„Mehr Konterrevolution als Revolution“ nennt Wolfgang Prabel das, was der Geschichte-Unterricht uns in schwarz-rot-goldenen Farben als demokratisches Freiheitsbild von 1848 vermittelt. Ja, einige Revolutionäre der ersten Stunde verlangten einen Nationalstaat ohne Binnenzölle und Demokratie, wenige auch das Ende des Feudalismus und die Republik. Auf die liberalen Forderungen meldeten sich ihre erbittertsten Gegner, die privilegierten Mittelschichten: „Kaum hatte die Revolution begonnen, verwüsteten an einigen Orten schon wieder Handwerker und Krämer den Juden die Häuser.“ Ihnen gab der Mob die Schuld an allem Neuen. Die schärfsten Gegner der Abschaffung der Sklaverei sind immer die privilegierten Sklaven. Der klassische Feind von Freiheit ist Sicherheit. Und niemandem laufen sie lieber nach als primitiven Botschaften: Irrlehren im Gewande der Unfehlbarkeit.
Prabel notiert nüchtern: „Während sich das zahlenmäßig schwache liberale Bürgertum um die Einreißung der Marktbeschränkungen und Förderung des Verkehrs bemühte, wollten die zahlreichen Handwerker, Studenten, Fuhrleute, Krämer und Gastwirte genau das Gegenteil und taten alles für die Wiederaufrichtung traditioneller Wirtschaftsformen und gegen den Bau von Eisenbahnen. Tatsächlich tagten gleichzeitig mit der Frankfurter Nationalversammlung unsägliche Handwerkerparlamente in Frankfurt und Berlin, welche unverblümt die Aufhebung der Gewerbefreiheit forderten.“ Vom Widerstand gegen die Aufhebung der berufsständischen Zuteilung von Marktanteilen und ihrer Absicherung durch Zölle zwischen unzähligen deutschen Kleinstaaten führt eine direkte geistige Linie zu den Globalisierungsgegnern von heute.
Jugendstil: Ausdrucksform einer Protestbewegung
Nach der Reichsgründung 1871 setzte Bismarck die neuen Kräfte in Industrie teilweise frei, aber in der politischen und wirtschaftlichen Verfassung Deutschlands herrschte Stillstand. Als Wilhelm II. nach Bismarck die Deutschen „herrlichen Zeiten entgegen“ führen wollte – auf den Weltmeeren und in den Kolonien -, formierten sich die Lebensreformer „und stellten nicht nur das Kaiserreich, sondern die ganze bisherige Entwicklung Europas in Frage. Wieder wie in der Renaissance ein Globalisierungsszenario, wieder ein plötzlicher Wohlstand.“ Den Jugendstil findet Prabel in dieser zweiten Renaissance dem Stil der ersten Renaissance sehr ähnlich:
„… sehr typisch im floralen Dekor und vor allem im Menschenbild. Pflanzen rankten sich die Fassaden empor, Blätter und Lianen wucherten an Vasen, Gläsern und Kaffeetassen. Vor den Gebäuden reckten sich nackte Kolosse, Giganten und Sportler … Ein übersteigertes Ich in einer übersteigerten Welt der zunächst noch unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten … Gegen die gerade Linie, das Dreieck, die Kolonne rebellierte die geschwungene Linie als Natursymbol. So wie die Grünen die Naturnähe des Menschen und der Gesellschaft zelebrieren, so taten das um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert die Eliten der Lebensreform …“
Diese Protestbewegung nahm „durch ihre Angriffe auf die Technik und Industrialisierung die Kinder der in den wirtschaftlichen Strudel der Industrialisierung geratenen alten Schichten der Handwerkerschaft, der Krämerei, der Fuhrleute und Landwirte mit. Wie es sich mit Protesten oft verhält: Die Protestanten standen fest auf dem Boden des tradierten vorindustriellen Systems und rebellierten gegen den Vorwärtsgang.“ Deutschlands Zukunft lag für den Kaiser auf dem Wasser, Prabel spottet: „Betagte Admirale bauten an einer kaiserlichen Marine mit ständig wachsender Feuerkraft, während die Jugend die Strandbäder entdeckte. In den ganzen eineinhalb Jahrzehnten von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Weltkriegs kam kein einziger demokratischer Impuls von der Lebensreform und vom Jugendstil …“.
