So wünscht man sich Erinnerungskultur: ohne Verschweigen, mit authentischen Zeugen, mutig und ohne Rücksicht auf politisch korrekte Geschichtsklitterung. Hardinghaus ist dies erneut gelungen. Der Titel seines neuen Werkes lautet: „Die verratene Generation. Gespräche mit den letzten Zeitzeuginnen des Zweiten Weltkriegs.“
Das Buch wird so manchen stromlinienförmigen Historiker und Tabu-Wächter erbosen. Denn bereits im Klappentext wird deutlich, worum es Hardinghaus geht: um 12 bis 16 Millionen (genau weiß man es nicht) vertriebene Deutsche, davon zwei Millionen ermordete, mindestens zwei Millionen vergewaltigte Frauen und Mädchen, und 600.000 Todesopfer alliierter Flächenbombardements. Der Großteil der zivilen Opfer war weiblich.
Vertreibungsverbrechen und Bombenkrieg gegen Deutschland gelten immer noch als vermeintliche Tabus, an die sich die wenigsten Historiker in differenzierter Weise herantrauen. Aus Scheu davor, die größte Vertreibung der Menschheitsgeschichte oder die alliierten Flächenbombardements als Kriegsverbrechen diskutieren zu müssen, werden diese Themen oft fälschlicherweise als ewig-gestrig, ja gar als revisionistisch abgetan.
Mehr – oder besser gesagt – weniger noch: Man verunglimpft etwa „Trümmerfrauen“ als Erfindung, ja gar als „Hitlers späte Helfer“. Medial und „akademisch“ wird von einem „Mythos“ und von einer „Legende“ um Trümmerfrauen schwadroniert. Die bayerischen Grünen etwa verhüllten Ende 2013 einen Gedenkstein, der in München für die Trümmerfrauen und an die Aufbaugeneration errichtet worden war. Auf dem schlichten Felsbrocken ist zu lesen:
„Den Trümmerfrauen und der Aufbaugeneration
Dank und Anerkennung
München nach 1945 – Im Wissen um die Verantwortung.“
Auf einer Abdeckplane, die unter anderem die heutige Vorsitzende der bayerischen Grünen, Katharina Schulze, über den Gedenkstein stülpte, stand: „Den Richtigen ein Denkmal. Nicht den Alt-Nazis“. Erbärmlich!
Dass der Autor Hardinghaus sich um solche Auswüchse verbohrten Denkens nicht kümmert, spricht für ihn. Er mag damit anecken, setzt aber die historischen Fakten dagegen, die andere umgehen, und liefert wahrheitsgetreue Bilder des Kriegsalltages. Ein starkes Argument ist seine Methode der „oral history“, im besten Sinn des Wortes: glaubhaft, differenziert, durchaus empathisch, aber immer sachlich und reflektiert. Er arbeitet damit einen blinden Fleck deutscher Erinnerungs(un)kultur auf.
Dreizehn Zeitzeuginnen einer „verratenen Generation“ kommen zu Wort. Hardinghaus hat sie ausfindig gemacht, unter anderem mit Hilfe von TE; er hat sie besucht, Stunden über Stunden, oft mehrere Tage lang mit ihnen gesprochen, ihre Erinnerungen aufgezeichnet, rund 50 Bilder aus Privatbesitz und aus Archiven eingefügt und alles anhand von verlässlichen Dokumenten abgeglichen. Elf der dreizehn Zeitzeuginnen leben zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches noch, zwei sind zwischen ihrer Begegnung mit Hardinghaus und dem Erscheinungsdatum verstorben.
Zum Kriegsende waren diese Frauen 17 bis 25 Jahre jung, sie gehören also den Geburtsjahrgängen 1920 bis 1928 an. Die älteste von ihnen ist zum Zeitpunkt der Gesprächsaufzeichnung 100 Jahre alt. Alle waren in hohem Maße auskunftsbereit, auch wenn sie über ihre äußerst traumatischen Erlebnisse, etwa eine Vergewaltigung, sprachen. Sie reflektierten selbstkritisch ihre anfängliche Faszination durch die bunte NS-Fassade, berichteten vom Leiden und Sterben um sie herum, von entstellten Leichen, vom Verlust nächster Angehöriger, von Bombennächten, vom Missbrauch durch alliierte Soldaten.
