pandemie und ihre Folgen sei „planbar“ geworden, panische Angst überflüssig.
Fakten gegen Fake-News
Diese Sätze knallen in eine öffentliche Diskussion, in der jede Woche regierungsamtlich neue Schreckensmeldungen vermittelt werden und die übliche tausendfache Mutation auf „die Mutante“ verkürzt und verschrecklicht wird; so wird ein Stück tote Materie zum personifizierten Bösen.
Streeck setzt gegen diese schrille „Infodemie“ leise Aufklärung, die in einem sachlichen, aber vor allem freundlichen Ton daherkommt. Diese Freundlichkeit zeichnet ihn aus in einer sich überschlagenden, immer schrilleren Debatte. Kein Zufall: Streeck ist den Menschen zugewandt. Er beschreibt, wie er in Heinsberg, dem Hotspot der Pandemie, die Erkrankten und die Gesunden, die Verängstigten und die Mutigen besucht und sich so ein Bild gemacht hat. Bei Streeck geht es um Menschen, die er als Arzt heilen will, um die Nähe zu ihnen und davon geleitete Erkundigung und Forschung, die er dann in Zahlen und Algorithmen umsetzt, nicht umgekehrt. Seine Sympathie für Menschen zieht sich durch das Buch, in einer Zeit, in der nur noch abstrakte Inzidenz-Werte und andere Zahlen die Debatte dominieren und das Leben zunehmend gefährden, statt ihm zu nutzen. Auch, wer ihm nicht in allen Punkten folgen mag – diese Zugewandtheit ermöglicht erst eine Auseinandersetzung über jene Frontlinien hinweg, die von Hardlinern in ihrem Kampf gegen den unsichtbaren Feind so gnadenlos gezogen wird.
Der menschenfreundliche Arzt
Streeck greift auf das Wissen seiner umfassenden Recherchen und Untersuchungen an Ort und Stelle zurück. Die Stadt Heinsberg hat ja überlebt, weil Oberflächen ungefährlich sind, die Ansteckungsrate niedriger als offiziell behauptet ist, die Gefährlichkeit und Sterberate beherrschbar erscheint und schon im Frühjahr 15 Prozent der dortigen Bevölkerung das Virus gar nicht mehr weitergeben konnte – eine scheinbar niedrige Zahl, die aber große Folgewirkung hat. Denn immer wieder werden „Hochrechnungen“ und mathematische Modelle zur Grundlage neuer Schreckensszenarien genommen, die wie die meisten dieser Modelle nur in den Köpfen funktionieren, nicht aber in der Wirklichkeit: Menschen sind eben keine bunten Bälle in riesigen Kartons, die durcheinander geschüttelt werden und sich anstecken. Menschen haben ein weitgehend überschaubares Umfeld, in dem die Ansteckung durch diese Begrenztheit langsamer und überschaubarer verläuft. Streeck bleibt bei den Menschen, respektiert ihre Feier-Freude, freut sich über Kuchen, der den Forschern serviert wird von Menschen, die sonst von Mathematik-Modell-Ärzten nur von Ferne wie Insekten unter der Lupe betrachtet werden. Streeck sieht die Menschen und dann die Statistik, nicht umgekehrt.
Wie Politik ihre Dummheiten durchsetzt
Das ist aber wohl das Kapitel, das wirklich den Leser verstört: Wie Politik andere Meinung ausgrenzt, um ihre Dummheit durchzusetzen. Zu Beginn der Pandemie war ja Streeck einer der Stars der Virologie, neben Christian Drosten. Aber mit seiner Heinsberg-Studie lieferte Streeck nicht Panik, sondern Sachlichkeit, die Beruhigung nahelegte, statt ständig auf der Erregungskurve hochzuklettern. Das war das Ende seines Ansehens. „Die Aussage, dass das Virus nicht so tödlich sei wie befürchtet … war eine Wahrheit, die niemand hören wollte“. Er bilanziert nüchtern: „Man wollte unsere Ergebnisse nicht haben“. Sie passten nicht in eine Politik, die auf den Lockdown und die Aussetzung von Grundrechten abzielte. „Jede Information, die dazu führen könnte, die harten Lockdownmaßnahmen infrage zu stellen, war schlichtweg nicht willkommen“.
Aber es geht noch kleinlicher. Der Bayerische Rundfunk beendete den Podcast mit Streeck. Sein Vergehen aus Sicht des bayerischen Staatsfernsehens: „Angeblich gab es einen Anruf von der Bayerischen Staatskanzlei, dass man dem Wasserträger Laschets keine Bühne geben wolle.“
Das Virus wird politisch, nicht mehr Fakten bestimmen über die Maßnahmen, sondern im Rennen um die Kanzlerkandidatur wollte sich Markus Söder als harter Hund, Entscheider und Manager gegen das angebliche Weichei Laschet aus NRW positionieren. So jämmerlich kann Politik sein, so egoistisch werden Land, Leben und Leute geopfert? Streeck nennt Merkels Namen nicht. Aber seine Schlussfolgerung ist die brutalstmögliche Abrechnung mit ihrem Politik-Stil: „Es stellte sich der Eindruck ein, dass das Pandemiemanagement von politischen Interessenkonflikten überlagert wurde und eine Spaltung und Lagerbildung stattfand …. Jede kontroverse Debatte wird unterbunden.“
Diese Debatte allerdings findet statt – mit Hilfe seines Buches, das ich persönlich empfehle. Auch jenen übrigens, die Corona für eine Grippe halten. Wenn die Politik Gräben aufreißt – wir Bürger sollten sie überbrücken und uns nicht weiter spalten lassen.
Hendrik Streeck, Hotspot. Leben mit dem neuen Corona-Virus. Piper Verlag. 192 Seiten, 18,00 €