„Kunst der Weltanschauung“ – ein gefährliches Bild
Peter Behrens entwarf 1900 ein fiktives Festspielhaus „am Saum eines Haines, auf dem Rücken eines Berges … geweiht und vorbereitet auf die große Kunst der Weltanschauung“. Nach 1933 gehörte er zu den Mitbegründern „des führertreuen Verbandes für Deutsche Wertarbeit, der sich als Nachfolgeorganisation des Werkbunds verstand. 1936 erhielt er durch die Fürsprache Albert Speers den Auftrag für den Entwurf der AEG-Hauptverwaltung in Berlin …“. Prabel verweist auf das Heft von Achim Preiss „Abschied von der Kunst des 20. Jahrhunderts“: „Als das geeignete Instrument zur Fortschrittsbeherrschung oder – Unterwerfung erschienen Religionssysteme. Es gründeten sich zu diesem Zweck meist jugendoptimistische Vereinigungen, Bünde, Sekten, die alle an dem Entwurf einer neuen, nicht-chaotischen Lebenskultur arbeiteten und die ein gemeinsames Feindbild hatten – den nur von Kommerz und Hochtechnologie angetriebenen Fortschritt. Die praktizierten Formen der neuen Lebenskultur zielten darauf, das Gefühl in die Lage zu bringen, den Verstand zu kontrollieren, die Vorherrschaft des Verstandes zu brechen, um damit die Vormacht der Technik zu beenden.“
Zu diesem Zweck, so Preiss, suchte man „nach Kontinuität, nach überhistorischen ewig gültigen, immer gleichbleibenden Ausdrucksformen, Motiven, Proportionsgesetzen und Farbklängen, die sich für eine Neuformulierung der Kunst verwenden ließen, für eine neue Sprache der Kunst, die sich hauptsächlich über sentimentale Wirkungen verständlich machen wollte. Es entstanden … eine ganze Reihe kunsthistorischer und historischer Interpretationssysteme, die psychologistische, rassistische, biologistische und anthropozentrische Ansätze verfolgten.“
Prabel nennt Helena Blavatsky, die viele Geister ihrer Zeit beeinflusste. Vom Okkultismus kam sie zur Seelenreform, begründete die Theosophie, aus der Anthroposophie und Ariosophie entstanden, die sich mit der Naturschutzbewegung, Erziehungskonzepten und Siedlungsexperimenten verbanden. Anthroposophie und Ariosophie hatten nur wenig Distanz zu rassistischen und antisemitischen Konzepten, die teilweise aus ihnen herausdestilliert worden waren – wie die Wurzelrassenlehre, die auch die Anthroposophen übernahmen. Zu diesem Zweig der Lebensreform zählt Prabel „Polarier, Hyperboreer, Lemurier, Atlantier und Arier, die sich in indische, persische, ägyptisch-chaldäische, römisch-griechische angelsächsische-germanische unterteilten und denen der Jude als Verkörperung des Tierischen gegenüberstand.“
Reformpädagogik und Siedlungsbewegung
Auslöser der Reformpädagogik war 1899 das Buch „Jahrhundert des Kindes“ von Ellen Key, 1905 war es 26.000-mal verkauft worden. Prabel: „Die Schule sollte Gesamtschule sein, das Prinzip der Ganzheitlichkeit des Lernens mit Herz, Gefühl, Kopf und Hand verkörpern. Bereits 1899 wollte Key auf Zensuren und Belohnungen verzichten und den obligatorischen Stoff gegenüber den Wahlfächern einschränken. Mythisierung und Romantisierung des Kindes, das Dogma des ‚Wachsenlassens‘ nahmen breiten Raum ein …“. Heute diskutieren wir offensichtlich immer noch die gleichen Fragen. Dass Ellen Key Anhängerin der Euthanasie und der Rassenhygiene war, zeigt, wie weit damals die Lebensreform entfernt war von einer klaren politischen Zuordnung zu links und rechts, zu fortschrittlich und rückschrittlich. Der Reformpädagoge Hermann Lietz, Gründer der ersten deutschen Landeserziehungsheime, war Antisemit: „Im Heim Haubinda kam es vor dem Weltkrieg zum ‚Haubindaer Judenkrach‘, als die Juden aus dem Heim ausgeschlossen wurden.“ In seiner Schrift „Des Vaterlandes Not und Hoffnung“ von 1919 forderte er ein Einwanderungsverbot für Juden und deren Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft.