Das große Verdienst Hardinghaus‘ ist über die Darstellung der Einzelschicksale hinaus die zeitgeschichtliche Einbettung und die durchaus markante Bewertung. Dies geschieht in zweifacher Perspektive der Zuordnung der Einzelschicksale: zum einen zu Vertreibungsverbrechen, zum zweiten zu den Bombennächten. Hardinghaus bezieht Position gegen die Stigmatisierung dieser Frauen als „Mittäterinnen“, gegen den auch von vermeintlich renommierten Historikern immer wieder bemühten Sinn des „moral bombing“, wie er in linksradikalen Kreisen heute noch auftaucht als Aufforderung: „Bomber Harris do it again!“ Hardinghaus verwahrt sich gegen die „Nazi“-Pauschaletiketten und „Nazi“-Anspielungen, wenn etwa von „Klima-Leugnern“ oder „Corona-Leugnern“ gesprochen und solchermaßen der Begriff „Holocaust-Leugner“ assoziiert werden soll.
Im Zentrum des Buches freilich stehen die Lebensläufe der dreizehn damals jungen, heute hochbetagten Frauen. Von Gisela (*1925) etwa, die die ersten Kämpfe des Krieges in Danzig erlebte, ihren geliebten Bruder verlor, während des Reichsarbeitsdienstes als Lazarettschwester schwerstverwundete Soldaten pflegte und dann mit dem Fahrrad vor der einrückenden Sowjetarmee flüchten musste. Ursula (*1929) geriet im Kugelhagel der Kesselschlacht von Halbe zwischen die Fronten und konnte trickreich mehrfach Vergewaltigungen entgehen. Dem Volkssturmmädchen Jutta (*1929) gelang das nicht. Die Allensteinerin Inge (*1932) erlebte den Treck über das eisige Haff, Wehrmachtshelferin Lore (*1923) den Feuersturm auf Hamburg und „Trümmerfrau“ Marianne (*1931) Tiefflieger über Dresden. Immer werden die Frauen auch in ihrer heutigen Lebenssituation gezeigt so wie die hundertjährige Margarete (*1923), die heute noch in Hannover neben jenem Bunker wohnt, in den sie im Krieg als Schwangere flüchtete. Kurz nachdem ihr Kind in den Kriegswirren geboren wurde, stürzte dessen Vater als Pilot der Luftwaffe mit dem Flieger ab, ohne seinen heute 75-jährigen Sohn je gesehen zu haben.
Hardinghaus setzt mit „Die verratene Generation“ über Frauen und Mädchen am Ende des Zweiten Weltkrieges seine wichtige Aufklärungsarbeit mit Hilfe der letzten Zeitzeugen dieser dunkelsten und schwierigsten Jahre jüngerer deutscher Geschichte fort. Wenige Monate zuvor war ihm ein erstes aufsehenerregendes Buch gelungen – damals über die letzten noch lebenden Wehrmachtssoldaten: „Die verdammte Generation – Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkrieges“
Wir wünschen auch diesem Buch eine große Leserschaft. Und zwar nicht nur unter betagten Leuten, sondern besonders auch unter jenen jugendlichen Lesern, die sich für die Geschichte ihrer Großmütter (und – väter) interessieren ohne deren historische Verantwortung zu relativieren und die ahnen, was es diese Generation gekostet haben muss, ihre erschütternden Schicksale anzunehmen, zu meistern und zu einer freien, friedlichen Zukunft beizutragen, von der sie heute profitieren.
Christian Hardinghaus, Die verratene Generation. Der zweite Weltkrieg aus der Sicht der letzten Zeitzeuginnen. Europa Verlag, 336 Seiten, mit zahlreichen Fotos, 20,00 €.
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