Inflation ist der Elefant, der im Raum steht: Jeder sieht ihn, kaum jemand in Politik und in den Medien spricht darüber. Die Bundesregierung hofft, dass die Preissteigerung von 5 Prozent im vergangenen Jahr abflacht – mit der Corona-Pandemie, wenn globale Lieferketten wieder funktionieren und der globale Warenaustausch vorübergehende Engpässe beendet. Inflation ist aus dieser Sicht nur ein „Buckel“, und das abschüssige Ende schon in Sicht.
Hans-Werner Sinn ist da ganz anderer Meinung. Der große Wert seines Buches besteht darin, dass er die Voraussetzungen und den Ablauf der derzeitigen Inflationsprozesse präzise analysiert. Nicht mehr der Blick auf die tatsächlich mal höhere, und mal noch höhere Rate der Preisentwicklung von Konsumgütern steht im Mittelpunkt. Es sind die dahinter liegenden Kräfte, die Sinn anschaulich beschreibt.
Die Finanzierung des Euroraums aus der Druckerpresse hat in der Finanz- und Coronakrise ungeheure Ausmaße angenommen und soll weiter fortgesetzt werden. Damit ist gewissermaßen der Brennstoff vorhanden, den die Inflation braucht: Eine zu hohe Geldmenge, gemessen an der wirtschaftlichen Aktivität, die durch Geld erst ermöglicht wird. Durch diese verfünf- oder sogar verachtfachung der Geldmenge wird es für Deutschland und seine Nachbarn immer schwieriger, überhaupt noch einen Weg zwischen der Überschuldung der öffentlichen Haushalte, der Zombifizierung ganzer Wirtschaftszweige durch Subventionierung unwirtschaftlicher Unternehmen und einer Inflation zu finden, die sowohl Wirtschaftswachstum wie privaten Wohlstand gefährdet.
Bereits in seinem ersten Interview im Tichys Ausblick Talk Anfang Dezember warnte Sinn, unbestritten einer der großen Wirtschaftsexperten Deutschland, vor einer Erhöhung der Zinsen in den USA als zusätzlichem Inflationstreiber: „Als Reaktion darauf erwerben die Anleger Dollaranlagen und werten so den Euro ab. Die Konsequenz ist eine importierte Inflation.“ Genau dieser Prozess beginnt jetzt wie von Sinn vorausgesagt: In den USA wird schrittweise eine Anti-Inflationspolititik begonnen.
Nun appelliert der ehemalige Wirtschaftsweise an die Deutsche Bundesregierung, gegenüber der EZB zu intervenieren: „Das Feuer der Inflation muss man sofort austreten“, sagte er in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen. Doch er bleibt skeptisch, ob seine Appelle durchdringen, angesichts der Pläne der Regierungskoaltion den Mindestlohn erhöhen zu wollen, was zu höheren Löhnen insgesamt und Weitergabe der so steigenden Kosten für die Unternehmen an die Verbraucher führen, also eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen wird. Er fürchtet, dass dieser „Buckel“ den Corona-Buckel ergänzt.
Im Wesentlichen ist es aber die von der Regierung mit Hochdruck vorangetriebene Energiewende der Hauptkostentreiber und Inflationsbeschleuniger – sowohl für private Haushalte wie für die Industrie. Auch in diesem Punkt kann Sinn für sich verbuchen, mit seiner Analyse richtig zu liegen. Die Klimapolitik der Ampel-Koalition besteht ja im Wesentlichen darin, Energie zu verteuern. Damit sollen Verbrauch und Konsum gesenkt werden – eine Art grüne Wunderwaffe gegen den von Erhard verwirklichten Wohlstand für alle. Denn teure Energie senkt das Wohlfahrtsniveau der Bevölkerung dramatisch, die einen immer höheren Anteil ihres Einkommens für Heizen, Mobilität und via Greenflation, der energiebedingten und gewollten Inflation, aufwenden muss.
Inflation wird damit zu einem der Hauptthemen im Jahr 2022. Stabilität von Währung, Wirtschaft und Wohlstand erfordert entschiedenes Handeln von Wirtschaftspolitik und EZB. Stabilität ist allerdings nicht ohne Kosten zu haben – steigende Zinsen erzwingen Sparprogramme in den staatlichen Haushalten und treiben manche Unternehmen an das Ende. Hat die Politik die Kraft zu einer entschiedenen und nachhaltigen Politik? Sinn zweifelt daran.
Am Ende seines Buches gesteht er ein, sich als Ökonom selten so hilflos angesichts der Inflationsgefahr gefühlt zu haben und ergänzte in unserem Interview: „Ich bin pessimistisch, weil ich bei der Europäischen Zentralbank nicht den Willen sehe, entschlossen gegen die Gefahren einer Inflation vorzugehen. Die Inflation wird kleingeredet; die sich selbst verstärkenden Effekte werden nicht gesehen. Auch die Wirtschaftspolitik hat offensichtlich ihr Inflationsgedächtnis verloren und hantiert leichtfertig mit einer Politik der versteckten Staatsverschuldung über Fonds, die genauso inflationstreibend ist wie eine offene Verschuldung. Ich sehe es als meine Aufgabe an, davor zu warnen.“
Gerade deshalb ist „Die wundersame Geldvermehrung“ ein Augenöffner und ein unbedingt lesenwertes Buch. Und nicht zufällig auf Platz 1 der Wirtschaftsbestseller-Liste im Februar 2022.
Hans-Werner Sinn, Die wundersame Geldvermehrung. Staatsverschuldung. Negativzinsen. Inflation. Herder Verlag, 432 Seiten, 28,00 €