Eine Fülle von Büchern überschwemmte die Lebensreform-Landschaft geradezu. Prabel zählt nur ein paar des vergessenen Popularisierers Norbert Grabowsky als „Kompilator und Kompendienschreiber“ auf: „Durch Entsagung und Vergeistigung zum jenseitigen Leben, ein Führer für nach Vervollkommnung Strebende“ (1903), „Die verkehrte Geschlechtsempfindung“ (1904), „Die höchsten Ziele des Menschen“ (1905), „Der Naturgenuß und sein Wesen“ (1905), „Das Recht der geistigen Bahnbrecher“ (1906), „Der Innenmensch: ein Schauspiel philosophischen Erkenntnisgehalts in zwei Aufzügen“ (1909), „Privatbibliotheken volksthümlicher Werke philosophischer Erkenntnis und die außerordentliche Bedeutung solcher Bibliotheken für den Geistesfortschritt der Menschen“ (1911), „Die Anschauungen übersinnlicher Wirklichkeit (1911), „Wahre Bildung: ein Handbuch innerer Höherentwicklung“ (1911), „Die Geheimnisse des Übersinnlichen“ (1922).“
Wilhelm Schwaners Zeitschrift „Volkserzieher“ weichte „die Grenzen zwischen völkischen und sonstigen jugendbündlerischen Auffassungen, die ohnehin nie fest gewesen waren, ständig neu auf“. Von 1909 bis 1939 erschienen 354 Einzelhefte der „Tat“, die mit der Zeit zum Organ des aggressiven Elitarismus und der panslawistischen Propaganda wurde – am Ende der NS-Ideologie. Zusammen mit anderen Monatsschriften wirkten die beiden nach Prabels Analyse „wie ein reformatorisches Tischleindeckdich beim Ausbrüten immer neuer Konzeptionen.“
Zur „Siedlungsbewegung“ trug die SPD sozialistische Positionen zu Landwirtschaft und Bodenreform bei, Reinhold Hülsen schrieb „Heim-Land: Zum Eigenheim mit Garten, zu schuldfreiem Erbgut mit zinsfreiem Gelde“, Franz Oppenheimer „Die Siedlungsgenossenschaft: Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage“ und Rudolf Richter ökologisch „Der neue Obstbau, einfaches, streng naturgemäßes Verfahren“. Heinrich Driesmann intonierte den Zusammenhang zwischen „Menschenreform und Bodenreform“, Grabowsky verband die Siedlungsfrage mit Geschlechtsempfindungen, seelischen Innenleben, dem Naturgenuß und der Kunst glücklich zu werden.
Atheismus, Idealismus, Nacktkultur, Rassismus, Vegetarismus und andere Reformimpulse verbanden sich schnell zu einem reformistisch-elitaristischen Brei: Mit dem traditionell kirchengebundenen Christentum nämlich wurde auch dessen transzendente Gottesvorstellung verabschiedet, damit aber auch jeder Glaube an eine Erlösung jenseits der individuellen und volklichen Existenz. Otger Gräff, der während des Krieges bereits zur Gründung völkisch-religiöser Gemeinden und Siedlungsprojekte aufgerufen hatte, formulierte: „So ist deutscher Glaube ein lebendiger Diesseitsglaube, ‚deutscher Idealismus‘, der die schöne reiche Erde, insonderheit die liebe Heimat nicht als ein Jammertal ansieht und auf ein angeblich besseres Jenseits hofft, über das wir nichts wissen können, der vielmehr vor allem hier auf Erden das Gottesreich aufrichten will, das Höhere Reich der Deutschen.“
Prabel: „Diesseitig-religiös orientiert war vor allem aber das Selbstverständnis und die Praxis der meisten bürgerlichen Reformbewegungen (Nacktkultur, Kleiderreform, Antialkoholbewegung, Vegetarismus, Naturheilverfahren, Landkommunen etc.), an deren Erlösungsversprechen man durch die Befolgung der richtigen Kleider- oder Essensordnung partizipieren konnte. Die Vergottung des gesunden Leibes, greifbar im quasi-religiösen Schrifttum der Nackt- und Körperkultur und wiederum angeregt durch Nietzsches Denken, ist ein weiteres Indiz für die Enttranszendierung zeitgenössischer Erlösungshoffnungen. Damals ebenso zeitgemäß wie heute waren völkische Spielarten der Gymnastik- und Tanzbewegung wie etwa Friedrich Bernhard Marbys (1882-1966) ‚Runengymnastik‘ oder ‚Runen-Yoga‘, durch deren Übungen man im Kontakt mit dem Kosmischen auf den ‚Germanischen Einweihungsweg‘ geriet, der geradewegs zur vermeintlichen Selbsterlösung führte.“
Ein ideologischer Rangierbahnhof
Am Ende der Friedensperiode bis 1914, so Prabel, „hatte sich die Lebensreform in ernährungs- und gesundheitsbezogene, siedlungs- und wohnreformerische, körperbezogene, sexualreformerische, jugendbündische, frauenrechtliche, sozialreformatorische, erzieherische, rassistische und antisemitische, völkische, okkulte, religionskritische, philosophische und formgestalterisch-ästhetische Kolumnen zerteilt, aber der größte Teil dieser Themenangebote war wieder durch Unterthemen zerfasert und atomisiert, bzw. durch teils skurrile Lehrangebote miteinander verwoben worden. Worüber man sich bei allem Streit, bei aller Abgrenzung und bei aller Konvergenz der Theorien einig war: „Alles muss anders werden“ und: Man suchte den Neuen Menschen. Fidus hat um 1900 zahlreiche neuheidnische Ritualdarstellungen angefertigt; selten fehlt ein Hakenkreuz oder die Todesrune am Bildrand.“
Prabels Zwischenbilanz: „Die Genese der Lebensreform gleicht nicht einem Baum, wo aus einem Ideenstamm durch Verzweigung immer ausgefeiltere und differenziertere Ideen herauswuchsen; dieses Bild gilt für Teilaspekte und deckt die ideengeschichtliche Entwicklung nicht ab, da neben dem nietzscheanischen Hauptbaum noch andere Bäume wuchsen, wie der des Okkultismus und der des Darwinismus. Ein verwilderter Garten mit mehreren Bäumen, die ungenießbare Früchte trugen, kommt der Realität jener bunten Vielfalt schon näher, auch wenn man annimmt, dass Sprosse von verschiedenen Bäumen auf andere aufgepfropft wurden. Am Schluss der Reformgeschichte ist ein Flussgleichnis angemessener, wo viele Reformbäche in Flüsse und die großen Flüsse in den braunen Strom oder den roten Fluss mündeten. Ab 1900 ergossen sich beispielsweise Nebenarme des Marxismus und des Nietzscheanismus in den Strom des Leninismus, der Leninismus verband sich ein Jahrzehnt später mit dem traditionellen orthodoxen Etatismus zum Stalinismus. Der völkisch-ökologische, der vitalistisch-biologistische, der zünftig-korporative und der rassistisch-teutonische Waggon wurden in einem ideologischen Rangierbahnhof zum NS-Zug zusammengestellt, dessen Lokomotive mit Juden gefeuert wurde und dessen Räder auf den Schienen des Jugend- und Schönheitskults sowie des Biologismus rollten. Es bedurfte eklektizistischer Konstrukte, um zu heterodoxen Systemen zu kommen. Gerade durch den Antiempirismus, den Kult des Willens und des Gefühls wurden diese Auswüchse des Zeitgeistes erst ermöglicht.“
Ich schlage vor, Sie versuchen diese ungewohnte Kost zu verdauen, bevor ich im dritten und letzten Teil herauszufinden suche, wovor uns die Kulturgeschichte von 1890 bis 1945 heute aktuell warnen sollte. Vor einem ganz sicher. Geschlossenen, allein seligmachenden Weltsichten und Rezepten sollten wir die Annahme verweigern.
Ein weiter Beitrag folgt. Teil 1 lesen Sie hier.
Wolfgang Prabel: Der Bausatz des Dritten Reiches: Die deutsche Kulturrevolution 1890 bis 1933 [Kindle Edition], 686 Seiten. edition:freiheit, Deutscher Arbeitgeberverband.
Autor Dr. Wolfgang Prabel ist Bürgermeister von Mechelroda in Thüringen und betreibt ein Geschäft für Antiquitäten und Geschenke. Prabel ist Ingenieur und gehörte 1989 zu den aktiven Mitbegründern des Demokratischen Aufbruchs. Mit Freunden zusammen organisierte er erfolgreich den Generalstreik zur Auflösung der Stasi. Prabel publiziert auf einem eigenen Blog und bei anderen. Sein Interesse gilt den Widersprüchen zwischen Dichtung und Wahrheit.